11. April 2021
Sahra Wagenknecht macht es ihren Gegnerinnen zu einfach.
Sahra Wagenknecht auf dem Weg zum Rednerpult, Bernd Riexinger und Katja Kipping zollen Applaus (Leipziger Bundesparteitag der Linken, 2018)
Die vorab bekannt gewordenen Passagen zur »Identitätspolitik« aus Sahra Wagenknechts neuem Buch Die Selbstgerechten sind so schlicht und holzschnittartig, dass man von einer gewollten Provokation ausgehen muss. Wagenknecht, generell keine Freundin von Nuancen, senkt das Niveau einer ohnehin schon vergifteten Debatte noch weiter herab. Bei einer Diskussion, in der sich die gesellschaftliche Linke seit Jahrzehnten um sich selbst dreht, kann das an sich schon als eine Leistung gewertet werden. Auf die Landesliste der Linken in Nordrhein-Westfalen hat sie es trotzdem geschafft.
Über »Identitätspolitik« diskutiert die Linke schon so lange, wie ich am Leben bin. Können wir das nicht einfach mal lassen? Ist zu diesem Thema nicht schon alles gesagt, was es zu sagen gibt?
Es tut mir aufrichtig Leid, diese Frage mit »Nein« beantworten zu müssen: Dass die gesellschaftliche Linke von der Identitätsfrage nicht loskommt, liegt nicht allein an unserer kollektiven Streitsucht. Hinter der Debatte stehen sehr reale strategische Dilemmata, die bis heute nicht gelöst sind.
Wagenknecht mag zwar – absichtlich oder unabsichtlich – groben Unfug verzapfen, sie hat aber insofern Recht, dass der heute dominante Ansatz linker Gesellschaftspolitik politische Mehrheiten versperrt und Konfliktlinien verhärtet, die für progressive Kräfte ungünstig verlaufen. Was auch immer wir von den Alternativen halten, wir sollten zugeben, dass dieser Ansatz nicht funktioniert und keine progressiven gesellschaftlichen Mehrheiten liefert.
Wir müssen leider noch weiter über »Identitätspolitik« sprechen, aber klarer, präziser und zielführender als bisher. Dazu gehört auch, diesen Kampfbegriff selbst unter die Lupe zu nehmen.
»Identitätspolitik«, wie wir sie heute verstehen, umfasst weit mehr als die politische und gesellschaftliche Repräsentation bestimmter sozialer Gruppen. In diesem Sinne wäre auch der Republikanismus in Nordirland oder die Anti-Apartheit-Bewegung in Südafrika, wie eigentlich alle antikolonialen Nationalbewegungen, »Identitätspolitik« – doch es darf davon ausgegangen werden, dass Wagenknecht diese Kämpfe nicht meint und mit dieser linken politischen Tradition auch kein Problem hat.
Politik mit kollektiven Identitäten ist so allgegenwärtig, dass eine darauf beschränkte Definition von »Identitätspolitik« wenig trennscharf wäre und auch nicht das umreißen würde, was wir heute damit meinen. Auch deswegen sollten wir diesen schwammigen Begriff so gut wie möglich vermeiden.
Dennoch geht es uns mit »Identitätspolitik« wie dem sprichwörtschöpfenden US-Verfassungsrichter mit Pornographie: Wir erkennen sie, wenn wir sie sehen. Sinn Féin, der African National Congress und der Südschleswigsche Wählerbund machen keine »echte Identitätspolitik«, im Unterschied zu Black Lives Matter und Me Too.
Doch was ist dann das Wesensmerkmal von »Identitätspolitik«, oder, wie Wagenknecht es ausdrücken würde, die »Theorie hinter dem Ansatz«? Auch darauf sollte man keine verkürzenden Antworten geben, und nicht alle Formen von »Identitätspolitik« sind einerlei. Ein zentrales Element ist die Affirmation der Standpunktepistemologie in Bezug auf gesellschaftliche Hierarchien. Die Kernthese lautet hierbei, dass nur wer unterdrückt wird, die eigene Unterdrückung verstehen und zu ihr sprechen kann.
