04. März 2022
Das 100-Milliarden-Paket für die Bundeswehr stellt die Schuldenbremse in Frage. Progressive sollten diesen Moment nutzen, um eine Reform zu fordern, statt Sozialkürzungen herbeizureden.
Finanzminister Christian Lindner bei der Sondersitzung im Bundestag, Berlin, 27.02.2022.
Als Bundeskanzler Olaf Scholz am Sonntag in einer außerordentlichen Regierungserklärung gewaltige 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr ankündigte und dazu noch jährliche Ausgaben von mehr als 2 Prozent der Wirtschaftsleistung für Verteidigung versprach, wendete sich die Fraktionschefin der Grünen, Katharina Dröge, mit entgeistertem Blick an ihre Fraktionskollegen. Sie scheint über die großen Ankündigungen des Kanzlers nicht informiert gewesen zu sein. Gleiches gilt für ihre Kollegen und weite Teile der SPD-Fraktion. Das sogenannte 2-Prozent-Ziel der Nato, gegen das sich SPD und Grüne lange gewehrt hatten, soll von nun an übertroffen werden.
Die 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr sollen noch dieses Jahr aufgenommen und in ein Sondervermögen überführt werden. Das Sondervermögen ist quasi ein Geldtopf neben dem regulären Haushalt, der einmalig aus dem Verkauf von Staatsanleihen gefüllt wird. Ausgegeben wird das Geld nicht auf einen Schlag, sondern im Laufe der nächsten Jahre. Wann genau und wofür genau, steht noch nicht fest, doch die Ausgaben werden sich voraussichtlich auf rund 20 Milliarden pro Jahr belaufen, um das 2-Prozent-Ziel der Nato zu erfüllen. Hier stellt sich die Frage, ob dem nicht die Schuldenbremse im Weg steht.
Die Schuldenbremse ist zwar dieses Jahr noch ausgesetzt, allerdings nur für Ausgaben, die im Zusammenhang mit der Pandemie stehen. Laut Grundgesetz darf die Aussetzung nur im Falle von »Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Notsituationen« erfolgen. Darunter fällt die Pandemie, die marode Bundeswehr aber nicht.
Die 60 Milliarden, die kürzlich für den Klimafonds beschlossen wurden, konnte die Ampel noch legitimieren, in dem sie auf die Investitionen verwies, die aufgrund der Pandemie unterlassen wurden – eine argumentative Krücke. Die Bundeswehrmilliarden bedürfen allerdings einer anderen Herleitung. Die sieht so aus, dass das Sondervermögen der Bundeswehr im Grundgesetz verankert werden soll. Eigentlich ist das für ein Sondervermögen gar nicht nötig, da reicht auch ein Gesetz mit einfacher Mehrheit, doch die Grundgesetzverankerung hilft bei der Umgehung der Schuldenbremse. Denn die Anrechnung auf die Schuldenbremse kann so im Gesetz ausgeschlossen werden. Ganz nebenbei will die Ampel so sicherstellen, dass die 100 Milliarden auch wirklich nur für die Bundeswehr ausgegeben werden – und nicht in vier Jahren für andere Belange abgezogen werden.
Innerhalb kürzester Zeit steht damit zum zweiten Mal eine milliardenschwere Umgehung der Schuldenbremse zur Diskussion. Schon im Koalitionsvertrag hatte sich abgezeichnet, dass die Ampel die Schuldenbremse politisch ad absurdum führen wird. Um die Milliarden aus dem Klimafonds auch wirklich auszugeben, wenn die Schuldenbremse 2023 wieder gilt, hat die Ampel eine technische Regeländerung vorgenommen. Diese sieht vor, dass für die Einhaltung der Schuldenbremse zukünftig nur noch relevant ist, wann Geld in ein Sondervermögen hineinfließt und nicht mehr, wann Geld herausfließt. Das klingt nach einem zu vernachlässigenden Detail, ist tatsächlich aber von entscheidender Bedeutung: Da die Schuldenbremse 2022 noch ausgesetzt ist, kann die Ampel gerade Töpfe abseits des regulären Haushalts füllen, um das Geld in den nächsten Jahren trotz Schuldenbremse auszugeben zu können.
