13. Oktober 2021
Unsere Gesellschaft steht vor politischen Mammutaufgaben, und doch läuft nach der Wahl vieles wie bisher. Der Niederlage der Linken zum Trotz geht es jetzt um einen neuen Sozialismus.
Claudia Roth feiert den Marsch durch die Institutionen. Mit der FDP?
Was hätte das für ein Wahlkampf werden können. Die nächste Bundesregierung entscheidet mit darüber, ob ein halbwegs humaner Ausgang aus der ökonomisch-ökologischen Zangenkrise überhaupt noch gelingen kann. Alltägliche Ereignisse machen erfahrbar, was auf dem Spiel steht. Laut jüngstem Bericht des Weltklimarates (IPCC) steuern wir, statt ein noch einigermaßen kontrollierbares 1,5-Grad-Erderhitzungsszenario anzupeilen, bestenfalls auf ein 2,7-Grad-Szenario zu. Träte dies ein, wären – so viel lässt sich trotz aller Unsicherheiten in den Erdwissenschaften sagen – bis zum Ende des Jahrhunderts erhebliche Teile des Planeten unbewohnbar.
Die Welt stehe am Abgrund, hat UN-Generalsekretär António Guterres diese Entwicklungen mit ungewohnter Deutlichkeit auf den Punkt gebracht. Stürme von zuvor unbekannter Heftigkeit, Hitzewellen mit Rekordtemperaturen, Waldbrände nicht nur in Kalifornien und im Herzen Kanadas, sondern auch an den Stadträndern von Athen, oder Flutkatastrophen wie die im einstmals idyllischen Ahrtal lassen keinen Zweifel – der menschengemachte Klimawandel verändert den Planeten. Wetterextreme nehmen zu und fordern Menschenleben. Das Ausmaß globaler ökologischer und sozialer Gefahren ist seit Jahrzehnten bekannt und dennoch geschieht wenig bis nichts. »System Change, not Climate Change!«, lautet der Ausweg aus der Zangenkrise, den Zehntausende Klimastreikende unmittelbar vor der Wahl gefordert haben. Doch was Aktive in den Klimabewegungen für selbstverständlich halten, stand gar nicht zur Wahl. Ein »Klimaschutz für die 99 Prozent« war im politischen Raum nicht repräsentiert; das Ergebnis der Bundestagswahl ist entsprechend ausgefallen.
Zwar wurde der christlich-soziale Interessenverband systemischer Klimasünder mit seinem historisch schlechtesten Wahlergebnis abgestraft. Zu den großen Verlierern gehört aber auch die Linkspartei, die die Fünf-Prozent-Marke knapp verfehlte und nur dank dreier Direktmandate wieder in den Bundestag einzog. Die einzige politische Kraft mit sozialistischem Selbstverständnis – ein Anspruch, der im Wahlprogramm freilich gut verborgen war – hat ihren Stimmenanteil nahezu halbiert. Sie verlor in erster Linie an SPD und Grüne, in geringerem Ausmaß auch an die AfD. Ihre Verluste sind bei Arbeiterinnen und Gewerkschaftsmitgliedern überdurchschnittlich hoch – und das, obwohl die Partei mit sozialer Gerechtigkeit ihre Kernkompetenz ins Zentrums ihres Wahlkampfs stellte. In deutlichem Kontrast dazu erstrahlt eine politische Kraft in neuem Glanz, die man bereits totgesagt hatte: Die SPD hat die Wahl mit deutlichen Stimmenzuwächsen für sich entschieden. Ihr Kandidat Olaf Scholz steht auf dem Sprung ins Kanzleramt.
Wahrscheinlich ist nun eine sogenannte Ampelkoalition aus Sozialdemokraten, Grünen und Liberalen. Mehrheitsfähig, wenngleich vorerst nur die zweite Option, wäre auch ein Jamaika-Bündnis unter Führung der christdemokratischen Wahlverlierer. Käme es dazu, hieße das freilich den Wählerwillen grotesk zu verzerren. Die Union ist der Wahlverlierer, der Kanzlerwahlverein CDU fällt auseinander und sucht nach Orientierung. Dass sich die Liberalen mit 0,7 Prozent Zugewinn als große Wahlsieger feiern, gehört ebenfalls zu den kuriosen Darbietungen einer vor allem um sich selbst kreisenden politischen Elite. Eines steht jedoch jetzt schon fest: Gleich, welche Koalition sich am Ende herausbildet, eine Nachhaltigkeitsrevolution wird sie nicht in Gang setzen. Dafür sorgt schon die Beteiligung der FDP. Für die Bearbeitung der großen Fragen dieser Zeit ist das furchtbar. Doch wie ist dieses Votum zu erklären, das aller Veränderungsrhetorik zum Trotz für ein modifiziertes Weiter-so spricht?
Geht es nach dem dominanten Politiktalk, sind die Ursachen schnell gefunden: grobe Fehler im Wahlkampf von CDU und Grünen; ein sozialdemokratischer Kandidat, der angesichts schwacher Konkurrenz als umsichtiger Staatsmann agieren kann; die ungewohnte Geschlossenheit der Sozialdemokratie, gegen die eine zerstrittene Linkspartei als ungedeckter Wechsel auf die Zukunft erscheinen musste und nicht zuletzt eine politische Zuspitzung, die all jenen, die eine sozial-ökologische Transformation mit Haltegriffen wollen, taktisches Wahlverhalten nahelegte. Jeder der genannten Gründe hat zum Wahlergebnis beigetragen.
