16. Juni 2020
Wie wäre es damit: Du arbeitest sechs Jahre, danach hast Du ein Jahr frei, um zu machen, was immer Du willst – und Du wirst dabei sogar bezahlt.
Was würden die Menschen mit ihrer freien Zeit anstellen?
Unsere Welt ist voller Wunder. Im Myrtenhof der Alhambra spiegelt sich das Mondlicht nachts im Goldfischteich und erleuchtet die mit feinen Schnitzereien verzierten Torbögen. Mit Wissen, Material und Zeit kann ein einzelner Mensch eine neue Orchideenart züchten, oder eine Spieluhr bauen, auf der eine Ballerina tanzt.
Die meisten Menschen verbringen nicht viel Zeit mit diesen Wundern. Stattdessen arbeiten sie. Wenn sie mit der Lohnarbeit fertig sind, steht mühselige Haushaltsarbeit an. Und falls danach noch Zeit ist, fallen sie erschöpft auf die Couch und haben für nichts anderes mehr Energie übrig als Serien zu schauen.
Das ist grotesk. Unser Leben ist kurz und flüchtig, wir sollten es genießen. Es sollten mehr Leute den Myrtenhof besuchen, oder zumindest dazu kommen, doch noch Banjo spielen zu lernen oder in Archiven nach ihren Vorfahrinnen und Vorfahren zu stöbern.
Genau das ist das Ziel des Sozialismus: den Menschen maximale Freiheiten zu ermöglichen. Der Kapitalismus steht diesem Ziel im Weg. Im Kapitalismus wird im Sinne der Profitmaximierung für eine Handvoll Firmenbesitzerinnen und -besitzer darüber entschieden, was und wie lange die Menschen arbeiten, und wie viel sie dafür bekommen.
Der Sozialismus will das ändern. Die Menschen sollen zusammen selbst entscheiden, in was für einer Gesellschaft sie leben wollen, und die dafür nötige Arbeit entsprechend verteilen. Jegliche Arbeit hätte einen gerechtfertigten Nutzen für die Gesellschaft. Es gäbe weniger Arbeit und sie würde fair kompensiert werden. Grundbedürfnisse wie Wohnen, Krankenversorgung und Bildung wären garantiert und nicht vom Arbeitsplatz abhängig. Die Menschen hätten mehr Freizeit – und mehr Energie, ihre Freizeit zu genießen. Sie könnten über die grundsätzliche Frage nachdenken, was sie eigentlich mit ihrem Leben anstellen wollen.
Wir werden den Kapitalismus nicht über Nacht abschaffen. Aber wir können seinen Niedergang beschleunigen, indem wir für Reformen kämpfen, die die sozialistischen Ideen und Werte verbreiten. Solche Reformen könnten die Menschen davon überzeugen, dass ihr Leben besser ist, wenn die Gesellschaft nicht den Regeln des Kapitalismus gehorcht. Zudem könnten sie die Befreiung der Menschen von materiellen Zwängen erreichen, sodass diese den Kapitalismus besser bekämpfen und am Ende vollständig beseitigen können.
1996 haben Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter, Sozialistinnen und Sozialisten in den USA eine Arbeiterinnenpartei gegründet. Die politischen Umstände waren schlecht und das Experiment bekam kaum Aufmerksamkeit. In ihrem Programm formulierte die Partei jedoch einige sinnvolle Forderungen, die den Wert von Freizeit und das Recht der arbeitenden Bevölkerung, ihr Leben selbst zu bestimmen, in den Vordergrund stellten. Unter dem Stichwort »Mehr Zeit für Familie und Gemeinschaft« wurden Forderungen aufgelistet, die sicherstellen sollten, dass die wertvolle Zeit der arbeitenden Bevölkerung nicht von Arbeit verschlungen wird. So forderte die Partei zum Beispiel die 4-Tage-Woche, doppelten Lohn für Überstunden und ein bezahltes Sabbatjahr nach allen sechs Arbeitsjahren.
Die letzte Forderung ist die spannendste. Stell' dir einmal vor, du bekommst ein Jahr lang Gehalt, kannst machen, was du willst, und danach wartet dein Arbeitsplatz auf dich. Was würden die Menschen wohl mit ihrer freien Zeit anstellen?
Manche würden wahrscheinlich erst einmal rumhängen, Chips essen und Playstation zocken — und das ist auch vollkommen in Ordnung, denn Spiele spielen ist eine angenehme Beschäftigung und die Leute haben ein Recht auf Muße. Die meisten würden wohl nicht die ganze Zeit nur zocken. Im Kapitalismus dienen Playstation-Sessions mit Chips ja vor allem dazu, einen Augenblick durchzuatmen und den ständigen Druck zu vergessen, der von der Arbeit und der Organisierung des alltäglichen Leben ausgeht. Sie helfen, kurz auszublenden, dass die Studienkredite noch abbezahlt werden müssen, oder sich von der Suche nach einer Ärztin, die Termine für Kassenpatienten frei hat, zu erholen.
