15. Juli 2020
Sally Rooneys Roman »Normale Menschen« ist ein Porträt des Lebens und der Liebe im heutigen Kapitalismus. Es zeigt auf radikale Weise, wie untrennbar verknüpft unsere Beziehungen mit unserer gesellschaftlichen Umwelt sind.
Connell und Marianne aus der Serie Normal People.
Sally Rooney gilt als Stimme ihrer Generation. In den letzten Jahren veröffentlichte die Autorin mit Gespräche mit Freunden (2019) und Normal People Bestseller (erscheint unter dem Titel Normale Menschen im August 2020 auf Deutsch). Kürzlich adaptierte der Sender BBC Normal People als Fernsehserie.
Warnung: der Text enthält diverse Spoiler
Für Rooney selbst dreht sich die Geschichte jedoch nicht nur um ihre Generation. Sehr zum Leidwesen einiger Guardian-Kolumnisten spricht sie ganz offen darüber, was der Roman mit Klasse und Kapitalismus zu tun hat:
»Es wäre wirklich schwierig für mich gewesen, über junge Menschen zu schreiben, die ihr Zuhause im Westen Irlands verlassen und aufs College gehen, und mich nicht mit den wirtschaftlichen Ungleichheiten auseinanderzusetzen, die sich zu dieser Zeit abzeichneten. Dazu gehört etwa das Aussetzen der sozialen Absicherung für Arbeiterkinder, die aufs College gehen wollen.«
Unsere Gesellschaft ist zunehmend gespalten, in jene mit viel und jene mit wenig Vermögen. Das meint nicht nur Jung gegen Alt, sondern auch Mieterin gegen Vermieterin oder Arbeiter gegen Bosse. Dieser Umstand verschärft die Kluft zwischen größeren und kleineren Städten: Junge Menschen sehen sich gezwungen, die Kleinstädte ihrer Kindheit zu verlassen, um in den urbanen Zentren Arbeit zu suchen. Diese Dynamik des gegenwärtigen Kapitalismus wirkt auf die Figuren und die Erzählung von Normale Menschen ein – ebenso, wie sie die Arbeit ihrer Zeitgenossinnen beeinflusst, die nach dem Finanzcrash 2008 volljährig wurden und nun beginnen, unsere Kulturlandschaft erheblich zu beeinflussen.
Normale Menschen folgt den Hauptfiguren Marianne und Connell vom letzten Schuljahr in einer Stadt der irischen Grafschaft Sligo bis zur Universität am Trinity College in Dublin. Von Marianne, die aus wohlhabenden Verhältnissen stammt, wird erwartet, dass sie die prestigeträchtigste Universität Irlands besuchen wird. Für Connell jedoch, dessen Mutter als Putzfrau in Mariannes Elternhaus arbeitet, bedeutet der Besuch des Trinity College nicht nur, dass er sein Zuhause und sein unterstützendes Netzwerk verlässt – es ist auch eine Weggabelung, nach der ihm sein altes Leben immer weiter entfernt scheint.
Connells Entwicklung ist uns vertraut, nicht allein, weil in den letzten Jahrzehnten immer mehr junge Menschen aus der Arbeiterklasse die Universität besucht haben. Sie erscheint auch besonders irisch. Am Ende des Romans bleibt uns die Aussicht, dass Connell das Land verlassen wird, um im Ausland zu studieren – was nicht ungewöhnlich ist: In der Zeit nach dem wirtschaftlichen Absturz waren rund 400.000 Irinnen und Iren, meist in ihren 20er und 30er Jahren, gezwungen, auszuwandern, um in Wohlstand leben zu können. Ein Exodus, der auf unheimliche Weise an Auswanderungswellen erinnert, die die Insel in früheren Generationen gezeichnet haben.
»Genau auf dieser Mikroebene der Misskommunikation blüht Rooney auf, wenn sie die Klassenunterschiede zwischen Marianne und Connell beleuchtet.«
Auch über die Irische See hinweg ist die Auswanderung aus wirtschaftlichen Gründen ein Thema. Im Vereinigten Königreich sind arme junge Menschen in großer Zahl in städtische Zentren gezogen, um dort Bildung, Chancen und Arbeit zu finden. Diese Entwicklung erklärt in gewisser Weise auch, wie vormalig sichere Labour-Plätze wie in Workington, wo die junge Bevölkerung in den letzten dreißig Jahren um 28,4 Prozent zurückging, und Bishop Auckland, wo sie im gleichen Zeitraum um 24,9 Prozent sank, bei den letzten Wahlen an die konservativen Tories gingen.