Wer nach den gesellschaftlichen Ursachen für den Wahlausgang sucht, muss indes tiefer bohren. Aus der Perspektive eines nachhaltigen Sozialismus gilt es vor allem drei tiefenstrukturelle Veränderungen in den Blick zu nehmen: ein Versagen der Öffentlichkeit, das Zurückbleiben aller politischer Parteien hinter den Anforderungen einer Nachhaltigkeitsrevolution und das Scheitern der Partei Die Linke als sozialistische Sammlungsbewegung.
Betrachtet man den Verlauf des Wahlkampfs, so war von einer Schicksalswahl wenig zu spüren. Dafür tragen die medialen Öffentlichkeiten Mitverantwortung. Sie funktionieren zu erheblichen Teilen so, wie es Bernie Sanders für die Rolle des US-Medien beschrieben hat: Ein Thema erscheint umso weniger wichtig, je mehr es arbeitende Menschen betrifft. Hingegen steigt die mediale Aufmerksamkeit in dem Maße, wie die Relevanz der Themen für die Lebenswelt der unteren Klassen schwindet. Politik wird mehr und mehr zur Unterhaltung. Spektakel, Skandale, gegenseitige Beleidigungen, Illoyalitäten und Intimitäten bekommen den Rang von öffentlichen Ereignissen.
Diese Tendenz zur Theatralisierung von Politik hat, wie der Politikwissenschaftler Thomas Meyer schon vor Jahren feststellte, auch die mediale Öffentlichkeit in Deutschland fest im Griff. Folgerichtig prägten Personalisierung, individuelle Schwächen der Kandidatin und der Kandidaten sowie reale oder vermeintliche Intrigen und Skandale die Wahlkampf-Berichterstattung. Fettnäpfchen-Laschet lacht an der falschen Stelle, Baerbock schreibt ab, Söder spinnt Intrigen, Habeck übt sich in Distanz zur grünen Co-Vorsitzenden und Lindner ist überall. Die Linkspartei kommt hingegen gar nicht vor, es sei denn, Sahra Wagenknecht liefert in Talkshows ein weinerliches Zerrbild ihrer eigenen Partei.
Es ist diese personalisierende und mitunter auch verzerrende Öffentlichkeit, die definiert, wer regierungsfähig ist und wer nicht. Ihr gelingt es, große politische und gesellschaftliche Fragen in geradezu serieller Monotonie ins Halbbedeutsame des politischen Tagesgeschäfts zu übersetzen. Und wie selbstverständlich gehört es zum journalistischen Repertoire, eine junge Frau und Grünen-Politikerin, die Kanzlerin werden möchte, beim geringsten Fehler gnadenlos niederzuschreiben. Der Medienmarkt, seine Regeln, die Einschaltquoten, Twitter-Accounts und die Resonanz im Netz bestimmen mehr und mehr die Themen, die Qualität der Berichterstattung, die Formate von Sendungen – kurzum: Sie entscheiden darüber, was eine Nachricht ist und was nicht, was in die Öffentlichkeit gehört und was nicht, was gesendet wird und was nicht.
Dies geschieht selbstverständlich nicht in jenem trivialen Sinne, den Verschwörungsmythen unterstellen. Die Milliardäre, die Zeitungen und Privatsender finanzieren, müssen nicht zum Telefon greifen, um Journalistinnen zu instruieren. Die Formierung der öffentlichen Meinung erfolgt weitaus subtiler. Man kann von der Redaktionslinie abweichen – 10 Prozent nach links, 10 Prozent nach rechts. Ein Mehr an oppositionellem Geist hat jedoch zumeist keine Chance, denn er schadet, wie Zeit-Redakteur Bernd Ulrich anschaulich beschrieben hat, der persönlichen Anerkennung und dem Gehörtwerden in der internen Hierarchie.
Daraus ergibt sich als erste Schlussfolgerung, dass sich strategisches Handeln, das eine Nachhaltigkeitsrevolution anstrebt, auf diese Spielart von Öffentlichkeit nicht stützen kann und nicht stützen darf. Anschauungsunterricht, wie man es anders machen kann, liefert ausgerechnet die imaginäre Revolte der rechtsradikalen AfD. Die Partei hat deutlich an Stimmen verloren. Dennoch ist sie halbwegs stabil, in Thüringen und Sachsen sogar stärkste Kraft. In den Medien sind Weidel, Meuthen, Höcke und Co. alles andere als beliebt. Die Flügel sind zerstritten und befehden sich aufs Messer. Dennoch oder gerade deshalb hat sich die Partei in der politischen Landschaft der Bundesrepublik festgesetzt.
»Es ist diese personalisierende und mitunter auch verzerrende Öffentlichkeit, die definiert, wer regierungsfähig ist und wer nicht.«
Mit Gespür und Kalkül verstoßen die Rechtsradikalen regelmäßig gegen den medialen Konsens. Sie leben vom Tabubruch und vielfach von einer gezielten Zerstörung wissenschaftlich fundierter Vernunft. Während Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in übergroßer Mehrzahl immer eindringlicher vor den Auswirkungen der ökonomisch-ökologischen Zangenkrise warnen, leugnet oder relativiert die AfD den Klimawandel, plädiert für die ungehinderte Weiterführung des Braunkohlebergbaus und sieht eine Zukunft für den Verbrennungsmotor, obwohl sich alle relevanten Autokonzerne längst anders entschieden haben.
