12. April 2023
Die finnische Mitte-Links-Koalition von Sanna Marin hat viel versprochen, aber zu wenig getan, um materielle Verbesserungen für die breite Mehrheit zu erzielen. Damit hat sie den Rechten in die Hände gespielt.
Bei den finnischen Parlamentswahlen am 02. April hat die Regierungskoalition von Sanna Marin herbe Verluste eingefahren.
IMAGO / NurPhotoVor vier Jahren war die finnische Linke ziemlich zufrieden. In Finnland waren über Jahrzehnte hinweg Regierungen im Amt gewesen, die im Namen der Effizienzsteigerung und der Globalisierung nach und nach die Bedingungen für gewerkschaftliche Verhandlungen, öffentliches Eigentum und wirtschaftliche Planung – die das Fundament des Wohlfahrtsstaates bildeten – aushebelten.
Das Sozial- und Gesundheitssystem war überlastet und Anzeichen der Erschöpfung zeigten sich in allen Bereichen des öffentlichen Dienstes. Das Wirtschaftswachstum war träge, die Geburtenrate ging zurück. In Politik und Medien war man sich lange einig, dass nur der Neoliberalismus einen Ausweg aus diesen Krisen weisen würde.
Doch dann schien sich eine Alternative aufzutun. Im Jahr 2019 versprach eine neue Mitte-Links-Regierung umfassende soziale und ökologische Reformen, einschließlich einer Erneuerung des Wohlfahrtsstaates und einer entschlossenen Verpflichtung zur Klimaneutralität bis 2035. Es war Aufgabe des Ministerpräsidenten Antti Rinne, einem erfahrener Gewerkschafter, die Koalition aus Sozialdemokraten, Grünen, der bäuerlich-liberalen Zentrumspartei, dem weit links stehenden Linksbündnis und der Schwedischen Volkspartei anzuführen.
Aber Rinne blieb nicht einmal ein Jahr lang im Amt. Nach einem landesweiten Poststreik, durch den er zum Gegenspieler der Gewerkschaften wurde, die seine Basis bildeten, trat er zurück. Sanna Marin, die seinen Posten übernahm, war bald mit einer Reihe schwerer Herausforderungen konfrontiert: Die Corona-Pandemie überzog das Land und der Krieg in der Ukraine veränderte die Sicherheitslage in ganz Europa. Marins Regierung hatte ihre ursprüngliche Agenda kaum eingelöst, und ihre Amtszeit wurde von Meinungsverschiedenheiten zwischen den Koalitionsparteien dominiert.
Während der Pandemie verhängte Finnland im Vergleich zu vielen anderen Ländern Europas keine strengen Lockdowns. Ein Großteil des finnischen Gesundheitssystems verfolgte bei der Einführung von Corona-Maßnahmen und der Impfung verschiedener Bevölkerungsgruppen einen eher vorsichtigen Ansatz. Etwa eineinhalb Jahre lang war diese Strategie erfolgreich: Das öffentliche Gesundheitswesen griff kaum in den Alltag ein und die Zahl der Todesfälle verharrte auf einem niedrigen Niveau.
Das sollte – wie vielleicht zu erwarten war – nicht von Dauer sein. Nach dem Herbst 2021 war die Übersterblichkeit in Finnland im Durchschnitt höher als im Rest Europas. Einige Kritikerinnen und Kritiker behaupteten, das Land habe die Corona-Maßnahmen zu früh zurückgenommen, während andere glaubten, die Impfstrategie und die Entscheidung, keinen zweiten Booster für die über 60-Jährigen anzubieten, seien für die hohe Todeszahl verantwortlich.
Die Invasion Russlands in die Ukraine im Februar 2022 löste in ganz Finnland eine nationale Reaktion aus, die bis in die hintersten Ecken des finnischen Geschichtsbewusstseins vordrang. Was jahrzehntelang undenkbar gewesen war – nämlich die Bedrohung durch eine große Nation, die versucht, ihren kleineren Nachbarn zu erobern –, beherrschte von nun an die finnische Gesellschaft und Politik.
Die öffentliche Haltung zu einem Beitritt in die NATO hatte sich bereits vor dem Krieg gewandelt, doch der Einmarsch Russlands beschleunigte diese Entwicklung. Marin, die zuvor noch erklärt hatte, dass ein NATO-Beitritt Finnlands unter ihrer Regierung höchst unwahrscheinlich sei, warb schon bald für eine Aufnahme in das Militärbündnis – und kappte die jahrzehntelangen Handelsbeziehungen zu Russland.
