30. Oktober 2024
Olaf Scholz ist ein sehr mittelmäßiger Politiker – das meint zumindest sein langjähriger Wegbegleiter Torsten Teichert, der nach 40 Jahren aus Protest die SPD verlassen hat. Wie Scholz trotz seiner zweifelhaften politischen Bilanz Kanzler werden konnte, erklärt er im Interview.
Olaf Scholz am Ufer der Elbe in Hamburg.
Die SPD hat die Weichen für die kommenden Jahre gestellt. Mit Olaf Scholz geht es mit der Entkernung der Sozialdemokratie weiter wie bisher. Umverteilung und Respekt wird im Wahlkampf großgeschrieben und auf der Regierungsbank wieder vergessen. Eine Fortführung dieses politischen Kurses würde die Spaltung der Gesellschaft noch weiter vertiefen.
Aus Protest gegen diesen konservativen SPD-Kurs ist Torsten Teichert nach vierzig Jahren aus der Hamburger SPD ausgetreten. In seinem neuen Buch Die Entzauberung eines Kanzlers erzählt er pünktlich zur erneuten Kanzlerkandidatur von Olaf Scholz die Geschichte von dessen Mittelmäßigkeit nach. Im Interview mit JACOBIN spricht er über die aktuelle Lage der Sozialdemokratie.
Olaf Scholz war bei Deinem vierzigsten Geburtstag und auch auf der Hochzeit Deines Sohnes. Inzwischen bist Du seinetwegen aus der SPD ausgetreten. Wieso schreibst Du jetzt ein Buch über ihn?
Vorab: Ich war nie ein enger Freund von Olaf Scholz, aber wir kennen einander lange. Die Grundthese meines Buches ist, dass er ein extrem überschätzter Politiker ist, der es aber geschafft hat, sich als »Macher« zu präsentieren. Dabei ist die Kette seiner Fehlleistungen so lang, dass sie wahrscheinlich die Karriere eines jeden anderen Politikers beendet hätte. Er hat einfach nicht einsehen wollen, dass man einen G20-Gipfel nicht neben dem Schanzenviertel macht. Er hat nicht erkannt, dass man als Bürgermeister nicht in der Elbphilharmonie sitzt, wenn draußen die Stadt brennt. Er fand nichts dabei, mit dem Warburg-Chef Olearius nette Gespräche über ein Steuerdelikt zu führen. Und er hat nicht einmal erkannt, dass Olearius mit seiner Drohung, die Bank werde wegen 90 Millionen Steuerschulden pleite gehen, nur geblufft hat. Natürlich sind Olearius und die Warburg Bank viel reicher. Scholz hätte nur mal seinen Finanzsenator, der heute Bürgermeister ist, fragen müssen. Der hätte ihm sagen können, dass da noch ein paar hundert Millionen Euro auf der hohen Kante liegen. Das war einfach erbärmlich und lächerlich.
Am Ende bleibt eine große politische Mittelmäßigkeit, verpackt in eine ausgeprägte politische Machtmaschine. Denn von Macht versteht Scholz viel mehr als von guter Politik. Er ist und bleibt ein rechter Sozialdemokrat mit einem großen Herz für die Reichen.
Diese Reihe von Pannen und diese Mittelmäßigkeit ziehen sich durch seine ganze Biographie. Wie wird man damit Bundeskanzler?
Scholz ist ein Abbild der Wandlung der Bonner Republik, die mit der Wiedervereinigung endete, und zur Berliner Republik wurde, in der wir seitdem leben. Nobelpreisträger Joseph Stiglitz nannte die 1990er Jahre »The Roaring Nineties« – also die goldenen Neunziger. Der Kapitalismus hatte scheinbar ultimativ über den Kommunismus gesiegt, manche sprachen vom »Ende der Geschichte«. Die Geschichte von Olaf Scholz verlief parallel dazu. Er fing ganz links in der Stamokap-Gruppe an, gehörte zum äußersten linken Flügel der SPD. Einige Leute sagen, er war der »Überzeugteste der Überzeugten«. Damit war 1990 Schluss.
