17. Februar 2023
Der Ukraine-Krieg stellt die Bundesregierung vor Probleme. Bis zur Münchner Sicherheitskonferenz hätte dafür eigentlich eine Strategie entwickelt werden sollen. Doch zwischen Scholz und Baerbock kriselt es.
Zwischen Kanzleramt und Auswärtigen Amt wird um Strategie und Kompetenzen gerungen, Berlin, 17. Januar 2023.
IMAGO / photothekEigentlich hätte die Nationale Sicherheitsstrategie, die Außenministerin Annalena Baerbock im März vergangenen Jahres offiziell angekündigt hatte und an der das Auswärtige Amt in der Sache federführend ist, kurz vor der Münchner Sicherheitskonferenz vorgelegt werden sollen. Das Ziel: einen einheitlichen Rahmen für die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik festzuklopfen, der ressortübergreifend gültig ist und nicht zuletzt für ein einheitliches Auftreten der deutschen Staatsorgane im Ausland sorgt.
Aus Sicht des Auswärtigen Amts und seiner Ministerin wäre es überaus vorteilhaft gewesen, das Dokument in den Tagen unmittelbar vor der Sicherheitskonferenz präsentieren zu können: Baerbock wäre die maximale internationale Aufmerksamkeit sicher gewesen. Geklappt hat es nun aber nicht. Die Ursache liegt Berichten zufolge in Abstimmungsschwierigkeiten – und wohl auch darin, dass die deutsche Außenpolitik in einer äußerst schwierigen Lage steckt.
Der Ukraine-Krieg hat, strategisch betrachtet, die Handlungsoptionen der deutschen Außenpolitik empfindlich reduziert. Über Jahrzehnte hin hatte sich Berlin gegenüber Moskau einer Art Doppelstrategie bedient. Einerseits hatte die deutsche Regierung wirtschaftlich mit Russland kooperiert und damit unter anderem dafür gesorgt, dass der deutschen Industrie stets kostengünstiges russisches Erdgas zur Verfügung stand. Andererseits hatte sie, nicht zuletzt mit Hilfe der NATO-Osterweiterung sowie ab 2014 mit einer Verstärkung der NATO-Präsenz in Osteuropa, Russland systematisch unter Druck zu setzen versucht, um Moskaus Einfluss in Ost- und Südosteuropa zu minimieren. Der Ukraine-Krieg hat die Chance, russisches Erdgas billig zu erwerben, auf absehbare Zeit zunichte gemacht; Ersatz muss her. Zugleich zieht er für die Bundesrepublik gewaltige Kosten, immensen politischen Aufwand und echte Gefahren nach sich. Um diese Herausforderungen zu bewältigen, ist Berlin auf Bündnisse angewiesen – mehr denn je.
All das erhöht zunächst Deutschlands Abhängigkeit von den USA. Das fängt schon beim Erdgasimport an. Die deutsche Gaseinfuhr aus Russland sank im vergangenen Jahr von 55 auf 22 Prozent des Gesamtimports. Im Zuge dessen wurde die Einfuhr von Flüssiggas, das über die Niederlande und über Belgien ins Land gebracht wurde, gesteigert; ein Großteil davon stammte aus den Vereinigten Staaten. Als Anfang Januar das neue Flüssiggasterminal in Wilhelmshaven den Betrieb aufnahm, geschah dies mit US-amerikanischem Frackinggas; nicht anders war es Anfang Februar bei dem neuen Terminal in Lubmin.
Prognosen über die mutmaßliche zukünftige Entwicklung der Lieferströme liegen für die Erdgaseinfuhr der EU vor. Laut einer Studie des Energiewissenschaftlichen Instituts an der Universität Köln, die im September veröffentlicht wurde, könnte der Anteil von Frackinggas aus den Vereinigten Staaten am Gesamtimport der EU auf fast 40 Prozent ansteigen. Damit wäre die EU künftig von den USA beinahe so abhängig wie einst von Russland. Und das zu deutlich schlechteren Konditionen: Flüssiggas ist teurer als Pipelinegas. Inwieweit erdgasintensive Industriebranchen in Deutschland, die einst auf kostengünstiges russisches Gas setzten, mit US-Flüssiggas auf dem Weltmarkt noch konkurrenzfähig sein können, ist ungewiss.