Unter allen Parteien der Regierungskoalition hat sich allein das Linksbündnis vorsichtig gegen einen NATO-Beitritt ausgesprochen; alle anderen Parteien preschten gemeinsam vor. Am 4. April wurde die Mitgliedschaft Finnlands bestätigt und unabhängig davon, welche Konsequenzen der jüngste Wahlausgang nach sich ziehen wird, ist nicht zu erwarten, dass sich daran etwas ändern wird.
Die meisten Kontroversen um Marins Regierung sind allerdings innenpolitischer Natur. Mehrere aufeinanderfolgende Regierungen versuchten vergeblich, das finnische Gesundheits- und Sozialwesen zu reformieren. Auch Marin ist daran gescheitert. Während die Reformen der Regierung in einigen Bereichen Abhilfe verschafften, blieben die schlechte Grundversorgung im ländlichen Raum und das dysfunktionale Gesundheitswesen in der Hauptstadt – wo vor allem die Entbindungskliniken schon lange vor Versorgungsengpässen stehen – weiterhin unangetastet.
In erster Linie versuchte die Regierung, der Krise der Gesundheitsversorgung strukturell zu begegnen. So wurden Befugnisse von kommunaler Ebene auf eine höhere, regionale Ebene mit gewählten Räten übertragen. Das ermöglichte eine bessere Zusammenarbeit zwischen den zuvor abgekapselten Sektoren der Gesundheits- und Sozialfürsorge.
Theoretisch betrachtet waren diese Reformen begrüßenswert und knüpften an die besten Traditionen des Wohlfahrtsstaates an – um das menschliche Wohlergehen zu fördern, sollten robuste Rahmenbedingungen geschaffen werden, die der Staat und nicht private Anbieter bereitstellten. Doch in der Umsetzung fehlte es an der nötigen Finanzierung, weshalb keine wirkliche Verbesserungen erzielt wurde. Die Regierung versäumte es, die Mittel deutlich aufzustocken oder den Regionen die Möglichkeit einzuräumen, höhere Steuern zu erheben. Infolgedessen wurden die Reformen nicht zu Ende geführt.
Die Bildungspolitik stand vor ähnlichen Problemen. Unter der Federführung des Linksbündnisses erhöhte das Bildungsministerium die Schulpflicht von siebzehn auf achtzehn Jahre. Diese Reform sollte der sozialen Ausgrenzung entgegenwirken und mehr jungen Menschen die Möglichkeit bieten, sich weiterzubilden.
Auch wenn dieses Vorhaben durchaus lobenswert ist, erbte die Regierung heftige Ausgabenkürzungen im Bildungsbereich, die ihre Vorgänger vorgenommen hatte, und sie versäumte, sie vollständig rückgängig zu machen. Finnland war lange stolz auf sein Schulsystem, das bei internationalen Vergleichen oft unter den oberen Plätzen rangierte und für sein kostenloses Schulessen bekannt wurde. Dieses Ansehen wurde durch Berichte über den Rückgang des Bildungsniveaus beschädigt.
Sowohl die Sozialdemokraten und das Linksbündnis haben ihre Basis in der Arbeiterbewegung. Doch obwohl beide Parteien an der Regierung beteiligt waren, gelang es ihr nicht, die Arbeitnehmerrechte den Erwartungen entsprechend zu verbessern. Die Absage an eine Lohnerhöhung, die Pflegekräfte im Zuge der Pandemie eingefordert hatten, die Haltung der Regierung, die den landesweiten Poststreik provoziert hatte und ihr Versäumnis, die Arbeitnehmerrechte grundlegend zu stärken, entfremdete Wählerinnen und Wähler aus der Arbeiterklasse – wovon wiederum die Rechtspopulisten profitierten.
Um zu verstehen, weshalb die Regierung bei den Wahlen so katastrophal abschnitt, ist die Klimapolitik der Regierungsparteien und die Rhetorik, mit denen die Rechten die Bevölkerung dagegen aufwiegelten, entscheidend. Die Zielvorgabe, das Land auf sozial verträglichem Weg bis 2035 klimaneutral zu machen, verursachte tiefe politische Spaltungen.
Die von der finnischen Agrarindustrie unterstützte Zentrumspartei lehnte die Verringerung von Torfkraftwerken und eine Begrenzung der Abholzung ab. Diese Spaltung konnte weder durch die neue Haltung der finnischen Linken zur Atomkraft und noch durch den Versuch der Sozialdemokraten, Klimaziele und Beschäftigungssicherheit zu vereinen, überbrückt werden.
Bei einigen dieser Auseinandersetzungen handelte es sich um tatsächliche Interessenkonflikte, andere wiederum waren eher kleinliche Streiteren oder Ausdruck der Angst der Zentrumspartei, von rechts kritisiert zu werden. Der wirtschaftliche Engpass, der auf den Krieg in der Ukraine folgte, erschwerte die Umsetzung der Klimapolitik zusätzlich.