Selbstverständlich müssen sich demokratische Öffentlichkeiten einer solchen Zerstörung von Vernunft entgegenstemmen. Dies in Rechnung gestellt, gilt dennoch, dass der erneute Strukturwandel von Öffentlichkeit schon bei der strategischen Anlage progressiver Politik Beachtung finden muss. Dazu gehört die Erkenntnis, dass man auf Wahlumfragen und vermeintlich sichere Prognosen nicht bauen darf. Die demokratische Öffentlichkeit ist zutiefst fragmentiert. In ihrer Gesamtheit sind die zahlreichen Suböffentlichkeiten innerhalb wie außerhalb des Internets längst stärker als die sogenannten Leitmedien. Was FAZ, SZ, Taz, Zeit und selbst den Freitag oder die Blätter für öffentlichkeitsrelevant halten, erreicht den Demos in seiner großen Mehrheit schon lange nicht mehr.
Dass fragmentierte Öffentlichkeiten so wirken wie sie wirken, hängt eng mit den politischen Akteuren zusammen. Sie alle bleiben – die Linkspartei eingeschlossen – hinter den Anforderungen einer Nachhaltigkeitsrevolution oder auch nur eines »Naturkapitalismus« (Ernst Ulrich von Weizsäcker) zurück. Zwar hat es im Vorfeld der Wahl nicht an Nachhaltigkeitstalk gefehlt. Sieht man von der radikalen Rechten ab, konnte es sich keine Partei leisten, den Klimawandel und die Nachhaltigkeitsziele zu ignorieren. Doch was an Wegen zur Zielerreichung angeboten wird, vermag kaum zu überzeugen.
Das gilt zuerst für die Unionsparteien, die bei der Bewältigung des Klimawandels vor allem auf Markt und Technik setzen. Nachhaltigkeitsziele seien nur mit einer größeren Technologieoffenheit zu erreichen, »die allein der Markt fruchtbar machen« könne, argumentiert beispielsweise der konservative Vordenker Wolfgang Schäuble. Die politische Marktoption setzt darauf, künstlich zu verknappen, was einstmals im Überfluss vorhanden war. Das geschieht, indem CO2-Äquivalente einen Preis erhalten. Der Emissionshandel, gegebenenfalls auch eine CO2-Steuer, werden zum Hauptinstrument, um den menschengemachten Klimawandel zu bekämpfen.
Ein Problem ist, dass diese auch in ihrer Wirksamkeit umstrittenen Instrumente (Kompensationsgeschäfte ermöglichen keinen Weg zu negativen Emissionen) sozial blind sind. Selbst wenn eine CO2-Steuer mit Ausgleichszahlungen wie einem Klimageld verbunden ist, werden die kleinen Geldbörsen stärker belastet als die großen. Das führt zu geringer gesellschaftlicher Akzeptanz der Maßnahmen, sozialer Protest ist vorprogrammiert. Klimapolitik »fürs Volk« lässt sich eben nur machen, wenn ökologische und soziale Nachhaltigkeit gleich gewichtet werden. Marktmechanismen reichen offenkundig nicht aus, um das Problem der Klimagerechtigkeit tatsächlich zu lösen. Dafür gibt es in den Unionsparteien kein wirkliches Sensorium.
Erschwerend kommt hinzu, dass die Partei tief gespalten ist und auch mit ihrem Personal nicht überzeugt. Die CDU hatte im kleinen Thüringen nicht nur den Rechtsaußenpolitiker Maaßen als Direktkandidaten nominiert, auch verkörpert der Schatten-Spitzenkandidat Friedrich Merz, bei den Ostverbänden der Union besonders beliebt, ein Zurück zum wirtschaftspolitischen Marktradikalismus. Die Politik, die der Blackrock-Lobbyist als zukunftsfähig verkauft, bleibt aus der Perspektive eines ideellen Gesamtkapitalisten weit hinter den Erfordernissen einer tragfähigen Post-Corona-Agenda zurück. Sie legt die Union auf Positionen fest, die selbst in der Wirtschaft auf Ablehnung stoßen und im imperialen Kräftemessen zwischen China und den USA in die Isolation führen müssen.
Dogmatisches Festhalten an »schwarzer Null« und »Schuldenbremse« sind nicht mehr zeitgemäß und fallen weit hinter das zurück, was BDI und DGB in einem gemeinsamen Positionspapier fordern – ein deutliches Mehr an öffentlichen Investitionen. Diese müssen laut BDI mindestens einen halben Prozentpunkt der Wirtschaftsleistung betragen, wobei die Investitionen in den Klimaschutz noch gar nicht eingerechnet sind. Der Staat wird daher auch aus der Kapitalperspektive künftig eine aktive wirtschaftliche Lenkungsfunktion ausüben müssen – und diese ist zu finanzieren. Mit Marktradikalismus und Finanz-Lobbyismus lässt sich das nicht gewährleisten.