Auch die militärische Abhängigkeit von den USA steigt. Das gilt zunächst für die faktische deutsche Beteiligung am Ukraine-Krieg mit Waffenlieferungen und der Ausbildung ukrainischer Truppen. Die Vereinigten Staaten gestalten gemeinsam mit ukrainischen Offizieren Kiews Kriegsstrategie; sie liefern Zieldaten für ukrainische Angriffe; ihr Verteidigungsminister Lloyd Austin leitet die sogenannte Ukraine-Kontaktgruppe, die seit ihrem ersten Treffen am 26. April 2022 auf der U.S. Air Base Ramstein Waffenlieferungen an die Ukraine koordiniert. Die Bundesrepublik beteiligt sich, nimmt Einfluss, muss sich der US-Dominanz letztlich jedoch ergeben.
Ähnlich verhält es sich in der NATO, die zur Zeit ihren Einfluss massiv stärken kann. Ihre europäischen Mitgliedstaaten sind mangels Alternative – eine wirkliche EU-Armee existiert ja nicht – bei ihrer militärischen Aufstellung gegen Russland auf das transatlantische Militärbündnis angewiesen. Und dort geben nun einmal die USA politisch den Ton an. Ihre Macht wächst.
Doch auch die Aufrüstung der Bundesrepublik stärkt die Position der USA. So fließt etwa ein erklecklicher Anteil des 100 Milliarden Euro schweren Sondervermögens zur beschleunigten Versorgung der Bundeswehr mit neuem Kriegsgerät nicht europäischen, sondern US-Rüstungskonzernen zu. Der Grund: Deren Waffen müssen nicht, wie etwa der geplante deutsch-französische Kampfjet FCAS (Future Combat Air System), erst aufwendig entwickelt werden; sie sind oft, wie der High-Tech-Kampfjet F-35, längst erprobt und werden serienmäßig produziert. Die Bundesregierung finanziert mit dem Sondervermögen unter anderem 35 F-35-Jets für mehr als 8 Milliarden Euro, 60 Chinook-Hubschrauber für mindestens 6 Milliarden Euro, zudem Seefernaufklärer P-8A Poseidon und allerlei mehr in den USA. Da strömt also sehr viel Geld über den Atlantik.
Und das ist nicht nur beim Kauf von Waffen der Fall. Die Vereinigten Staaten sind im Begriff, ihre Bedeutung als Deutschlands wichtigster Wirtschaftspartner insgesamt zu steigern. Nirgends haben deutsche Unternehmen so viel investiert wie in den USA. Im Jahr 2020 waren es über 420 Milliarden Euro. Und nirgendwohin exportieren sie so viel. Im vergangenen Jahr 2022 etwa erreichten die Exporte einen Wert von 156 Milliarden Euro.
Seither haben sowohl Investitionen als auch Ausfuhren über den Atlantik nochmal beschleunigt zugenommen. Das liegt zum einen daran, dass viele Unternehmen wegen der Sanktionen massive Einbrüche im Russland-Geschäft verzeichnet haben. Wer konnte, suchte nach Ersatz; und dabei boten sich die USA nicht zuletzt deswegen an, weil im Geschäft mit ihnen – anders als etwa auch im Geschäft mit China – keine Sanktionen drohen. Hinzu kommt, dass die USA mit mehreren milliardenschweren Investitionsprogrammen locken. Das wohl bekannteste von ihnen ist der Inflation Reduction Act (IRA), der für Technologien der Energiewende in den kommenden zehn Jahren fast 370 Milliarden US-Dollar bereitstellt. Bei dem Aufschwung, den das in den USA auslöst, fällt durchaus auch für deutsche Exporteure der eine oder andere Auftrag ab.
Allerdings mit klaren Einschränkungen. Denn: Aufträge, die direkt aus dem IRA finanziert werden, dürfen in aller Regel nur an Firmen erteilt werden, die in den USA produzieren. Was tut man, wenn man am Energiewendeboom in den Vereinigten Staaten teilhaben will, dort aber keine Fabrik besitzt? Richtig: Man baut eine. Ein Beispiel, das Schlagzeilen macht, bietet das schwedische Unternehmen Northvolt, das eigentlich geplant hatte, eine Batteriefabrik im schleswig-holsteinischen Heide zu errichten, dann aber darüber nachzudenken begann, das Vorhaben zurückzustellen und stattdessen in den USA zu investieren, solange es dort noch die begehrten IRA-Gelder gibt. Die Bundesregierung setzt gerade alles daran, Northvolt davon abzuhalten und die Batteriefabrik in Heide zu retten. Ob das gelingen wird, ist noch unklar.