»Ihm wird der Satz zugeschrieben, dass man in Hamburg nicht gegen die Elbchaussee regieren könne. Das meint er leider sehr ernst.«
Nach seiner Zeit als stellvertretender Juso- Bundessprecher kam er zurück nach Hamburg, wo es traditionell eine sehr rechte SPD gibt. Er wurde in Altona Kreisvorsitzender und machte seinen Aufstieg. Mit seinem ehemaligen linken Gedankengut hatte er wie viele andere Politiker gebrochen. Trittin, Kretschmann und Wagenknecht bereuen in der einen oder anderen Weise ihre marxistische Vergangenheit. Scholz aber ging weiter: Er nennt es »Entgiftung«. Das stellte er dann auch bald unter Beweis: Denn Anfang der 2000er musste er als SPD-Generalsekretär die Agenda 2010 verkaufen. Innerhalb von einem Jahrzehnt wanderte er in der SPD von ganz links nach ganz rechts. Nach dem Ende der Regierung Schröder ist er nach Hamburg gegangen und wurde Bürgermeister – samt der Skandale von G20 bis Cum-Ex. Ihm wird der Satz zugeschrieben, dass man in Hamburg nicht gegen die Elbchaussee regieren könne. Das meint er leider sehr ernst – und wurde deshalb auch ein Liebling der Elbchaussee.
Und dann war er nach der Niederlage bei der Urwahl des Parteivorsitzes plötzlich Kanzlerkandidat.
Keiner weiß es genau, aber es könnte so gewesen sein: Saskia Esken und Norbert Walther-Borjans fragten ihn, ob er Kanzlerkandidat werden wolle – weil sie vielleicht überhaupt nicht an einen Wahlsieg denken konnten. Auch damals lag die SPD bei rund 15 Prozent. Aber er ist der einzige gewesen, der nicht davon ausging, dass er scheitern würde. Dann ist noch das Lachen von Laschet dazu gekommen, und schon war Scholz Kanzler – sein Lebensziel. Und wieder irrte er gewaltig. Nach den Koalitionsverhandlungen sagte er, diese Regierung sei supergut und werde Deutschland in eine glorreiche Zukunft führen.
In deinem Buch verweist Du auch auf David Harvey, der argumentiert, dass nach dem Eliten-Kapitalismus der Produktions-Kapitalismus folgte und darauf der Finanzkapitalismus. Wie sehr ist diese Entwicklung in der heutigen SPD angelegt?
Scholz hat im letzten Wahlkampf auf die Frage eines Reporters, ob die Welt ohne Milliardäre eine bessere wäre, mit einem schlichten »Nein« geantwortet. Das ist schon irre, wenn ein Sozialdemokrat so etwas sagt, auf dessen Wahlplakaten etwas vom Mindestlohn und vom Respekt für Arbeitende stand. Scholz hat – wie so viele Politiker – eine erstaunliche Sehnsucht nach den Reichen und Mächtigen. Olearius durfte sich über das Verständnis der Hamburger Sozialdemokratie für räuberische Banker freuen. René Benko wurde trotz aller Warnungen von Scholz persönlich dafür ausgesucht, den Elbtower zu bauen, der aktuell eine Bauruine ist.
»Die SPD wird einen Wahlkampf machen, wie sie ihn immer gemacht hat: Ein bisschen Mindestlohn, ein bisschen Unterstützung der Autoindustrie, ein bisschen Frieden und ein bisschen Aufrüstung. Da kommt nicht viel mehr.«
Seinen ersten Wahlsieg in Hamburg schaffte er auch dadurch, dass er einen ehemaligen Chef der Handelskammer und einen Reeder-Millionär in sein Team geholt hatte. Aber diese Freundlichkeit hört innerparteilich schnell auf. Wie gesagt: Scholz ist eine Machtmaschine. Als in Hamburg die Urwahl eines Bürgermeisterkandidaten mit einem Stimmenklau endete und der vorne liegende Mathias Petersen, ein linker Sozialdemokrat, um den Sieg geprellt wurde, spielte Scholz dabei eine sehr unrühmliche Rolle. Er war immer stolz auf seinen Satz, »Wer Führung bestellt, bekommt Führung«. Heute sagen viele, er führe nicht. Ich fürchte allerdings, mehr kann und will er nicht. Das ist alles, was er kann.