Angesichts der Inflation, die die Energie- und Lebensmittelpreise explodieren ließ, wurde es immer schwieriger, den umweltpolitischen Vorstoß der Regierung zu rechtfertigen, da dieser von Kritikerinnen und Kritikern als Öko-Austerität wahrgenommen wurde – was besonders die Grünen bei den Wahlen auf die harte Tour lernen mussten.
Die Wirtschaftskrise hat die Wahlen auch dahingehend beeinflusst, dass sie die Frage der Staatsverschuldung zur obersten Priorität werden ließ. Die politische Sphäre Finnlands ist von einer übertriebenen Angst vor Verschuldung durchzogen. Aber während einer Pandemie und eines Krieges ist es kaum möglich, keine neuen Schulden aufzunehmen. Selbiges gilt für die Verabschiedung weitreichender Reformen zur Stärkung des Wohlfahrtsstaates.
Die Nationale Sammlungspartei – die kapitalfreundliche und sozialliberale Partei, die mit großer Wahrscheinlichkeit die nächste Regierung stellen wird – hat davon extrem profitiert. Indem die Partei ihre finanzpolitische Verantwortung besonders betonte, gelang es ihr, die Unterstützung der Mittelschicht zu gewinnen. Die rechtspopulistische Partei Die Finnen, die in der nächsten Regierungskoalition eine zentrale Rolle übernehmen könnten, nutzte die Ablehnung der Klimapolitik, die besonders in den ländlichen Regionen grassierte, um für Sparmaßnahmen zu werben. Sie machte außerdem Stimmung gegen Migration, die sie zum Auslöser der Kriminalität erklärte und versprach, härtere Strafen zu verhängen.
Angesichts dessen kann Marin, die kürzlich ihren Rücktritt als Parteivorsitzende ankündigte, es immer noch als Erfolg verbuchen, dass die Sozialdemokraten ihr Ergebnis verbessern konnten, auch wenn ein großer Teil der Stimmen eher auf wahltaktische Erwägungen sowie ihre internationale Bekanntheit zurückgehen.
Die Grünen und die Zentrumspartei hatten bereits mit hohen Verlusten gerechnet, da ihre wichtigsten Reformen gescheitert waren. Schockiert war lediglich das Linksbündnis, die am weitesten links stehende Partei, die ihr schlechtestes Ergebnis aller Zeiten einfuhr. Ihre Vertretung schrumpft auf elf Abgeordnete.
Die nächste finnische Regierung könnte die rechteste Regierung sein, die das Land seit Jahrzehnten gesehen hat und die Neoliberalen mit den Rechtspopulisten zusammenbringen. Dann wäre ein harter Sparkurs in Kombination mit einer Abschaffung des Klimaschutzes und Angriffen auf Asyl- und Menschenrechte zu erwarten. Alternativ dazu wäre eine Koalition aus Sozialdemokraten und Nationaler Sammlungspartei möglich – eine Option, die vor allem unter der finnischen Elite auf Zustimmung stößt, da sie dem Neoliberalismus ein moderneres, freundlicheres und professionelleres Gesicht verleihen würde.
Die finnische Linke muss sich nun mit einigen schwierigen Fragen auseinandersetzen. Die vergangene Regierungskoalition war die linkeste, die parlamentarisch möglich war, angeführt von der am weitesten links stehenden Ministerpräsidentin – der wiederum durch eine rechtspopulistische Wende eine Absage erteilt wurde. Das liegt zum einen daran, dass ehrgeizige Reformen beschlossen wurden, aber keine Mittel zu ihrer Finanzierung bereitgestellt wurden.
Aber es gibt noch weitere Faktoren, die zu dieser herben Wahlniederlage geführt haben und mit einfachen Lösungen wird man diesen Herausforderungen nicht begegnen können. Zweifellos wird die Linke darauf unterschiedlich reagieren. Einige werden für Mäßigung plädieren oder dafür werben, sich unter dem Banner der Sozialdemokraten zusammenzuschließen. Andere werden sich auf den Aktivismus auf der Straße und die außerparlamentarische Politik konzentrieren.
Offen bleibt die Frage, ob die Linke tatsächlich zu einer politischen Kraft akademisch ausgebildeter Städter geworden ist, die utopische Visionen anbietet, aber im alltäglichen Leben der Menschen keine spürbaren Verbesserungen erzielen kann. Ohne eine Antwort auf diese Herausforderung wird der Aufstieg der Rechten wahrscheinlich voranschreiten.
Tatu Ahponen lebt in Tampere, Finnland. Er ist Mitglied der Linksbündnisses und stellvertretendes Mitglied des Parteirats.