Wie so vieles hat die Standpunktepistemologie einen wahren Kern; wie so oft lässt sich dieser aber auch ins Absurde überdehnen. Wie Olúfémi O. Táíwò es in seiner nachdenklichen Kritik ausdrückt, sind nicht die »Grundideen, sondern die vorherrschenden Normen, welche sie in die Praxis übersetzen« das Problem. Anders gesagt: Standpunktepistemologie, vulgo »Identitätspolitik«, ist zwar grundsätzlich notwendig, doch wenn sie Teil einer gesamtgesellschaftlich erfolgreichen Linken sein soll, dann muss sie anders praktiziert werden, als dies heute der Fall ist.
Táíwòs Kritik zielt unter anderem auf die Idee, politische Programme ließen sich allein daraus entwickeln, dass man Angehörigen marginalisierter Gruppen »zuhört«. Gerade für eine progressive politische Partei ist es essenziell, viele Stimmen anzuhören. Nur erwächst daraus noch keine kohärente politische Vision – die politische Synthese- und Transferleistung beginnt erst an diesem Punkt. Erschwerend kommt hinzu, dass dieses Zuhören oft in aktivistischen oder akademischen Institutionen stattfindet oder zumindest durch sie vermittelt wird. Dieser Prozess, den Táíwò »elite capture« nennt, bringt seine ganz eigenen Verzerrungen politischer Repräsentation mit sich.
Das aktivistisch und akademisch geprägte Verständnis von Repräsentation hat zur Folge, dass die Linke mehr und mehr einem politischen Paradigma verfällt, welches gesellschaftliche Veränderungen durch Verschiebungen innerhalb von Elitediskursen erreichen will, primär im akademischen und Medienumfeld. Diese Strategie muss nicht in jedem Fall falsch sein. Für die Trans-Community zum Beispiel war und ist es überlebenswichtig, im medizinischen und juristischen Fachdiskurs gehört zu werden. Doch es sollte uns bedenklich stimmen, wenn uns kein anderer Modus mehr einfällt, linke Politik zu machen; wenn die Ausübung von diskursivem Einfluss auf Eliten zur strategischen Monokultur wird.
Aus Wagenknechts Aussagen spricht der Frust einer Politikerin, die linken Populismus – oder zumindest ihre Version davon – einmal sehr gut beherrschte und durchaus erfolgreich damit war, inzwischen jedoch den Anschluss zum Mainstream ihrer eigenen Partei verloren hat. Über die Jahre ist Wagenknecht dem Trugschluss aufgelaufen, dass linker Populismus bedeuten könnte, ohnehin bereits populäre Auffassungen als links umzudeuten. Wagenknechts ideologische Gegner innerhalb der Linkspartei, die mittlerweile die Mehrheit sowohl der Funktionärinnen als auch der Parteimitglieder stellen, begehen hingegen einen anderen Fehler: Sie glauben, linke Politik funktioniere gänzlich ohne Popularisierung, allein über eine durch Eliten vermittelte, stetige Steigerung des gesellschaftlichen Achtsamkeitsniveaus.
Die gesellschaftliche Linke, wie wir sie heute kennen, hat ihre Wurzeln in der sozialistischen Arbeiterbewegung. Doch warum ist es überhaupt so, dass gesellschaftspolitischer Fortschritt zu einem Grundpfeiler der politischen Arbeiterbewegung wurde? Hätte es auch anders kommen können?
