30. November 2023
Immer wieder wird der Neoliberalismus totgesagt, doch wie sich herausstellt, hat er viele Leben. Mit dem Urteil aus Karlsruhe ist er nun wieder bei Kräften. Doch die Schuldenbremse abzuschaffen, bleibt die Voraussetzung für echten politischen Fortschritt.
Friedrich Merz und Christian Lindner sind entschlossen, die Schuldenbremse auch für künftige Generationen zu erhalten.
Nach Ausbruch der Finanzkrise 2008 mutmaßte der Geografieprofessor Jamie Peck, der Neoliberalismus habe nur eines seiner neun Leben verloren, sei also noch lange nicht besiegt. Er sollte damit recht behalten. Zwar folgte nach der Finanzkrise eine Zeit des keynesianischen Staatsinterventionismus – den Banken wurden ihre faulen Kredite und Wertpapiere abgekauft, große Konjunkturprogramme aufgesetzt. Als Nächstes kam jedoch eine neue Welle neoliberaler Strukturpolitik – schließlich hatten sich die Staaten zur Rettung der Banken massiv verschuldet. Auch die Schuldenbremse wurde in dieser Zeit in die Verfassung integriert.
Die Corona-Pandemie und der Energiepreis-Schock nach der Ukraine-Invasion ließen den Staat ein weiteres Mal zurückkehren – der Neoliberalismus verlor zwei weitere Leben. Doch nach massiven Konjunkturprogrammen und Sondervermögen kehrte schon vor dem Urteil aus Karlsruhe die Austeritätspolitik auf die politische Bühne zurück. Der FDP-Finanzminister Christian Lindner legte einen rigorosen Sparhaushalt vor, SPD und Grüne folgten widerstandslos. Auch auf EU-Ebene wurden gelockerte Verschuldungsregeln wieder scharfgestellt.
»Wie Umfragen zeigen, hat nach vierzig Jahren neoliberaler Propaganda eine Mehrheit der Menschen in Deutschland mehr Angst vor Schulden als vor der Zerrüttung des Klimasystems und dem Zerfall der öffentlichen Infrastruktur.«
Wie lebendig der Neoliberalismus immer noch ist, lässt sich an der aktuellen Debatte um die Schuldenbremse ablesen. Zwar gibt es einen veritablen Aufstand von CDU-Ministerpräsidenten gegen die jetzige Regelung, und selbst Unternehmen sprechen sich für Reformen aus – schließlich sollten die Milliardensubventionen ihre Profite absichern. Doch CDU-Spitze und FDP klammern sich eisern an die Schuldenbremse, Bundeskanzler Olaf Scholz schwört die Bevölkerung auf harte Zeiten ein.
In Leitmedien und Talkshows wird ohne Scheu davon gesprochen, Zukunftsinvestitionen eben mit Einsparungen im Sozialetat zu finanzieren. Selbst in neutral anmutenden Nachrichtensendungen wird noch immer das Märchen zum Besten gegeben, Staatsschulden würden zulasten zukünftiger Generationen gehen. Sie können dabei auch auf öffentliche Unterstützung setzen – wie Umfragen zeigen, hat nach vierzig Jahren neoliberaler Propaganda eine Mehrheit der Menschen in Deutschland mehr Angst vor Schulden als vor der Zerrüttung des Klimasystems und dem Zerfall der öffentlichen Infrastruktur.
So gibt die Diskussion um die Schuldenbremse vor allem Aufschluss darüber, wie weit die Kämpfe gegen den Neoliberalismus in den fünfzehn Jahren seit der Finanzkrise gekommen sind – nämlich teilweise noch nicht einmal bis zur nächsten Haustür.
Das Urteil aus Karlsruhe bringt nun Bewegung in die Sache. Das Ergebnis könnte jedoch auch eine noch schlechtere Ausgangslage für linke Kräfte sein. Was die Situation so pikant macht: Neben der gesellschaftlichen Linken sind auch die politischen und ökonomischen Player hinter der neuen Industriepolitik gegen die Politik der Schwarzen Null.
Angesichts des neuen globalen Wettkampfs um sogenannte grüne Technologien – Batterien, Wasserstoff, E-Autos – und die geopolitische Konkurrenz um die Mikrochip-Produktion treten auch die entsprechenden Kapitalfraktionen (mit den Grünen als ihrem Sprachrohr) für eine Reform der Verschuldungsregeln ein, um sich weiterhin darauf verlassen zu können, dass der Staat ihre Wettbewerbssituation absichert. Reformvorschläge (auch aus der CDU) kreisen daher immer um »Zukunftsinvestitionen« und lassen »unproduktive« Ausgaben – etwa für die Care-Ökonomie – bewusst außen vor. Krankenhäuser, Altenheime und Schulen haben von den Extra-Milliarden nichts. Worum es hier geht, ist kein sozial-ökologisches Projekt, sondern post-neoliberale Standortpolitik im Interesse großer Unternehmen.
»Die Auseinandersetzung um die Schuldenbremse ist deshalb so zentral, weil sich in ihr der Kampf gegen den Neoliberalismus und für eine lebenswerte Zukunft bündelt.«
Trotz dieser zweifelhaften Verbündeten gilt es, der Schuldenbremse jetzt entschlossen den Kampf anzusagen. Denn zum einen ist nicht ausgeschlossen, dass sich in Deutschland, dem Kernland des Ordoliberalismus, trotz geopolitischer Umstände eine neue Spardoktrin durchsetzt. Das Kapital ist opportunistisch. Wenn Milliardensubventionen nur auf Kosten eines sozialen Kahlschlags möglich sind – warum nicht. Und zweitens eröffnet erst die neue Industriepolitik ein strategisches Feld, auf dem um die Richtung einer öffentlichen Kontrolle über die Ökonomie gerungen werden kann. Eine Chip-Fabrik in Magdeburg, die Geld in Intels Kassen spült, brauchen wir nicht. Aber wenn der Staat einfach sagen kann: »Fabrik hier bitte«, eröffnet das Spielräume für ein post-neoliberales Politikverständnis, das sich ausnutzen lässt.
Zwar positionieren sich hier und da Ökonominnen und Ökonomen, Verbände und Parteien gegen die Schuldenbremse, doch eine breite Allianz des progressiven Spektrums für eine Abschaffung der Schuldenbremse und ein sozial-ökologisches Alternativprojekt sucht man vergebens. Die Auseinandersetzung um die Schuldenbremse ist deshalb so zentral, weil sich in ihr der Kampf gegen den Neoliberalismus und für eine lebenswerte Zukunft bündelt.
Das Argument, dass es hier einer Zwei-Drittel-Mehrheit bedarf und man daher kleinere Brötchen backen sollte, ist verkehrt. Gerade weil an dieser Stelle eine Verfassungsänderung überhaupt debattierbar ist, sollten progressive Akteure ihre Kräfte darauf konzentrieren. Denn die Idee, dass die Verfassung geändert werden kann – wie sie auch im Neoliberalismus der 2000er Jahre, oder auch im Rechtsruck der 1990er Jahre geändert wurde – eröffnet Spielraum für progressive Auslegungen und Änderungen der Verfassung. Denn diese werden nötig sein für die sozial-ökologische Transformation – etwa zur Vergesellschaftung von Schlüsselindustrien.
Samuel Decker ist heterodoxer Ökonom und in sozialen Bewegungen aktiv.