Doch Northvolt ist nur ein Beispiel unter vielen. IRA-Subventionen wären für viele deutsche Unternehmen durchaus attraktiv – zumal für diejenigen, deren Fabriken Erdgas benötigen. Denn Gas ist in den Vereinigten Staaten viel billiger als in Deutschland, erst recht jetzt, wo Deutschland teures US-amerikanisches Flüssiggas kaufen muss. Seit Monaten warnen Ökonominnen und Ökonomen eindringlich, der Bundesrepublik drohe wegen der hohen Energiepreise und wegen der Abwerbeversuche der USA die Deindustrialisierung. Selbst wenn es letzten Endes nicht ganz so heftig kommen sollte: nicht nur der politische, auch der ökonomische Sog geht heute klar in Richtung USA.
Genau das zu verhindern und stattdessen ein Gegengewicht gegen die Vereinigten Staaten aufzubauen ist eigentlich eine Aufgabe, die in der außenpolitischen Strategie der Bundesrepublik traditionell der EU zukommt. Ob es Brüssel gelingt, die ökonomische Zugkraft der USA mit eigenen, hunderte Milliarden Euro schweren Investitionsprogrammen zu bremsen oder gar zu stoppen, ist eine offene Frage. Die EU bemüht sich jedenfalls nach Kräften, zuletzt mit dem Green Deal Industrial Plan von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, der ebenfalls eine dreistellige Milliardensumme zur Förderung von Technologien der Energiewende bereitstellen soll. Doch im Vergleich zu den USA hat die EU immer wieder mit inneren Differenzen zu kämpfen. Das zeigt sich auch beim Versuch, die Abwanderung von Industrie in die USA zu verhindern. Eines der Instrumente, das Brüssel dazu nutzt, ist die Erlaubnis, Unternehmen bei Bedarf mit Investitionen in bislang unzulässiger Höhe zu ködern. Das sorgt zwischen den EU-Mitgliedstaaten für schlechte Stimmung. Denn damit erhalten reiche, zu satten Investitionen fähige Staaten wie Deutschland und Frankreich einen Vorteil, den ärmere Länder mangels staatlicher Finanzkraft nicht haben. Die Ungleichheit in der Union droht damit weiter zuzunehmen – zum Nutzen Deutschlands, zum Nachteil der weniger wohlhabenden Staaten.
Hinzu kommen traditionelle innere Spannungen, die der EU ihre Schlagkraft nehmen – gerade jetzt, wo Brüssel sein ganzes Potenzial eigentlich benötigen würde, um sich gegen die USA durchzusetzen. Quasi zum Grundbestand der EU gehört der Streit zwischen Deutschland und Frankreich, den beiden stärksten Mächten der Union, deren Interessen sich oft genug widersprechen. Jüngstes Beispiel: Berlin ist nicht bereit, Wasserstoff, der mit Hilfe von Atomenergie gewonnen wurde, als »grünen« Wasserstoff anzuerkennen. Paris hingegen, das traditionell sehr auf Atomenergie setzt, besteht darauf.
Doch auch in zahlreichen weiteren Fragen ist man sich uneins. Zuletzt hat die französische Regierung angefangen, ihre Position systematisch zu stärken, indem sie spezielle Verträge nach dem Modell des Vertrags von Aachen geschlossen hat, mit dem Berlin und Paris im Jahr 2019 ihre Beziehungen stärken wollten. Zuerst hat Frankreich im November 2021 mit Italien den Quirinals-Vertrag, dann im Januar 2023 mit Spanien den Vertrag von Barcelona geschlossen; beide sollen jeweils die zwei Vertragsstaaten enger aneinanderbinden. Dadurch könnte eine Art südlicher Block in der EU als Gegengewicht gegen die deutsche Dominanz entstehen. Berlin hat sich revanchiert, indem es im Streit um den mit Atomkraft erzeugten Wasserstoff Spanien auf seine Seite gezogen hat, um einen Keil zwischen Madrid und Paris zu treiben. Einer Stärkung der Schlagkraft der EU dienen derlei Rivalitäten freilich nicht.