Was bedeutet das Deiner Meinung nach für die Kanzler-Kampagne der SPD?
Die SPD wird einen Wahlkampf machen, wie sie ihn immer gemacht hat: Ein bisschen Mindestlohn, ein bisschen Unterstützung der Autoindustrie (möglichst für die ganz großen Autos), ein bisschen Frieden und ein bisschen Aufrüstung. Da kommt nicht viel mehr. Aber die SPD hat den großen Vorteil, dass sie Merz zum Gegner hat und deshalb funktioniert dieses Prinzip ja. Merz, der jahrelang für BlackRock arbeitete, hat der SPD wirklich den Gefallen getan, von dem oberen 1 Prozent als den »Leistungsträgern dieser Gesellschaft« zu sprechen. Was Besseres kann einem Sozialdemokraten gar nicht passieren. Alle gegen Merz. Merz soll für die Sozis eine Art von Negativ-Figur werden, ähnlich wie Trump für die Demokraten. Das kann vielleicht sogar reichen. Keiner weiß ja, wann die nächste Bundestagswahl stattfindet. Wenn es wirklich noch ein Jahr dauert bis zur Wahl, würde ich heute weder darauf wetten, dass Merz wirklich Kanzlerkandidat bleibt noch würde ich darauf wetten, dass Merz mit Sicherheit am Ende vor Scholz liegt. Letztes Mal wurde der mit rund 25 Prozent Kanzler, beim nächsten Mal reichen vielleicht schon 20 Prozent. Es werden ja immer mehr Parteien.
Was ist denn die politische Perspektive für die SPD?
Ich habe den Eindruck, dass die Zukunft der SPD auch am Küchentisch im Saarland verhandelt wird. Dort sitzen Oskar Lafontaine und Sahra Wagenknecht im beschaulichen Merzig und basteln an einer neuen rechten SPD. Denn nichts anderes ist das BSW in Wahrheit. Alle hatten geglaubt, dass Wagenknecht eine neue linke Partei gründen wollte, aber inzwischen sagt sie selbst, dass das BSW eine »moderne konservative Partei« werden soll. Das hat nichts mehr mit linkem Denken zu tun. Ich habe Wagenknecht und Lafontaine schon beim gescheiterten Versuch, die Bewegung »Aufstehen« in Marsch zu setzen, erlebt. Schon damals war das eigentliche Ziel eine Wiederannäherung von Die Linken an die SPD. Man hat sich lange davon täuschen lassen, dass ausgerechnet Wagenknecht immer lauthals gegen jede Koalition mit der SPD wetterte. Jetzt sucht sie sogar das Bündnis mit der CDU und vielleicht auch, wenn Höcke mal weg ist, mit der AfD.
»Entweder Lafontaine erobert die SPD noch einmal oder er will sie zerstören. Die SPD hat das, glaube ich, längst begriffen. Denn das BSW nimmt nicht der AfD Stimmen weg, sondern hält die SPD von rechts in Schach.«
Aber über allem steht Oskars Traum, die SPD noch ein letztes Mal zu erobern, um dann – so bunt sind Träume – vielleicht Ehrenvorsitzender nach einer Wiedervereinigung von SPD und BSW zu werden. Lafontaine leidet daran, dass er kein SPD-Mitglied mehr ist und dass die Partei anders tickt als er. So ist das. Und je älter er wird, desto mehr leidet er, und ich glaube, dass das der wirkliche Plan ist. Entweder er erobert die SPD noch einmal oder er will sie zerstören. Die SPD hat das, glaube ich, längst begriffen. Denn das BSW nimmt nicht der AfD Stimmen weg, sondern hält die SPD von rechts in Schach. Bald wird es, wage ich mal vorherzusagen, die ersten geheimen Treffen in einem feinen italienischen Restaurant in Berlin zwischen SPD-Kanalarbeitern und BSW’lern geben. Statt immer nur Spaltungen könnte es dann zur Abwechslung mal eine parteiliche Wiedervereinigung geben. Ich wette mal waghalsig darauf, dass in nicht so ferner Zukunft BSW und SPD fusionieren und Oskar Ehrenvorsitzender einer wiedervereinigten SPD wird. Wenn aber das BSW nächstes Mal nicht mal den Sprung über die 5-Prozent-Hürde schafft, hat sich auch dieser Lafontain’sche Traum erledigt. Dann werden in Merzig mehr Rosen gezüchtet.