Für die Technikoption, die vor allem die Liberalen für sich reklamieren, gilt ähnliches, denn diese Strategie setzt die Akzente nur ein wenig anders als die Marktoption. Marktmechanismen werden mit lautstarken Plädoyers für schöpferische Zerstörung verbunden. Beschleunigter digitaler und technologischer Wandel soll die Wende zur Nachhaltigkeit ermöglichen. Das entspricht dem Denken eines Elon Musk oder eines Bill Gates. Beide stehen für einen Solutionismus, also für eine Ideologie, die in unternehmerischer Kreativität, technischen Innovationen und einer Berücksichtigung des Gesetzes von Angebot und Nachfrage die Lösung für jedes Weltproblem sieht.
Der Staat wird auch bei einer technologiezentrierten Politik durchaus gebraucht – als Finanzier von Forschung und Entwicklung, Anreger für und Nachfrager von Innovationen, sprich: als wirtschaftsnaher Helfer beim radikalen Strukturwandel. Eine Wende zur Nachhaltigkeit kann aber nicht allein darin bestehen, dass sich der technologische Wandel beschleunigt, während gesellschaftlich alles weitgehend so bleibt, wie es ist. Wir fahren dann eben mit dem Elektroauto, verfügen über synthetische Kraftstoffe, essen aus Pflanzen hergestelltes Fleisch, bauen mit emissionsfreiem Zement, verarbeiten klimaneutralen Stahl, lassen die Welt aber im Großen und Ganzen so, wie sie ist. Das ist ein Wechsel auf die Zukunft, der sich nicht einlösen lässt, weil die systemischen Treiber des »Immer mehr und nie genug« – allen voran eine auf permanente Landnahmen, das heißt auf Wachstum, Marktexpansion und Gewinnsteigerung ausgerichtete Wirtschaft – fortbestehen.
»Ohne staatliche Lenkung und Finanzierung von Investitionen ist eine Wende zur Nachhaltigkeit nicht zu haben.«
Die Staatsoption, wie sie die Sozialdemokratie und die Grünen vertreten, lässt den Marktmechanismen vor allem im Bereich der kleineren und mittleren Unternehmen Raum. Sie steht ebenfalls für eine Beschleunigung des sozialökologischen und digitalen Wandels, setzt jedoch aktiv und konzeptuell auf eine intelligente Lenkungsfunktion des Staates. Zwecks Finanzierung schließt sie eine Umverteilung von oben nach unten nicht völlig aus. Dieser Ansatz bricht mit der Vorstellung, der Staat sei in jedem Fall der schlechtere Unternehmer. Stattdessen beherzigt er das Credo der Star-Ökonomin Mariana Mazzucato, wonach geradewegs das Gegenteil zutrifft. Selbst die vermeintlich größte Stärke des Kapitalismus, seine Innovationsfähigkeit, die im Modus schöpferischer Zerstörung vorgeht, hängt demnach von den Interventionen und Ressourcen eines steuernden Staates ab. Ohne staatliche Unterstützung wäre im historischen Rückblick keine der großen Sprunginnovationen und der dazu nötigen Forschungen überhaupt möglich gewesen. Der Staat muss deshalb »zu jeder Zeit im Konjunkturzyklus die Rolle eines echten Tigers spielen«, während die Unternehmen nur die Rolle von »Hauskatzen« einnehmen.
Staatsinterventionismus schöpft jedoch aus gesellschaftlichen Ressourcen. Das heißt die Gesellschaft muss einen immer größeren Teil ihrer Arbeitsvermögen und Zeitressourcen aufwenden, um die kapitalistische Produktionsweise mit großen Unternehmen am Leben zu erhalten und sie, so möglich, auf soziale und ökologische Nachhaltigkeitsziele zu verpflichten. Ohne staatliche Lenkung und Finanzierung von Investitionen ist eine Wende zur Nachhaltigkeit nicht zu haben. Doch aufgrund vielfältiger Verflechtungen von Staat und oligopolitischer Wirtschaft mit ihren proprietären, das heißt unter anderem von Wissensmonopolen abhängigen Märkten, greift auch dieser Ansatz zu kurz. Denn bloße Staatsintervention ist für sich genommen kaum in der Lage, Rent-Seeking-Strategien zu durchkreuzen, mit deren Hilfe Großunternehmen das eigene Einkommen zulasten des Einkommens anderer Marktteilnehmer steigern.
Hinzu kommt eine industriepolitische Fantasielosigkeit staatlicher Apparate und Behörden, die über Jahrzehnte hinweg an dem Leitsatz ausgerichtet waren, dass Wirtschaft eben in der Wirtschaft stattzufinden habe. Die Durchsetzung ambitionierter Dekarbonisierungsziele ist mit schwerfälligen Behörden, die im Routinemodus erstarren, kaum zu machen. Der neue Staatsinterventionismus bei der SPD und den Grünen wird darüber hinaus nicht konsequent im Sinne einer Marianna Mazzucato interpretiert.. Nicht einmal der wirtschafts- und finanzpolitische Paradigmenwechsel ist gesichert, denn auch Olaf Scholz will zurück zur Schuldenbremse.