Und es kommt hinzu, dass der Ukraine-Krieg bestehende Bruchlinien innerhalb der EU weiter vertieft. Das vielleicht wichtigste Beispiel bietet Polen. Das Land, das sich seit Jahren außenpolitisch überaus eng an die USA anlehnt, prescht bei der Unterstützung der Ukraine stets weit vor und forderte die Lieferung von Kampfjets schon zu einem Zeitpunkt, an dem sich andere noch mit der Lieferung von Artillerie schwertaten; und es rüstet selbst so massiv auf wie kein anderer Staat in Europa. In diesem Jahr will Polen seinen Militärhaushalt auf 4 Prozent seiner Wirtschaftsleistung steigern, langfristig ist von 5 Prozent die Rede. Bis 2035 will Warschau 300.000 Soldaten in seiner Armee haben. Zum Vergleich: Die Bundeswehr zählt heute rund 189.000 Soldaten. Manche reden schon davon, Polen könne zur stärksten Militärmacht der EU werden und seinen Einfluss damit beträchtlich steigern – zugunsten seines engen Verbündeten USA, zu Lasten der deutschen Dominanz.
Ähnliches lässt sich in den baltischen Staaten und seit der jüngsten Präsidentenwahl verstärkt auch in Tschechien beobachten. Die vier Länder fahren nicht nur im Ukraine-Krieg einen besonders harten Kurs, sie tun sich immer wieder auch mit Aktivitäten gegen China hervor, die ganz auf der Linie der immer aggressiveren Chinapolitik der Vereinigten Staaten liegen. In Litauen eröffnete im November 2021 ein »Taiwan-Verbindungsbüro«, das mit seiner Namensgebung an der Ein-China-Politik kratzt. Die ist zwar international anerkannt, wird aber von den USA zunehmend infrage gestellt. Der neue tschechische Präsident Petr Pavel, einst Vorsitzender des NATO-Militärausschusses, telefonierte unmittelbar nach seiner Wahl ausführlich mit Taiwans Präsidentin Tsai Ing-wen – auch das ist als ein gezielter Verstoß gegen die Ein-China-Politik und eine absichtsvolle Provokation gegenüber Beijing zu werten. Für Berlin ist das durchaus ein Problem.
Denn China besitzt für die Bundesrepublik große und immer weiter wachsende Bedeutung. Selbstverständlich ist die Volksrepublik nicht nur für die Vereinigten Staaten, sondern auch für Deutschland zunächst ein Rivale: Sie steigt seit Jahrzehnten ungebrochen auf. Gemessen in Kaufkraftparität ist sie bereits die stärkste Wirtschaftsmacht überhaupt und wird die Vereinigten Staaten auch in absoluten Dollarwerten um 2030, laut jüngsten Prognosen womöglich im Jahr 2035, an der Spitze der Weltwirtschaft ablösen. China gelingt nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ mit der Entwicklung einer global führenden High-Tech-Industrie der Durchbruch. Das Land verfügt inzwischen über militärische Defensivfähigkeiten in einem Ausmaß, das US-Militärs zweifeln lässt, ob sie einen Krieg gegen die Volksrepublik noch gewinnen könnten; und es weitet seinen Einfluss global aus: in Südostasien, in Afrika, in Lateinamerika. Dauert die Entwicklung weiter an, dann wird der ohnehin schwächelnde Westen seine überkommene globale Dominanz nicht behaupten können. Das treibt die Vereinigten Staaten dazu, die Fronten zur Volksrepublik immer weiter zu verhärten. Und im Grundsatz hat auch Berlin ein klares Interesse daran, Beijing einzudämmen: Schwindet die Macht des Westens, dann schwindet auch die deutsche.
Nur: Die deutsche Wirtschaft ist überaus eng mit China verflochten. Die Volksrepublik ist Deutschlands mit Abstand bedeutendster Lieferant, verkaufte im vergangenen Jahr Waren im Wert von mehr als 191 Milliarden Euro in die Bundesrepublik. Die USA rangieren im Vergleich dazu auf Platz drei und lieferten lediglich Güter im Wert von knapp 92 Milliarden Euro nach Deutschland. Nicht für alle, aber für einzelne Branchen ist China von zentraler Bedeutung – und das sind zum Teil genau diejenigen Branchen, auf denen die deutsche Wirtschaft basiert. Die deutsche Kfz-Industrie etwa würde ohne den chinesischen Markt dramatisch einbrechen: Volkswagen, Mercedes und BMW setzen dort zwischen 30 und 40 Prozent ihrer Fahrzeuge ab, und sie verlegen zunehmend Forschung und Entwicklung für E-Mobilität in die Volksrepublik, die inzwischen als globaler Leitmarkt für Elektroautos gilt. Chemiekonzerne weisen regelmäßig darauf hin, dass sich in China mittelfristig die Hälfte des Chemikalienweltmarktes bündeln wird und man sich selbst ins Aus verfrachten würde, bliebe man dem Land fern.
