13. August 2020
Mit der Ernennung von Olaf Scholz zum Kanzlerkandidaten setzt die SPD-Parteilinke auf eine Strategie, die scheitern wird.
Sie kamen, um die Partei zu retten – und kürten dann einstimmig Olaf Scholz zum SPD-Kanzlerkandidaten. Nach nur acht Monaten ist die Eskabolation vorbei.
Man war sichtlich bemüht, die Choreographie der Pressekonferenz an der angestrebten Geschlossenheit auszurichten. Olaf Scholz in der Mitte des Tisches, rechts von ihm Norbert Walter-Borjans, links Saskia Esken. Tatsächlich wirkte es wie ein unbeholfenes Tennisspiel zwischen den beiden Parteivorsitzenden. Geschlagene 15 Minuten seichter Schlagabtausch, ehe der Schiedsrichter Scholz das Wort ergriff, die Zielmarke für die Bundestagswahl bei 20 Prozent ansetzte und die Union in die Opposition zu schicken versprach. Nicken bei den Parteivorsitzenden. Das Spiel war entschieden.
Viel war in den letzten Monaten bereits darüber spekuliert worden: Sollte nicht bald ein Kanzlerkandidat der Sozialdemokraten gekürt werden, angesichts des schaulaufenden Konkurrenten Markus Söder (CSU) und vor allem nach dem angeblich viel zu kurzen Wahlkampf des Martin Schulz vor drei Jahren?
Die SPD wollte daraus lernen und schneller sein – vor allem aber: geschlossener auftreten als alle anderen. Die Parteivorsitzenden Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans gaben der Machtarithmetik nach, die sie noch beim Mitgliederentscheid zu ihren Gunsten verändern zu können hofften. Genauer gesagt: Sie gaben auf.
Was war seit der Stichwahl zum Parteivorsitz geschehen? Hatten nicht gerade acht Monate zuvor die Mitglieder erstmalig ein Duo direkt gewählt und sich dabei für einen linkeren Kurs entschieden? Anflüge der Erneuerung waren zu spüren, zumindest der Versuch hätte unternommen werden können. Kaum ein Parteivorsitzender vor ihnen hatte ein stärkeres Mandat von der Basis, zudem die volle Unterstützung der Parteijugend, die Zukunft also auf ihrer Seite. »In die neue Zeit« versprachen die beiden vollmundig auf dem Parteitag im letzten Jahr.
Doch schon damals zeichnete sich ab, wie vorsichtig das neue Duo agieren würde. Walter-Borjans verzichtete schon vor seinem Sieg darauf, Scholz als Finanzminister zu beerben. Dabei hätte er das aus machttaktischen Gründen und aufgrund seiner eigenen Expertise beinahe zwangsläufig tun müssen. Man wolle aber gemeinsam in die neue Zeit gehen, nicht gegeneinander. Insofern ist nun auch die Nominierung des Kanzlerkandidaten Scholz nicht wirklich überraschend.
Hoffnungen wurden dennoch in das Parteivorsitzenden-Duo gesetzt. Gerade Saskia Esken hatte immer wieder mit kleineren Ausbrüchen überrascht, etwa als sie die Polizeistrategie bei Demonstrationen kritisierte, was sie jedoch nach heftigen Reaktionen der Polizeigewerkschaft sowie aus den eigenen Reihen wieder zurücknahm. Auch bekannte sie sich öffentlich zum demokratischen Sozialismus, ihr Kommunikationsstil offen heraus und oft überraschend warm und menschlich, was der Parteilinken immer wieder Anlass gab, ihre Projektion einer Linkswende aufrechtzuerhalten. Besonders diese Unterstützerinnen und Unterstützer des Duos sind daher nun enttäuscht: Monate lang rieb man sich auf, nur um jetzt doch wieder bei Scholz zu landen.
Die Parteivorsitzenden scheiterten an den Grenzen ihrer eigenen Partei und nicht zuletzt an sich selbst. Das war bereits am holprigen Wahlkampf zu erkennen. Sie gewannen nicht aus eigener Stärke, sondern aufgrund der Schwäche der anderen. Danach versäumten sie es, eigene Unterstützerinnen und Unterstützer aus dem Wahlkampf mit in das Willy-Brandt-Haus zu holen und wichtige Positionen mit ihnen zu besetzen – oder gar eine Personalalternative zu Scholz für die Kanzlerkandidatur vorzubereiten. Sie konnten weder die Mehrheit der Basis, die sie ja sicher hatten, weiter mobilisieren noch programmatische Punkte setzen. Die Macht verteilte sich dezentral auf andere Personen in der Fraktion, der Regierung, dem Willy-Brandt-Haus. Nicht zuletzt wieder zurück auf Olaf Scholz, der nur ausharren musste, bis sich eine zweite Chance ergab.