Und dann wäre da noch die FDP. Ihre Verbotsschilder lauten: keine Steuererhöhungen, keine Umverteilung zugunsten unterer Klassen und sozialer Peripherie, keine nationalen Alleingänge bei der Energiepolitik und dem Klimaschutz, keine Subventionierung erneuerbarer Energien, keine Anhebung des Mindestlohns, keine »Bürokratisierung« durch Sozial- und Umweltstandards und so weiter. Mit anderen Worten: Die FDP ist die eigentliche Verbotspartei und liefert als Koalitionspartner Sprengstoff für jede Spielart von Nachhaltigkeitspolitik. Deshalb steht eine Regierung aus Sozialdemokratie, Grünen und Liberalen – so sie denn zustande kommt – politisch auf einem unsicheren Fundament.Nachhaltigkeitspolitik wird sie in erster Linie mit marktkonformen Mitteln betreiben müssen, denn vom Technologie-Fokus abgesehen ist unter den drei Parteien nur das wirklich konsensfähig.
Wozu die Marktzentrierung bei der Umsetzung von Nachhaltigkeitszielen führen kann, zeigen nicht nur die Gelbwestenproteste in Frankreich oder Wählerstimmen für rechtsradikale Klimaleugner. In der Schweiz, die bereits über CO2-Steuer samt Sozialausgleich verfügt, scheiterte im Juni 2021 eine Volksabstimmung zu einer Gesetzesvorlage, die den Emissionshandel stärken wollte und von der Regierung, dem Parlament sowie dem Gros der Umweltverbände befürwortet wurde. Der Gesetzentwurf stieß bei einer knappen Mehrheit der Bevölkerung auf Ablehnung. Aus Sicht der Schweizer Ökologiebewegungen und auch eines Großteils des politischen Mitte-Links-Spektrums ist das ein schwerer Schlag, der nach strategischer Neuorientierung verlangt. Denn es hat sich gezeigt, dass die unteren Klassen von der ökologischen Transformation schwer zu überzeugen sind, wenn vor allem die ohnehin am wenigsten Privilegierten den Gürtel enger schnallen sollen.
Ob wir in Deutschland ähnliches erleben werden, ist ungewiss. Derzeit gibt es hierzulande nicht einmal eine CO2-Steuer, geschweige denn einen sozialen Ausgleich. Dennoch sind die Folgen der Transformation auch wegen der Folgen der Corona-Krise längst spürbar: Die Preise für Benzin und Heizöl haben deutlich angezogen. Weil auch die Mieten steigen, schrumpft der frei verfügbare Einkommensanteil in der unteren Hälfte der Haushalte erheblich. Damit wird die Bekämpfung des Klimawandels ebenso wie die Realisierung ökologischer Nachhaltigkeitsziele allgemein mehr und mehr zu einem Gerechtigkeitsproblem.
Zwar wurden EU-weit seit 1990 rund 25 Prozent der Emissionen eingespart, doch dies ist ausschließlich das Verdienst einkommensschwächerer Haushalte. Während die Emissionen des reichsten Prozents der Haushalte zwischen 1990 und 2015 um 5 Prozent und die des einkommensstärksten Dezils um 3 Prozent gestiegen sind, haben sie bei der ärmeren Hälfte der Haushalte um 34 Prozent und bei den 40 Prozent mit mittleren Einkommen im gleichen Zeitraum um 13 Prozent abgenommen. In Deutschland verursachten die reichsten 10 Prozent der Haushalte 26 Prozent der Emissionslast; die untere Hälfte war für 29 Prozent der Emissionen verantwortlich. Während das reichste Prozent nichts einsparte, reduzierte die untere Hälfte ihre Emissionen um ein Drittel. Bei den 40 Prozent der Haushalte mit mittleren Einkommen betrugen die Einsparungen immerhin 12 Prozent.
Auch zwischen den europäischen Staaten ist die Emissionslast höchst ungleich verteilt. Allein die einkommensstärksten Haushalte von vier reichen Mitgliedstaaten (Deutschland, Italien, Frankreich, Spanien; gemeinsam gehören zu diesen Haushalten rund 28,8 Millionen Menschen) emittieren mehr als die Bevölkerung von sechzehn ärmeren EU-Mitgliedstaaten.
»Nur die zumeist erzwungene Tatsache, dass die unteren Klassen ihren Gürtel wegen sinkender Einkommen enger schnallen müssen, ermöglicht den Oberklassen ihre verschwenderischen Lebensstile.«
Zugespitzt formuliert bedeutet dies, dass die Produktion von Luxusartikeln für die oberen Klassen und deren Konsum zu einer Haupttriebkraft des Klimawandels geworden sind, unter dessen Folgen europa- und weltweit vor allem die ärmsten Bevölkerungsgruppen zu leiden haben. Mehr noch, der häufig erzwungene Verzicht unterer Einkommensgruppen bringt den wachsenden Anteil des einkommensstärksten oberen Zehntels der europäischen Bevölkerung im statistischen Mittel zum Verschwinden.
Weltweit fällt die Klimaungerechtigkeit noch weit drastischer aus. Um es ganz deutlich zu sagen: Nur die zumeist erzwungene Tatsache, dass die unteren Klassen ihren Gürtel wegen sinkender Einkommen enger schnallen müssen, ermöglicht den Oberklassen ihre verschwenderischen Lebensstile. Deshalb ist der Kampf gegen Klimawandel und ökologische Zerstörung stets auch einer zugunsten der Armen und Benachteiligten. Dies allerdings nicht in einem Sinne, der soziale Gerechtigkeit zu einer Vorbedingung von Nachhaltigkeit machen würde, ohne die zerstörerische Wirkung ökologischer Destruktivkräfte wirklich ernst zu nehmen. Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Klimawandel und Ressourcenverschwendung müssen bekämpft werden, um die Lage der Ärmsten nicht noch unerträglicher zu machen.