Doch um Chinas Aufstieg zumindest zu bremsen, führen die USA einen ausgewachsenen Wirtschaftskrieg gegen die Volksrepublik und verhängen immer mehr Sanktionen. Diese bedrohen auch das deutsche Chinageschäft. Welche Konsequenzen das nach sich ziehen kann, zeigt aktuell das Beispiel ASML: Der niederländische Konzern, der Maschinen zur Chipproduktion fertigt, darf auf Druck der USA immer weniger in die Volksrepublik liefern. Ihm sind bereits Milliardengeschäfte entgangen, und es stehen immer noch 15 Prozent seines Gesamtumsatzes auf dem Spiel. Das Alptraumszenario der deutschen Industrie ist das sogenannte Decoupling, eine komplette Abkopplung Chinas vom Rest der Welt ähnlich wie diejenige, die der Westen aktuell von Russland anstrebt. Von China so abgeschnitten zu werden wie jetzt von Russland würde so manchen deutschen Konzern an den Rand des Ruins oder noch einen Schritt weiter treiben.
Was tun? Eine Antwort auf diese schwierige Frage soll eine eigene deutsche Chinastrategie geben, die zur Zeit in Verbindung mit der Nationalen Sicherheitsstrategie erstellt wird. Beide sind nach Lage der Dinge eng miteinander verbunden. Die Chinapolitik ist einer der Punkte, um die bei der Arbeit an den beiden Strategiepapieren Streit entstanden ist. Dabei verteilen sich die widersprüchlichen Interessen der Bundesrepublik im Umgang mit China auf zwei Parteien. Während sich für das Interesse an wirtschaftlicher Kooperation vor allem die SPD und das Kanzleramt einsetzen, fokussieren sich die Grünen und das Auswärtige Amt stark auf die Rivalität des Westens mit China, also auf Bestrebungen, die Volksrepublik einzudämmen. Wie diese offenen Gegensätze in einer einheitlichen Strategie verbunden werden sollen ist einer der Punkte, die Berlin gerade zu schaffen machen.
Die Gesamtlage ist hochkomplex. Um beim letzten Punkt anzufangen: Die Bundesregierung strebt im Kern wohl nach einer Chinapolitik, die einen heiklen Ausgleich zwischen den Kooperationsinteressen der deutschen Wirtschaft und dem Machtinteresse an einer Schwächung Chinas sucht. Diesen Ausgleich muss sie gegen die USA durchsetzen, die einen aggressiveren Kurs fahren, den sie auch von ihren Verbündeten einfordern. Hier mitzuziehen wäre aber für Deutschland fatal. Es wird schwierig sein, sich gegen die Vereinigten Staaten zu einem Zeitpunkt zu behaupten, zu dem die eigene Abhängigkeit von ihnen auf allen Ebenen wächst. Nicht umsonst hat die Rede von »europäischer Souveränität« auch in Berlin Konjunktur. Sie verweist auf die Hoffnung, man könne die EU auf globaler Ebene so stark machen, dass sie sich nicht nur in selbstgefälligen Hymnen auf Augenhöhe mit den Vereinigten Staaten fühlte, sondern auch wirklich dort stünde.
Blickt man auf die militärische Dominanz der USA, auf die wirtschaftlichen Abwehrkämpfe, die die EU zur Zeit gegen die US-Investitionsoffensiven führt, und auf die diversen innereuropäischen Konflikte, dann mag man bezweifeln, dass das gelingt. Und es kommt ja hinzu, dass einzelne EU-Mitglieder wie Litauen oder Tschechien mit klar US-inspirierten Aktivitäten die Berliner Politstrategien auch innerhalb der EU unterlaufen. Kerngedanken dafür, wie sich die deutsche Außenpolitik in dieser wilden Gemengelage orientieren wird, wird man der Nationalen Sicherheitsstrategie entnehmen können. Wenn sie denn irgendwann einmal fertiggestellt ist.
Jörg Kronauer ist Sozialwissenschaftler und freier Journalist. Seine jüngste Buchveröffentlichung ist »Vorgeschichte zum Krieg. Russland, China und der Westen« (PapyRossa Verlag, 2022).