Wenn junge Menschen es schließlich in die Städte schaffen, sehen sie sich mit unglaublich hohen Mieten und schlechten Unterkünften konfrontiert. In Dublin, einer der teuersten Städte Europas, ist die Wohnungskrise besonders akut. Normale Menschen zeigt, wie sich dieser Umstand auf die Protagonisten im Kleinen wie im Großen auswirkt. Connell kann sich einen Sommer lang keine Miete leisten und ist gezwungen, wieder nach Sligo zu ziehen. Infolgedessen trennen sich Marianne und er.
»Oh«, sagte sie. »Dann gehst du also wieder nach Hause.«
Er rieb sich das Brustbein und fühlte sich kurzatmig.
»Sieht so aus, ja«, sagte er.
In der Hoffnung, dass sie ihn bei sich wohnen lässt, erzählt Connell Marianne, dass er zurück nach Sligo zieht, weil er sich die Miete nicht leisten kann. Marianne, einfühlsam nur in Bezug auf ihr eigenes Selbstwertgefühl, versteht nicht, was Connell sie zu fragen versucht, und erlaubt ihm, zu gehen. Genau auf dieser Mikroebene der Misskommunikation blüht Rooney auf, wenn sie die Klassenunterschiede zwischen Marianne und Connell beleuchtet.
Bis zum folgenden Sommer haben sowohl Connell als auch Marianne Stipendien für ihre Unterkunft und Verpflegung erhalten. Für Marianne stellt das Stipendium eine »Stärkung des Selbstwertgefühls« dar, für Connell hingegen bedeutet es eine Veränderung der materiellen Umstände. Er stellt fest, dass »Geld die Substanz ist, die die Welt Wirklichkeit werden lässt«. Das Stipendium ermöglicht es ihm, zu reisen, und »plötzlich kann er sich einen Nachmittag lang Vermeers Die Malkunst ansehen«. Marianne hat die gleichen Prüfungen bestanden, jedoch die große Kunst in europäischen Städten bereits gesehen. Rooney illustriert damit die große Kluft zu denjenigen, die in unseren Gesellschaften Zugang zur Kultur haben.
Eine noch tragischere Geschichte wird durch Connells Freund Rob Hagerty vermittelt, der nach dem Wegzug seiner Freunde dem Alkohol verfällt und sich schließlich das Leben nimmt. Auch hier beschwört Normale Menschen Erfahrungen herauf, die jungen Menschen im gegenwärtigen Kapitalismus bekannt sind: die Isolation und das Gefühl des Scheiterns bei denjenigen, die sich nicht mit den wirtschaftlichen Gezeiten bewegen können. Ernsthafte psychische Probleme und der Gedanke an Selbstmord sind nicht weit entfernt.
»Normale Menschen zeigt Connell gefangen zwischen zwei Welten, keiner von beiden gehört er wirklich an.«
Auch Connell quälen Probleme: »Ich hatte einfach das Gefühl, dass ich Carricklea verlassen habe, weil ich dachte, ich könnte ein anderes Leben führen«, sagt er. »Aber ich hasse es hier, und jetzt kann ich nie wieder dorthin zurückkehren.« Connells Entfremdung ist das Ergebnis seiner Entwicklung von einem jungen Mann der ländlichen Arbeiterklasse zu einem Studenten an einer großstädtischen Eliteuniversität. Er überwindet die materiellen Barrieren, um zu studieren – und stellt dann fest, dass es nicht ausreicht, die gewaltigen Klassenunterschiede zu überwinden, die Generationen von Reichtum geschaffen haben.
Doch Robs Schicksal veranschaulicht, dass Connell nicht nach Hause zurückkehren kann: Dort gibt es für ihn keine Perspektiven. Normale Menschen zeigt ihn gefangen zwischen zwei Welten, keiner von beiden gehört er wirklich an. Es ist also kein Wunder, dass Rooneys Figuren sich selbst als links betrachten. Angesichts der wachsenden Ungleichheit entscheiden sich diejenigen, die vom Lohn abhängig sind, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, für eine radikalere Politik, wenn es um Gesundheit und Wohnen geht. Darin unterscheiden sie sich von ihren Eltern und Großeltern, die das Stadtbild der Kleinstädte prägen und wirtschaftlich einigermaßen abgesichert sind.