Manche würden wahrscheinlich ihr Sabbatjahr mit Chips und Playstation starten, sich dann aber bald langweilen. Was machen sie wohl als nächstes? Vielleicht war ihre Lieblingsstelle bei Assassin’s Creed: Brotherhood die Mission, bei der sie über den Dächern der Alhambra kämpften. Vielleicht verlassen sie das erste Mal ihre Heimat, besuchen den Myrtenhof und beobachten, wie sich der Goldfischteich im Mondlicht kräuselt.
In ihren Entscheidungen darüber, was sie mit ihrem Sabbatjahr anstellen wollen, sind den Menschen kaum Grenzen gesetzt – und genau das ist der Punkt. Jeder Mensch hat Potenzial, doch nur die wenigsten haben die Chance, ihre Talente wirklich zu erkunden und zu entwickeln.
»Das Sabbatjahr wäre für Muße, Vergnügen und Neugier. Für Reisen, Töpferkurse und das Zeichnen von Graphic Novels über isländische Sagas, um die niemand gebeten hat.«
Vielleicht nutzt ja eine Person die Zeit, um Kajakfahren zu lernen, und hat so die Möglichkeit, auch nach dem Sabbatjahr an Wochenenden auf Seen zu paddeln und ihre Lebensqualität langfristig zu steigern. Andere könnten endlich die Bücher lesen, auf die sie immer neugierig waren. Vielleicht merken sie beim Lesen über frühkindliche Entwicklung, dass sie eigentlich lieber in einem Kindergarten als im Büro arbeiten wollen, schulen um und finden in der neuen Aufgabe Erfüllung.
Eine andere Person, die nie zur Uni gegangen ist, geschweige denn ein Auslandssemester genießen konnte, verbringt vielleicht das ganze Jahr in Nagasaki und lernt Japanisch. Einmal dort, lernt sie über die Folgen der Atombombe und wird sich der Gefahren nuklearer Aufrüstung bewusst. Nach der Rückkehr ins alte Leben ist alles wie immer – nur, dass sie jetzt Anime-Serien auch ohne Untertitel verstehen kann, und keine Politikerinnen und Politiker mehr wählt, die Atomwaffen gutheißen. Vielleicht engagiert sie sich für Abrüstung.
Eine Gesellschaft, die ein bezahltes Sabbatjahr durchsetzen will, braucht eine deutlich stärkere sozialistische oder zumindest sozialdemokratische Bewegung als die, die wir heute haben. Zu dem Zeitpunkt, an dem wir das Sabbatjahr verwirklichen, haben wir idealerweise schon eine Arbeitsplatzgarantie eingeführt, die es jeder Person erlaubt, die arbeiten kann und will, einer Beschäftigung nachzugehen. Das Sabbatjahr wäre nicht nur denen vorbehalten, die glücklich genug waren, in der Zwischenzeit nicht arbeitslos zu werden. Alle Arbeitenden könnten daran teilhaben.
Das Sabbatjahr wäre für Muße, Vergnügen und Neugier. Für Reisen, Töpferkurse und das Zeichnen von Graphic Novels über isländische Sagas, um die niemand gebeten hat. Sechs Jahre lang halten wir die Welt mit unserer Arbeit am Laufen – das siebte Jahr sollte den Menschen gehören, um diese Welt selbst zu erkunden und zu genießen.
Kapitalistinnen und Kapitalisten werden das Sabbatjahr ablehnen, aber sie lehnten schon das Wochenende ab. Das Wochenende gibt es nur, weil Arbeiterinnen und Arbeiter es erkämpft haben. Mit Streiks und politischem Druck haben sie klargemacht, dass ihre Lebenszeit ihnen gehört, und nicht denen, die sie für ihren Profit ausbeuten.
Die Forderung nach einem Sabbatjahr müssen wir auf demselben Weg durchsetzen. Durch den gemeinsamen Kampf würden viele arbeitende Menschen begreifen, dass etwas grundfalsch daran ist, wie wir Arbeit organisieren und welchen Dingen wir Wert beimessen. Sie würden verstehen, dass der Kapitalismus die menschliche Entfaltung verhindert. Und einige von ihnen würden sich einem anderen Modell zuwenden, dem Sozialismus.
Hinweis: In Deutschland ist der Sabbatical bereits im Öffentlichen Dienst etabliert. In anderen Berufsgruppen aber ist es Verhandlungssache.
Meagan Day ist Redakteurin beim US-amerikanischen Jacobin.