An der britischen Labour-Party ließ sich ähnliches beobachten. Dort verunglimpfte der rechte Parteiflügel den linken Anführer Jeremy Corbyn solange, bis dieser scheiterte, obwohl er eine Bewegung junger, neu in die Partei eingetretener Sozialistinnen und Sozialisten im Rücken hatte. Sicher sind die beiden Parteien nicht in jeder Hinsicht zu vergleichen, doch die Machtkämpfe funktionieren in der umkämpften Sozialdemokratie (und in anderen Parteien) doch ähnlich. Walter-Borjans und Esken waren schlicht nicht auf die harte und mühselige Kärrnerarbeit einer programmatischen und personellen Wende vorbereitet oder unterschätzten zumindest die Widerstände dagegen.
Gemeinsam mit dem Noch-Juso-Vorsitzenden Kevin Kühnert geben sie sich jetzt der Illusion hin, mit Olaf Scholz gemeinsam einen linken Wahlkampf mit Zukunftsprogramm führen zu können. Kühnert bekräftigte die Lernfähigkeit von Olaf Scholz und verteidigte ihn insofern, als dass auch Scholz sich an das progressive Programm werde halten müssen. Doch das Grundproblem weiß er trotz rhetorischen Geschicks nicht aufzulösen: Olaf Scholz ist die fleischgewordene Agenda-Politik. Er ist der Inbegriff jenes technokratischen Führungsstils, der die SPD jahrzehntelang von innen heraus ausgehöhlt hat. Auch die Falken schreiben deshalb kritisch, dass Person und Programmatik für die notwendige Linkswende zusammenpassen müssen.
Da werden auch kommunikative Finessen wie die »Bazooka« oder der heraufbeschworene »Wumms« nicht helfen. Sie mögen Hauptstadtjournalisten noch überzeugen, auch einige Unions-Wählerinnen und -wähler mag Scholz für einen Mitte-Kurs gewinnen, doch niemals junge Menschen inspirieren oder die alte Wahlbasis der Enttäuschten wieder mobilisieren können. Denn die meisten Menschen erkennen Unglaubwürdigkeit schneller als Olaf Scholz »Europa« sagen kann.
Außerdem hat Olaf Scholz – das wird gern vergessen – noch den Wirecard-Skandal zu verantworten, da die ihm unterstehende Finanzaufsicht den Milliarden-Betrug des Unternehmens und die Geldwäsche nicht aufdecken konnte. Ebenso hängt ihm der Cum-Ex-Skandal nach. Als Hamburger Bürgermeister verantwortete er die Nicht-Verfolgung des Steuerbetrugs der Warburg Bank. Diese Skandale werden ihn einholen, nicht nur als den verantwortlichen Minister, sondern auch als Kanzlerkandidaten, denn auch sie stehen für ein tieferliegendes Problem: Die SPD hatte bereits zu viele Kanzlerkandidaten und Parteivorsitzende, die den Banken näher standen als den Leuten, die »den Laden am Laufen« halten. Seine Loyalität gegenüber letzteren mag Olaf Scholz zwar in der Pressekonferenz aufrichtig beteuern, doch wie viel am Ende der Corona-Krise wirklich bei diesen Menschen ankommt, wird noch zu sehen sein.
Angesichts der sozialen und ökologischen Katastrophen, auf die wir zusteuern, ist die Ernennung von Olaf Scholz ein Schlag ins Gesicht all derer, die sich doch noch eine Wende erhofft hatten. Sie fallen nun in Resignation und die Parteivorsitzenden verlieren die hartnäckige kleine Basis, die sie noch hatten. Der linke Parteiflügel hat sich nicht zusammenraufen können, viel früher hätten linke Bündnisse geschmiedet werden müssen. Nach nur ein paar Monaten kleinster Anzeichen politischer Lebenslust scheint nun wieder der von Oliver Nachtwey beschriebene »Todeswunsch« der Partei durchzubrechen. So wirkt das SPD-Schauspiel der letzten Woche erneut wie eine Tragödie, in der höhere Mächte die Heldinnen und Helden zu Taten verführen, die sie selbst in den Untergang reiten.
Ines Schwerdtner ist seit Oktober 2024 Bundesvorsitzende der Linkspartei. Von 2020 bis 2023 war sie Editor-in-Chief von JACOBIN und Host des Podcasts »Hyperpolitik«. Zusammen mit Lukas Scholle gab sie 2023 im Brumaire Verlag den Sammelband »Genug! Warum wir einen politischen Kurswechsel brauchen« heraus.