Dass die linke Partei Sinn Féin im Irland, das Rooney beschreibt, letztendlich die beliebteste Partei ist und dass ihr Erfolg wesentlich auf die jüngeren Wählerinnen und Wähler zurückgeht, überrascht also nicht. Weltweit, so sehen wir, herrschen im Wahlverhalten junger Menschen ähnliche Muster.
Das Verhältnis vom Liebesroman zum Kapitalismus ist interessant: Beides entstand quasi zeitgleich im späten achtzehnten und frühen neunzehnten Jahrhundert. Rooneys Normale Menschen ist in gewisser Weise ein Prototyp des Liebesromans. Zwar endet die Erzählung nicht mit der Ehe, wie es für einen Text dieses Genres mit weiblicher Protagonistin üblich wäre. Doch er erfüllt viele andere formale Kriterien wie den Realismus und den Fokus auf das Paar. Beides kommt durch die Weise zum Ausdruck, wie die körperliche Beziehung zwischen Connell und Marianne erzählt wird.
Sowohl der Roman als auch die BBC-Verfilmung wurden von der Kritik für ihre Darstellung des Sex gelobt. Die New York Times schrieb, dass Rooney »Sexualität als eine transformative, heilende, komplizierte Form der Kommunikation für beide Figuren darstellt«. Der Sex zwischen Connell und Marianne ist in der Tat all das – aber er steht im Gegensatz zu dem Sex, den Marianne im Laufe des Romans mit den anderen Männern hat. Marianne hat mit diesen Männern Kinky-Sex, und diese Erfahrung wird als schädlich und eine Form der Selbstbestrafung kodiert. Als sie Connell bittet, sie während des Sex zu schlagen, gerät er in Panik und sagt Nein.
Nach dem Vorfall bleiben wir mit Fragen an beide Charaktere zurück. Inwieweit war Mariannes Wunsch, geschlagen zu werden, ein Zeichen von mangelndem Selbstwertgefühl? Führt Connells Wunsch, »normal« zu sein, zu einer Verdrängung? Oder zu einer Angst vor neuen Erfahrungen? Beide Figuren spielen eine Rolle, und Marianne wird noch in derselben Nacht von ihrem misshandelnden Bruder mit der Tür ins Gesicht geschlagen. Sie ruft Connell an und fordert ihn auf, sie abzuholen. Die Erzählung schafft eine Verbindung zwischen dem Sex, den Marianne mit anderen Partnern hatte, und dem, was sie durch den Schlag ihres Bruders erlebt. Connell rettet sie vor beidem.
»Vielleicht sehen wir gerade in dieser Ablehnung einer individuellen Erzählung den antikapitalistischen Impetus von Rooneys Schreiben.«
Der Sex von Connell und Marianne ist jedoch nicht minder kompliziert – allein, weil heterosexueller Sex immer in Zusammenhang mit kapitalistischen, patriarchalischen und religiösen Normen steht. Es geht Rooney weder darum, dass Connell und Marianne sich nur auf eine traditionellere Form des Geschlechtsverkehrs einlassen, noch darum, dass Sex transformativ sein kann – und in Normale Menschen auch ist. Es geht um den Gegensatz, der zwischen den verschiedenen Arten von Sex geschaffen wird, und wie diese zu dem Missbrauch, den Marianne erlebt, in Beziehung gesetzt werden.
Rooney selbst stellt infrage, ob es so etwas wie eine marxistische Liebesgeschichte geben kann. Schließlich ist der Roman eng mit kapitalistischen Produktionsbedingungen verflochten. Marianne und Connell existieren jedoch nicht getrennt voneinander: Es ist die Dynamik zwischen ihnen, die Gegenstand des Romans ist, und Rooney gibt ihren jeweiligen Leben außerhalb der Beziehung relativ wenig Raum. Ihr Interesse gilt den Einflüssen, die Connell und Marianne aufeinander ausüben, und der Frage, wie Menschen von ihren Mitmenschen verändert werden können. Vielleicht sehen wir gerade in dieser Ablehnung einer individuellen Erzählung, im Beharren auf Wechselseitigkeit und gegenseitige Abhängigkeit, den antikapitalistischen Impetus von Rooneys Schreiben.