Die Arbeiterbewegung hat sich die gesellschaftliche Liberalisierung nicht immer unverzüglich und ohne interne Kontroversen auf ihre Fahnen geschrieben – letztlich haben sich entsprechende Positionen aber als fester Bestandteil des Sozialismus etabliert. Denn erstens haben politisch organisierte Arbeiterinnen und Arbeiter über die Zeit erkannt, dass hierarchische Unterdrückungsmechanismen leicht gegen sie als Klasse instrumentalisiert werden können, selbst wenn sie persönlich nicht von ihnen betroffen sind: Eine entlang von ethnischen oder religiösen Konflikten gespaltene Arbeiterklasse lässt sich leichter ausbeuten. Zweitens ist Rebellion überbordend: Wer sich daran gewöhnt, sich vom Chef nichts bieten zu lassen, nimmt diese Haltung früher oder später auch gegenüber Pfarrer und Ehemann ein.
Die sozialistische Arbeiterbewegung war über ein Jahrhundert lang die Haupttriebkraft einer allgemeinen gesellschaftspolitischen Liberalisierung vieler Gesellschaften. Das Versprechen der Befreiung von überkommenen Hierarchien war stets eine der zentralen Verheißungen linker Politik – und meist auch eine ihrer populärsten. Das Verständnis davon, was dies genau bedeutet, hat sich zwar über die Jahrzehnte verschoben, alles andere wäre aber auch mehr als seltsam.
Die tiefgreifende soziale Liberalisierung der meisten Industriegesellschaften in Europa, Nordamerika, Ostasien und anderswo ist einer der größten politischen Erfolge der Linken – doch tragischerweise flüchtet sie sich heute vor diesem Erbe der Arbeiterbewegung. Menschen mit einfacher Bildung und normalen Jobs traut sie heute nicht mehr zu, Impulsgeber der Emanzipation zu sein.
Elitendiskurse sind keineswegs unbedeutend. Manchmal bieten sie für eine benachteiligte Gruppe den einzig gangbaren Weg, sich ein besseres Leben zu erkämpfen. Doch linke Politik geht fehl, wenn sie sich ganz auf diese Methode festlegt – diese kann und soll ein Mittel unter vielen sein, darf aber nicht zum progressiven Defaultmodus zu werden.
Wir brauchen stattdessen eine populistische und populäre linke Politik – nicht nur in ökonomischen Fragen. Die politische Linke muss bewusst und offensiv für ihr eigenes Erbe gesellschaftlicher Liberalisierung einstehen, es verteidigen und weiterentwickeln, dabei aber einigen Abstand von akademischer und aktivistischer Nischensprache halten. Ansonsten droht ein gefährliches Repräsentationsvakuum in einem klassenpolitisch blinden politischen System, in dem breite Bevölkerungsschichten ohne Stimme bleiben.
Ein solcher linker Populismus, der die ganze Bandbreite des progressiven Freiheitsversprechens und Gerechtigkeitsgedankens in sich aufnimmt, ist möglich. Allerdings würde er eine politische Partei voraussetzen, die mehr will, als es sich in ihrem Milieu gemütlich zu machen. Sie müsste selbstbewusst genug sein, auf Grundlage einer kohärenten und allgemeinverständlichen Wertebasis ihre eigene politische Vision zu formulieren und dabei Abstand zu akademischen und aktivistischen Maximalforderungen und Formelkompromissen zu wahren, anstatt sich als passiver Leerbehälter zu verstehen, der nach Belieben von einer »Bewegung von Bewegungen« mit Inhalten gefüllt werden kann.
Die Partei Die Linke hat sich, zumindest bis auf Weiteres, für einen anderen Weg entschieden. Wahrscheinlich wird die damit weiterhin erfolgreich ihre ideologisch gefestigte Kernwählerschaft zufriedenstellen und ihre 6 bis 9 Prozent abgreifen. Das ist ein tragfähiges Konzept für den Betrieb einer linken Kleinpartei, nicht jedoch für linke politische Mehrheiten und eine gesellschaftliche Transformation. Das wissen sowohl Sahra Wagenknecht als auch ihre Kritikerinnen.
Alexander Brentler ist Journalist und Übersetzer.