Diese Problematik öffentlich zu machen, ist die vornehme Aufgabe und der zukunftsträchtige Treibsatz linker, sozialistischer Politik. Eine Partei Die Linke als drängende Vorkämpferin für eine Nachhaltigkeitsrevolution, die ökologische Ziele konsequent mit sozialen verbindet, hätte im Wahlkampf aller Hindernisse zum Trotz sehr gut bestehen können. Als vorwärtstreibende Kraft der Transformation hätte sie überzeugend darstellen können, warum sie sich zu gesellschaftlichen Verhältnissen, die große Teile der Menschheit in den Abgrund befördern, konsequent oppositionell verhält. Und sie hätte dennoch darauf bestehen müssen, auch die kleinste Chance zu dringend nötigen Veränderungen – so möglich – in der Regierungsverantwortung wahrzunehmen. Die Stützung einer rot-grünen Minderheitsregierung wäre eine taktische Option gewesen.
Dazu ist es nicht gekommen. Von einer ökosozialistischen Kraft, die sich an die Spitze einer Nachhaltigkeitsrevolution setzt und auf radikalen gesellschaftlichen Wandel drängt, war in den fragmentierten Öffentlichkeiten nichts zu sehen und nichts zu hören. Entscheidend für eine große Ausstrahlungskraft gegenhegemonialer Öffentlichkeiten ist, dass die kommunizierenden Akteure Überzeugtheit und Glaubwürdigkeit vermitteln. Dies kann nur gelingen, wenn die politischen Kernbotschaften mit einer Stimme vorgetragen werden. Nur dann kann konstruktive Dissonanz dazu beitragen, dass oppositionelle Stimmen interessant klingen und deshalb über Lagergrenzen hinweg Gehör finden.
Im Falle der Linkspartei war und ist nichts davon vorhanden. Wenn die ehemalige Fraktionsvorsitzende Wagenknecht ihrer Partei öffentlich vorhält, die einfachen Leute zu verraten, und sie dennoch zur Listenführerin des größten Bundeslandes gewählt wird, um sich anschließend mit einem Antrag auf Parteiausschluss konfrontiert zu sehen, gibt es nicht die geringste Chance, auch nur die parteinahen Suböffentlichkeiten von den eigenen politischen Botschaften zu überzeugen. Eine solche politische Kraft gilt – zurecht – als unglaubwürdig und unseriös. Das Wahlprogramm mag dann noch so gut und vernünftig sein, es findet kein Gehör. Das ist fatal, weil es eine Kernaufgabe der Linkspartei gewesen wäre, den großen Zukunftsfragen gebührende Öffentlichkeit zu verschaffen und sie so zu Wahlkampfthemen und zu Kriterien für die Stimmabgabe zu machen.
Ohne Zweifel hat das neue Frauenduo an der Spitze engagiert gekämpft, ebenso wie viele Parteimitglieder an der Basis. Doch Sahra Wagenknechts Talk-Show-Attacken hatten sie allenfalls den zwangslosen Zwang des besseren Arguments im Straßenwahlkampf entgegenzusetzen. Oskar Lafontaines Aufruf, Die Linke im Saarland nicht zu wählen, könnte schließlich jenes Zehntel der Stimmen gekostet haben, das der Partei zum Erreichen der Fünf-Prozent-Marke fehlt. Doch auch ohne derart selbstzerstörerische Praktiken schreckt Wagenknechts Ansatz, Sozialpolitik mit Migrationskritik zu verbinden und damit in etwa dem Kurs der dänischen Sozialdemokratie zu folgen, engagierte Linke ab. Für nahezu alle in und außerhalb der Linkspartei, die sich in antirassistischen Bewegungen, Fraueninitiativen, im ökologischen Spektrum, aber auch in den Gewerkschaften engagieren, ist eine solche Orientierung ein No-Go. Zur Wahrheit gehört freilich auch, dass die Kritik, die Wagenknecht und Lafontaine aus den eigenen Reihen entgegenschlug, mit der Bezeichnung »unsolidarisch« eher schöngefärbt ist.
Man muss es offen aussprechen: Als sozialistische Sammlungsbewegung ist die Partei gescheitert. Schlimmer noch, es regiert die Hermeneutik des Verdachts. Wer auch nur andeutet, die imaginäre Revolte der radikalen Rechten habe etwas mit sozialen Verwerfungen zu tun, sieht sich sogleich mit dem Vorwurf der Rassismusverharmlosung konfrontiert. Umgekehrt heißt es, Plädoyers für ein offenes Migrationsregime ignorierten Alltagssorgen, mit denen sich »einfache Leute« auch in reichen Gesellschaften herumzuplagen hätten.
