15. April 2022
CO2-neutral ist nicht genug. Das 1,5-Grad-Ziel erreichen wir nur, wenn wir Kohlenstoff aus der Atmosphäre holen.
Die massive Entfernung von CO2 aus der Atmosphäre – auch bekannt als Kohlenstoffabscheidung oder negative Emissionen – könnte ein Eckpfeiler dystopischer wie auch utopischer Zukünfte sein. Die düsteren Szenarien sind wohlbekannt: riesige Landflächen werden in Plantagen für Bioenergie mit Kohlenstoffabscheidung und -speicherung umgewandelt. Dadurch werden Menschen verdrängt, natürliche Lebensräume zerstört und Lebensmittelpreise maßlos gesteigert.
Doch es reicht nicht, solche Dystopien bloß zu verhindern – die Erderwärmung ist bereits zu weit fortgeschritten. Was wir brauchen, ist eine positive Vision für die Zukunft der negativen Emissionen.
Wenn wir glauben, dass die Kohlenstoffabscheidung zu nichts anderem dienen kann, als die Dekarbonisierung der Wirtschaft hinauszuzögern, dann hat die fossile Industrie bereits gewonnen. Denn sie hat dieses Narrativ entwickelt, wonach negative Emissionen nur existieren, damit sie weiter emittieren kann. Wir sollten jedoch mehr von dieser Technologie verlangen.
Die Kohlenstoffabscheidung kann ebenso wohl dazu dienen, über die Dekarbonisierung der Wirtschaft hinauszugehen. Mit ihr könnten wir, einmal bei der Klimaneutralität angelangt, einen Schritt weiter gehen und durch negative Emissionen einige der Auswirkungen des bereits erfolgten Klimawandels wieder rückgängig machen. Das wird nicht einfach werden. Doch wenn wir uns die Ergebnisse der Klimawissenschaft ansehen, hat die Linke keine andere Wahl, als diese Herausforderung anzunehmen.
Schon heute hat sich der Planet im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter aufgrund des Klimawandels um mehr als 1 Grad erwärmt. Paradoxerweise würde die Beseitigung der Luftverschmutzung, die derzeit einen Teil der globalen Erwärmung überdeckt, die Temperaturen um weitere 0,5 bis 1,1 Grad erhöhen.
Selbst wenn wir von heute auf morgen aufhörten, fossile Brennstoffe zu nutzen, und zugleich die Luftverschmutzung beseitigten, hätten wir die 1,5-Grad-Marke bereits überschritten. Das CO2-Budget ist keine exakte Wissenschaft. Wir scheinen jedoch an einem Punkt zu sein, an dem eine Erwärmung von 1,5 Grad aufgrund der bereits ausgestoßenen Emissionen unausweichlich ist.
Eine rasche Dekarbonisierung könnte die Erwärmung auch ohne negative Emissionen auf 2 Grad begrenzen. Aber dazu bleibt nicht mehr viel Zeit. Selbst wenn die kurzfristigen Emissionssenkungen dem Pariser Klimaabkommen entsprächen, bräuchte es negative Emissionen, um die 2-Grad-Grenze bis 2030 einhalten zu können. Wir müssten die Klimaziele von Paris also bei weitem übertreffen, um auf Kohlenstoffabscheidung verzichten zu können.
Allerdings machen wir keine besonders großen Fortschritte in Richtung dieser Klimaziele, deren Erreichen immer noch eine Erwärmung von 3 Grad nach sich ziehen würde – ein Wert, der nach gängiger wissenschaftlicher Auffassung katastrophale Auswirkungen hätte. Das ist der Grund, weshalb negative Emissionen für Klimamodelle so bedeutend sind.
»Nach einigen Jahrzehnten erreicht ein Wald – ähnlich einer sich füllenden Badewanne – einen Höchststand und kann keinen weiteren Kohlenstoff mehr aufnehmen.«
Die Szenarien für 1,5 oder 2 Grad sehen vor, dass zum Ende des Jahrhunderts 10 Milliarden Tonnen CO2 pro Jahr abgeschieden werden. Zum Vergleich: Die derzeitigen Emissionen belaufen sich auf etwa 40 Milliarden Tonnen pro Jahr. Zur Einhaltung der 1,5-Grad-Grenze müssten diese Emissionen also nicht nur auf null reduziert werden – wir müssten dann noch 10 Milliarden Tonnen extrahieren, um ein negatives Nettoergebnis zu erzielen. Das bedeutet aber, dass die derzeitigen Anstrengungen zur Kohlenstoffabscheidung und -speicherung um das Tausendfache erhöht werden müssten.
Negative Emissionen stützen das Narrativ, dass wir die Klimakatastrophe noch aufhalten können, wenn wir nur schnell genug handeln. Doch wenn wir einmal verstanden haben, dass solch erfinderische Arithmetik angewandt wurde, um bei 1,5 Grad herauszukommen – wie gehen wir dann damit um?
Als erstes müssen wir uns fragen: Kann das Entfernen von CO2 aus der Atmosphäre sozial gerecht gestaltet werden, sodass es dem Gemeinwohl zugute kommt? Könnte es einen Teilaspekt einer Energiedemokratie bilden? Sofern die dazu notwendigen Technologien, Praktiken und Institutionen vorstellbar sind, sollten wir versuchen, sie zu verwirklichen.
Die Kohlenstoffabscheidung sollte man sich aber nicht als eine Wunderwaffe vorstellen, mit der man CO2 einfach wegwischen kann. Denn die Emissionen werden dabei nicht eins zu eins kompensiert. Zum Beispiel nehmen die Ozeane derzeit mehr als die Hälfte des von uns emittierten Kohlenstoffs auf – wenn der Atmosphäre zukünftig in großem Umfang CO2 entzogen wird, könnte es sein, dass die Meere wieder Kohlenstoff abgeben und damit vielleicht die Hälfte der entfernten Emissionen ersetzen. Die mit negativen Emissionen verbundenen Chancen bergen also einige Komplexitäten und sogar Gefahren. Und darüber müssen wir reden.
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Holly Buck ist die Autorin von After Geoengineering: Climate Tragedy, Repair, and Restoration. Ihr neues Buch Ending Fossil Fuels: Why Net Zero is Not Enough erscheint im November 2024.