Das bedeutet, dass der reguläre Haushalt durch die Erhöhung der Verteidigungsausgaben erst einmal nicht belastet wird. Die 100 Milliarden für die Bundeswehr machen auch unter den Bedingungen der Schuldenbremse keine Einsparungen an anderer Stelle nötig. Das ist ein ganz wesentlicher Punkt, den selbst der Parlamentarische Staatssekretär von Finanzminister Linder, Florian Toncar, gegenüber Reuters implizit bestätigt:
»Die Kreditaufnahme zur Ausstattung des Sondervermögens wird in voller Höhe im Jahr 2022 verbucht werden, zusätzlich zur Kreditaufnahme im Bundeshaushalt. Daher bestehen keine Auswirkungen des Sondervermögens auf die nach der Schuldenbremse zulässigen Obergrenzen für die Kreditaufnahme ab 2023.«
Jahrelang wurde uns erzählt, dass für Investitionen in Klima und Infrastruktur schlicht das Geld fehle. Dann machte Deutschland 450 Milliarden Euro Schulden für die Pandemie und jetzt schüttelt Olaf Scholz 100 Milliarden für die Bundeswehr aus dem Ärmel. Das zeigt: Wenn die Schuldenbremse dem politischen Willen im Weg steht, dann wird sie umgangen – selbst von einem ideologischen Überzeugungstäter wie Christian Lindner.
Vor zwei Wochen erklärte Christian Lindner in der Regierungsbefragung noch, wie knapp die Mittel im Haushalt seien, nachdem man Entlastungen für die hohen Energiepreise beschlossen habe. Wir müssen festhalten: Die Regierungen waren unehrlich, die Kürzungen waren unehrlich, die Politik der Schuldenbremse war unehrlich. Woran es fehlte, waren nicht die Mittel, sondern der politische Wille. Schäuble, Scholz und Co. waren ebenso unehrlich, als sie darauf gepocht haben, dass krisengebeutelte Länder wie Griechenland und Italien die brutalen Kürzungsprogramme einhalten sollten, weil das nunmal den Regeln entspräche.
Der Irrsinn der Schuldenbremse wird spätestens jetzt offensichtlich. Selbst das Handelsblatt kommentierte:
»Durch die Bildung eines Sondervermögens mit den 100 Milliarden Euro, die Scholz einfach ins Grundgesetz schreiben will, umgeht der Kanzler jene Schuldenregel – was diese ad absurdum führt. Es braucht eine umfassende Reform.«
Doch Finanzminister Lindner hält bislang an seinen alten Überzeugungen fest – womöglich um sein Standing in der FDP zu retten und weil der öffentliche Druck noch längst nicht groß genug ist. Der Spiegel berichtet, dass Lindners Beamte zwischenzeitlich darüber diskutierten, das zusätzliche Geld für die Bundeswehr über den regulären Bundeshaushalt aufzubringen. Lindner war strikt dagegen, weil die Schuldenbremse dann ab 2023 nicht einzuhalten wäre und reformiert werden müsste. Das will er vermeiden, auch um die Widersprüchlichkeit dieses Vorgehens rhetorisch zu umschiffen. So erklärte Lindner im Bundestag:
»Eine mindestens fünfzehnjährige Vernachlässigung der Bundeswehr kann man nicht aus dem laufenden Haushalt korrigieren.«
Die 100 Milliarden für die Bundeswehr seien »in dieser Weltlage zunächst Investitionen in unsere Freiheit«, so der Finanzminister. In der Opposition wäre die FDP vermutlich auf die Barrikaden gegangen, wenn Schulden in Höhe von 100 Milliarden Euro – egal für welchen Zweck – als Freiheitsinvestitionen abgetan worden wären.
Selten war das Momentum für eine Reform der Schuldenbremse höher als jetzt – Progressive sollten diese Dynamik nutzen. Wenn man schon eine Grundgesetzänderung erwägt, für die eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag notwendig ist, dann sollten SPD und Grüne auch die Schuldenbremse mitverhandeln. So könnte man etwa fordern, dass öffentliche Investitionen grundsätzlich von der Schuldenbremse ausgenommen sind. Die kürzlich beschlossenen 100 Milliarden für die Bundeswehr würden in diesem Fall dann gemäß der Schuldenbremse ausgegeben werden können. Jetzt ist also ein denkbar geeigneter Zeitpunkt, um eine Reformierung der Schuldenbremse zu verlangen.