Das ist mal eine spannende These! Sollte es so weit kommen, machen wir ein neues Glaskugel-Interview. Das wäre aber dann aus Deiner Sicht eine Wiedervereinigung der rechten Sozialdemokratie. Wie könnte eine linke Sozialdemokratie Deiner Ansicht nach aussehen?
Erstens braucht es den Klassiker der Verteilungsfrage, den Scholz fürchtet wie der Teufel das Weihwasser. Für die Reichsten bräuchte man hohe Steuersätze, große Vermögenssteuern und knallharte Erbschaftssteuern, damit es diese Machtzentren von Multi-Milliardären nicht mehr gibt. Der Rest der Bürgerinnen und Bürger muss bei Steuern und Abgaben entlastet und am Produktivkapital beteiligt werden. Wir brauchen ein öffentlich-rechtliches Gesundheitssystem und mehr Grundbesitz in staatlicher Hand. Gleichzeitig muss der Mindestlohn angehoben werden und hunderttausende Wohnungen vom Staat gebaut werden. Dafür wäre eine neue »Neue Heimat«, allerdings mit besserem Management, sinnvoll. Außerdem brauchen wir eine Tarifpflicht für alle Beschäftigungsverhältnisse.
Apropos Management: Die Sozialdemokratie muss zeigen, dass der Staat gut managen kann. Wer die Bahn oder die Bundesanstalt für Arbeit erlebt, sieht das genaue Gegenteil. Dann heißt es immer: Private können es besser. Wenn Die Linke an eine dem Gemeinwohl verpflichtete Wirtschaft glaubt – ich jedenfalls glaube daran –, dann muss sie die staatlichen Organisationen effizienter und besser machen. Genau dafür aber ist der »Altpolitiker« Scholz der Falsche und der »Privatisierer« Merz ebenso. Auch Habeck hat beim Heizungsgesetz als »Macher« versagt. Linke Politik muss für gutes staatliches Management stehen. Sie muss in der Lage sein, einen Hamburger Hafen selbst gut zu managen und nicht einen italienischen Milliardär zu bitten, dabei zu helfen. Das ist lächerlich. Sie muss in der Lage sein, die Köhlbrandbrücke in Hamburg, die über 5 Milliarden kosten soll, für die Hälfte zu bauen. Sie muss in der Lage sein, in den Aufsichtsrat der Bahn die richtigen Menschen zu senden, damit es endlich einen fähigen Vorstand gibt und irgendwann auch wieder pünktliche Züge. Die Deutsche Bahn ist an der Politikverdrossenheit viel mehr verantwortlich, als man denken mag. Aber auch für die Bahn hat Scholz keinen Plan. Stell Dir mal vor: Die staatliche Bahn ist pünktlich und funktioniert fehlerfrei. Die Bundesanstalt für Arbeit zahlt nicht nur Bürgergeld aus, sondern vermittelt echt Jobs für alle, die welche suchen. Was wäre das für eine Werbung für unseren Staat und unsere Gesellschaft! Und die SPD? Die hat nur eine Zukunft, wenn sie deutlich nach links rückt. Rechts drängeln sich inklusive BSW so viele, da ist nichts mehr zu holen.
Torsten Teichert war über 40 Jahre SPD-Mitglied und schrieb 2024 das Buch Die Entzauberung eines Kanzlers.