Bei den Auseinandersetzungen um den ökologischen Gesellschaftskonflikt verhält es sich ähnlich. Üben sich die einen in der Kritik einer imperialen Lebensweise, die Herrschende und Beherrschte reicher Gesellschaften als Beutegemeinschaften zur Ausplünderung ärmerer Länder versteht, verschanzen sich die anderen hinter den Grenzen nationaler Wohlfahrtsstaaten, weil sie annehmen, dass Politik zugunsten der Benachteiligten nur innerhalb dieser Arena möglich sei. Zwischentöne sind da nur Krampf im gegenseitigen Abwertungskampf. Weil wechselseitige Kritik nicht konstruktiv wird und die gegenseitigen Umgangsformen alles andere als solidarisch sind, tendiert die Partei zur Politikunfähigkeit.
Ein weiteres Beispiel ist die Außenpolitik und konkret die Evakuierung aus Kabul. Die Linkspartei war als einzige politische Kraft gegen den Militäreinsatz, den zunächst SPD und Grüne verantworteten. Es hat nie eine Evaluation dieses Militäreinsatzes gegeben. Eigentlich hätte Die Linke alle anderen Parteien vor sich hertreiben und Grundfragen aufwerfen können. Sie beraubte sich dieser Chance, weil sie sich bei der Abstimmung über ein robustes Mandat zum bewaffneten Schutz der Luftbrücke im Parlament mehrheitlich enthielt. Was hätten die Soldaten in Kabul tun sollen? Sich Terroristen in akten friedlichen Ungehorsams entgegenstellen? Die mehrheitliche Enthaltung war ein schwerer politischer Fehler, der fortan den Diskurs bestimmte. Dabei geriet in Vergessenheit, dass allein die Regierung Merkel die Verantwortung für die späte Evakuierung von Menschen trägt, deren Leben die Taliban bedrohen. Am Beispiel Kabul zeigt sich einmal mehr, dass innerhalb der Linkspartei politische Grundfragen nicht geklärt sind.
»Die Linkspartei wird sich die Existenzfrage stellen müssen.«
Statt als Mosaiklinke zusammenwirken, in der viele kooperierende Strömungen ihren Platz haben, wirkt die Partei nach außen wie eine Ansammlung zerstrittener Sekten, die sich im Alleinbesitz ewiger Wahrheiten wähnen. Weil das so ist, schlagen strukturelle Probleme auf das Wahlergebnis durch. Im Osten Deutschlands ist die Wählerschaft überaltert; die Zugewinne unter jungen Leuten in großen Städten können die Verluste nicht kompensieren.
Häme gegenüber der jeweils anderen Strömung ist dennoch fehl am Platz. So ist die Schwäche der Linkspartei bei Arbeiterinnen und Arbeitern ebenso wie bei Gewerkschaftsmitgliedern ist ein reales Problem. Eine Rückholung von Wagenknecht oderLafontaine stellt freilich keine Lösung dar. Das Scheitern von und der verantwortungslose Umgang mit »Aufstehen« – einer politischen Initiierung, der jegliche gewerkschaftliche Verankerung fehlte – sollte eine Warnung sein.
Dass Die Linke sich neu erfinden muss, ist ein schöner Satz. Die Frage ist nur, mit welchem Ziel. Eine sozialistische Kraft muss anerkennen, dass die reformpolitische Ausstrahlungskraft von SPD und Grünen bis tief in ihre eigenen Reihen reicht. Die Formierung einer Ampelkoalition wird daran zunächst nicht viel ändern. Im Gegenteil, auch eine sozialistische Linke hat angesichts schrumpfender Zeitbudgets für die Wende zu Nachhaltigkeit Interesse daran, durch den Druck von sozialen Bewegungen und Gewerkschaften möglichst viel an sinnvollen »Reformen von oben« zu erzwingen.
Dies vor Augen, wird sich für die Linkspartei die Existenzfrage stellen. Als eigenständige politische Formation hat sie nur dann eine Zukunft, wenn sie – glaubwürdig und lebensnah – deutlich macht, dass eine Nachhaltigkeitsrevolution allenfalls erfolgreich sein kann, sofern mit der Zangenkrise zugleich der Kapitalismus überwunden wird. Der Soziologe Andreas Reckwitz hat im Spiegel die Frage aufgeworfen, ob eine Politik, die sich allein auf Negatives, auf Dystopien gründet, dauerhaft zukunftsfähig sein kann. Die Antwort einer sozialistischen Linken muss ein klares »Nein« sein.
Deshalb ist der erste Schritt zur Neuerfindung einer ausstrahlungsfähigen Linken, dass das Ziel einer sozialistischen Gesellschaft präzise beschrieben und mit neuem Inhalt gefüllt wird. Die Erstarrung und mitunter auch Pervertierung marxistischer Sozialismusvorstellungen in repressiven staatsbürokratischen Systemen hat – ebenso wie der Zusammenbruch dieser Herrschaftsvarianten und der Verschleiß konkurrierender sozialdemokratischer Konzeptionen – dazu geführt, dass Sozialismus heute wieder zur Utopie werden muss, um gesellschaftlich attraktiv zu wirken.
Gänzlich falsch wäre es, dies als bloßen Rückschritt zu deuten. Die Sozialismen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts waren Kinder der ersten industriellen Revolution. Die Sozialismen des 21. Jahrhunderts werden ebenfalls Kinder einer Produktivkräfte-Revolution sein, die sich nun aber unter völlig anderen Vorzeichen vollzieht als ihr historischer Vorläufer. Sozialistische Ideen des 21. Jahrhunderts müssen – so meine These – ihre Überzeugungskraft aus der Notwendigkeit einer Nachhaltigkeitsrevolution beziehen.