Gerade die Grünen könnten in einer solchen Verhandlung ins Spiel bringen, dass sie vom 100-Milliarden-Plan im Vorfeld nichts gewusst haben – vorausgesetzt die Berichterstattung folgt hier den Tatsachen. Sie sind daher in einer guten Verhandlungsposition, um jetzt auch einen Anspruch auf die Erfüllung ihrer eigenen Forderungen zu erheben. Die Reform der Schuldenregeln wurde immerhin sowohl von der SPD und als auch den Grünen in ihren Wahlprogrammen verlangt. Die Grünen-Finanzpolitikerin Lisa Paus argumentiert etwa:
»Bundeskanzler Scholz hat zu Recht von einer ›Zeitenwende‹ gesprochen. Vor diesem Hintergrund gehört alles auf den Prüfstand – auch ein paar alte Glaubenssätze der Finanzpolitik wie die Schuldenbremse.«
Darum sollten SPD und Grüne jetzt hart verhandeln. FDP und Union stehen mit ihren eigenen Narrativen mit dem Rücken zur Wand. Christian Lindner hat sich weit aus dem Fenster gelehnt, als er die »größten und schnellsten Steigerungen der Verteidigungsausgaben unserer jüngeren Geschichte« versprach. Er muss liefern. Außerdem hat die FDP in der Vergangenheit immer für eine »ehrliche« Haushaltsführung gestritten und Nebenhaushalte kritisiert. Warum nicht die FDP an ihren eigenen Maßstäben messen?
SPD und Grüne könnten außerdem auch die Union, deren Zustimmung für eine Zweidrittelmehrheit notwendig ist, vorführen, indem sie eine ehrliche Reform der Schuldenregeln verlangen. Würde das Sondervermögen für die Bundeswehr daran scheitern, müsste die Union bei ihrer Ablehnung erklären, warum ihr Schuldenbremse wichtiger ist als die Bundeswehr und die nationale Sicherheit. Nie konnte man die Inkonsistenz konservativer Narrative besser bloßstellen als in diesem Moment.
Progressive sollten genau das von SPD und Grünen verlangen. Vielfach geschieht leider genau das Gegenteil. Statt die Schuldenbremse anzugreifen, wird jetzt schon ein Abwehrkampf gegen Sozialkürzungen eingeläutet. Der drohende Sparkurs wird als logische Konsequenz der Erhöhung der Militärausgaben herbeigeredet und die Finanzierbarkeit der 100 Milliarden in Frage gestellt. Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbandes, Ulrich Schneider, sagte zum Beispiel:
»Auf keinen Fall darf der nun geplante ganz erhebliche Aufwuchs im Verteidigungsetat auf Kosten notwendiger sozialer Infrastruktur und der Unterstützung Hilfebedürftiger in diesem Lande erkauft werden.«
Der Abwehrkampf gegen Kürzungen wird sicherlich in guter Absicht geführt, aber er ist ökonomisch unbegründet und strategisch falsch. Geld ist nicht knapp. Wenn der Staat 100 Milliarden Euro zusätzlich ausgibt, schöpft er dafür 100 Milliarden Euro neues Geld. Es entstehen neue Bankguthaben für die Privatwirtschaft in Höhe von genau diesen 100 Milliarden Euro. Man kann die Verwendung dieser Ausgaben politisch kritisieren, ohne dabei deren Finanzierbarkeit in Frage zu stellen.
Es ist ein großer neoliberaler Mythos, dass der Staat nur das Geld seiner Steuerzahler ausgeben kann. Die neoliberale Vordenkerin Margaret Thatcher hat dieses Narrativ so erfolgreich geprägt, dass es inzwischen von rechts bis links weitestgehend als finanzpolitische Wahrheit akzeptiert wird. Die Sorge bevorstehender Sozialkürzungen ist außerdem unbegründet, weil die 100 Milliarden explizit von der Schuldenbremse ausgenommen werden. Sie führen also nicht einmal unter den Bedingungen der Schuldenbremse zu Kürzungsdruck. Wer anders argumentiert, übersieht das Konstrukt des Sondervermögens und missversteht die Wirkungsweise der Schuldenbremse.
Strategisch ist die Warnung vor einem drohenden Sparkurs außerdem ein Eigentor. Wenn 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr angeblich zu Kürzungen führen, warum sollte das bei 100 Milliarden Euro für den Klimaschutz dann nicht auch der Fall sein?
Solange sich Progressive nicht von neoliberalen Geldmythen emanzipieren, verheddern sie sich in ihren eigenen Argumenten und stärken letztlich die neoliberalen Narrative von Lindner und Merz. Mit dem Framing der Neoliberalen ist für Progressive kein Blumentopf zu gewinnen.
Maurice Höfgen ist Autor des Buches »Mythos Geldknappheit«. Zudem betreibt er den YouTube-Kanal »Geld für die Welt« sowie den Newsletter »Geld für die Welt«.
Maurice Höfgen ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter für Finanzpolitik im Bundestag und Autor des Buches »Mythos Geldknappheit«. Zudem betreibt er den YouTube-Kanal »Geld für die Welt«.