Im Kapitalismus wird das, was als Alltagsverstand gilt, durch ein Netz verschiedener Institutionen geprägt: von den Schulen über die Nachrichtenseiten bis hin zu unserer Massenkultur. Diese Institutionen bestimmen die Diskursbedingungen ebenso wie die Grenzen einer akzeptablen Meinung. Für den marxistischen Theoretiker Antonio Gramsci war dies eine durch Kultur hergestellte Hegemonie, die den politischen und wirtschaftlichen Zielen des Kapitals dient.
Gramsci ließ aber auch die Möglichkeit einer Gegenhegemonie offen, in der sich ein gesunder Menschenverstand entwickeln kann, die in Opposition zum Kapital steht. Diese Möglichkeit können wir in den Sally Rooneys Texten erkennen. Die Politik ihrer Figuren besteht nicht nur aus jugendlichem Idealismus, sondern entstammt der Welt um sie herum. Die Unsicherheit und Prekarität, die die Figuren erfahren, erklären den Reiz, den sozialistische Ideen ausüben. Durch die Einbeziehung dieser Politik trägt Normale Menschen zur Entstehung einer Gegenhegemonie in der Gesellschaft bei – nicht zuletzt auch, weil der Roman im Mainstream so erfolgreich ist. Er kann so dazu beitragen, Ideen populär zu machen, die viele Leserinnen und Leser aufgrund ihrer materiellen Bedingungen entwickeln und die sie nun gespiegelt sehen können.
»Wir brauchen Bücher, Fernsehserien und Stücke, die die Geschichten des Lebens im Kapitalismus so erzählen, dass sich die Menschen ihnen zuwenden wollen.«
Die Politik von Rooneys Romanen ist weniger eine der großen roten Fahne als vielmehr eine des roten Fadens, der durch eine komplexere Struktur gewebt ist. Sie haben das Potenzial, aus dem Regal herausgeholt und zur Seite gelegt zu werden. In gewissem Maße wird das auch in der Serienadaption zu Normale Menschen deutlich, an der Rooney mitgeschrieben hat. Enttäuschenderweise bricht die Politik in der Serie nur während einer Uni-Debatte über Redefreiheit ein. Die rigorosere Kritik an Klassenunterschieden aus dem Roman bleibt aus. In anderen Punkten bleibt die Verfilmung nahe am Ausgangstext, was zeigt, dass Politik offenbar nicht das wesentliche Merkmal der Geschichte ist, die Rooney erzählen wollte.
Der Kapitalismus ist ständig in Bewegung. Dieser Umstand ermöglicht es ihm, schwierige Phänomene aufzunehmen und sie uns wieder zu verkaufen. Und das wiederum ist die Herausforderung für marxistische Schriftstellerinnen wie Rooney, deren Werk eine weit verbreitete Beliebtheit erlangt. Alle Romane sind letztlich auch Waren, und selbst Sally Rooney muss überrascht gewesen sein, wie schnell die Politik aus ihrem Werk entfernt wurde, um es zu einem Accessoire für die Kultur-Elite zu machen: Bei einem Fotoshooting der Vanity Fair wurde das Buch mit einer Mansur-Gavriel-Tasche dekoriert – und die wiederum mit einem Preisschild von 595 US-Dollar.
Unzählige Kommentare haben Rooney als die Stimme ihrer Generation gepriesen. Das verdeutlicht, dass Normale Menschen sowohl denjenigen gehört, die es sehen und lesen, als auch Rooney selbst. Doch wo andere das radikale Potenzial des Romans zu schmälern versuchen, sollten sich Sozialistinnen und Sozialisten bemühen, es anzunehmen. Wir brauchen Bücher, Fernsehserien und Stücke, die die Geschichten des Lebens im Kapitalismus so erzählen, dass sich die Menschen nach wenig inspirierenden Arbeitstagen ihnen zuwenden wollen. Normale Menschen zu lesen ist kein Ersatz für Gewerkschaftstreffen oder andere politische Projekte, aber es könnte die härteren Brocken leichter machen – gerade angesichts der Niederlagen der vergangenen Monate. Der Kapitalismus befindet sich in einer Krise, und Anzeichen dafür sind in unserer Kultur immer häufiger zu finden. Wir wären dumm, die Möglichkeiten, die sich daraus ergeben, nicht zu ergreifen.
Anastasia Baucina ist Autorin und Aktivistin in der Labour Party.