Sie ergeben sich zumindest in den frühindustrialisierten Ländern aus der Kritik von Überproduktivität. Zwar rebellieren auch sie gegen die Herrschaft des Kapitals, doch das nicht allein wegen der Ausbeutung von Lohnarbeit. Die Sozialismen des 21. Jahrhunderts präsentieren sich als Alternative zu einem Imperialismus gegen die Natur, sie attackieren die Ökonomie der billigen Güter und mit ihr die Abwertung reproduktiver Tätigkeiten; und sie beanspruchen, gleichgewichtig mit der Beseitigung von Klassenherrschaft eine Überwindung aller patriarchalisch, rassistisch oder nationalistisch legitimierten Herrschaftsmechanismen anzustreben. Aus der Perspektive gesellschaftlicher Naturverhältnisse beinhalten sie aber vor allem die Suche nach einem Notausgang, nach Auswegen aus einer epochalen ökonomisch-ökologischen Zangenkrise, die das Überleben menschlicher Zivilisation berührt.
Gerade deshalb sind nachhaltig-demokratische Sozialismen immer auch Befreiungsprojekte. Sie entbinden Menschen von den Zwängen des »Immer mehr und nie genug!«. Das Fundament einer künftigen sozialistischen Gesellschaft bilden transformative Rechtsverhältnisse, die Nachhaltigkeitszielen einen Verfassungsrang geben; kollektives Selbsteigentum an und in großen Unternehmen; kooperative Marktwirtschaft mit kleineren Unternehmen; die Eckpfeiler von Wirtschaftsdemokratie; Produktionsweisen mit langlebigen Gütern; ein neues Verhältnis von Markt und Plan sowie Nachhaltigkeits- und Transformationsräte als Innovationen im politischen System. Dies können tragende Bausteine für das sozioökonomische Fundament nachhaltig-sozialistischer Gesellschaften sein.
»Sozialismus im 21. Jahrhundert ist ein gradueller Politikansatz.«
Wenn von Bausteinen für ein solches Fundament die Rede ist, soll mit ihnen aber kein Gebäude errichtet werden, das, einmal fertiggestellt, für alle Ewigkeiten Bestand hat. Nachhaltiger Sozialismus benötigt ein robustes, krisenfestes Fundament. Darauf wird jedoch beständig um- und neugebaut. Nachhaltig-demokratischer Sozialismus ist der Begriff für eine Gesellschaft, die, zumal bei der Reproduktion außermenschlicher Natur, in ständiger Bewegung ist. Vom Kapitalismus unterscheidet sie vor allem, dass anstelle des Gewinnstrebens soziale Bedürfnisse, Kooperation, kollektives Lernen und solidarische Sozialbeziehungen die Dynamik bestimmen.
Diese Bewegungsform entsteht bereits unter kapitalistischen Bedingungen. Sie bricht sich überall dort Bahn, wo Strategien sozialistischer Handlungsfähigkeit ökonomisch-politische Kapitalmacht einschränken. Was als Bewegung gegen die Grundregel kapitalistischer Vergesellschaftung – den systemischen Zwang zu permanenten Landnahmen – beginnt, kann in einer sozialistischen Gesellschaft institutionalisiert und veralltäglicht werden. Eine zur Utopie fähige sozialistische Linke wird – die Konturen einer besseren, lebenswerten Gesellschaft vor Augen – Fragen von Strategie und Taktik intensiv diskutieren, aber niemals zu »Alles oder nichts«-Entscheidungen aufbauschen. Sie wird sich der Tatsache bewusst sein, dass nicht die eine, sondern viele Strategien sozialistischer Handlungsfähigkeit zum Ziel führen. Deshalb kann sie Strömungsrivalitäten mit Gelassenheit austragen, in Grundfragen mit einer Stimme sprechen und so gesellschaftlich Gehör finden.
Gut möglich, dass eine solche Linke auch an eingeschliffenen Parteigrenzen rüttelt, denn die alte Scheidelinie zwischen »reformistischer« und »revolutionärer« Linker ist unter den Bedingungen der Zangenkrise überflüssig. Sozialismus im 21. Jahrhundert ist ein gradueller Politikansatz. Alle Kräfte, die unter Bezeichnungen wie demokratische Postwachstumsgesellschaft, Gemeinwohlökonomie, Gesellschaft der Commons und so weiter nach einer Alternative zum Wachstumskapitalismus suchen, sind ihre natürlichen Verbündeten. Das unterscheidet eine sozialistische Formation von den systemaffirmativen Mehrheiten bei Grünen und SPD. In den Klimabewegungen, aber auch in den Gewerkschaften, den Umweltverbänden, bei antirassistischen und Frauenbewegungen kann ein ökologischer Sozialismus eine große Anhängerschaft finden. Darin, das zu erkennen, liegt die Chance, den Niedergang der Linkspartei zu einem produktiven Scheitern zu machen.
Klaus Dörre ist Professor für Arbeits-, Industrie- und Wirtschaftssoziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena.
Klaus Dörre ist Professor für Arbeits-, Industrie- und Wirtschaftssoziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena.