01. Dezember 2023
Ein Staat ohne Schulden ist ein Staat, der die Menschen wirtschaftlichen und ökologischen Krisen ausliefert und die Infrastruktur verfallen lässt. Eine solche Gesellschaft können wir nicht anstreben.
Robert Habeck, Olaf Scholz und Christian Lindner haben die Wahl zwischen Fortschritt oder Sparpolitik.
Dieser Tage wird mal wieder ein veraltetes und ebenso sexistisches Bild auf die bundespolitische Bühne gezerrt: die schwäbische Hausfrau, die ihren (Finanz-)Haushalt ordentlich und ausgeglichen hält, also nur das Geld ausgibt, das sie zuvor eingenommen oder angespart hat. Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das die Verschiebung von Coronahilfsgeldern in den Klima- und Transformationsfonds (KTF) für verfassungswidrig erklärt hat, fehlen der Ampel nämlich schlagartig Milliardenbeträge. Nun ist ein Streit darüber entbrannt, wie die Ampel mit diesem riesigen Haushaltsloch umgehen soll.
Und da kommt die schwäbische Hausfrau ins Spiel: Viele meinen, das Urteil des Bundesverfassungsgerichts sei eine Mahnung gewesen – jetzt müsse der Staat umso mehr in großem Stil sparen. Die Ampel steht am Scheideweg. Für uns – Grüne Jugend und Jusos – ist klar, dass es nur einen Ausweg gibt: Die Schuldenbremse muss weg. Für 2024 muss sie erneut ausgesetzt werden, aber eigentlich gehört sie abgeschafft.
»Die aktuelle Krise ist im Kern dadurch bedingt, dass sich die neoliberale Ideologie nicht eingestehen will, an der Realität gescheitert zu sein.«
Die Geschichte vom Staat, der haushalten soll wie die schwäbische Hausfrau, ist auf allen Ebenen Unsinn. Mal abgesehen davon, dass es sich auch für diese lohnen kann, sich zu verschulden, um etwa ein Haus zu bauen oder die eigenen Kinder bei ihrer Ausbildung zu unterstützen, funktioniert ein Staatshaushalt eben nicht wie ein Privathaushalt. Und das aus einer ganzen Reihe von Gründen: Wer sich privat verschuldet, muss bei steigender Schuldenlast deutlich höhere Zinsen zahlen – für Staaten gilt das so nicht. Die Bundesrepublik etwa hat heute im historischen Vergleich relativ geringe Zinskosten – und das trotz einer vergleichsweise hohen Staatsschuldenquote. In den letzten Jahren verdiente der deutsche Staat aufgrund der Negativzinsen auf deutsche Staatsanleihen durch Schulden sogar noch dazu. In so einer Situation zu sparen, ergibt ökonomisch absolut keinen Sinn.
Dazu kommt: Staatshaushalte müssen ganz andere Aufgaben meistern als ein Privathaushalt. Bei einem Staat sind heute nicht getätigte Investitionen die Schulden der Zukunft. Ein Beispiel: Wird ein Schlagloch in der Straße nicht repariert – weil gespart werden soll –, dann wird es immer größer. Irgendwann ist das Loch so groß, dass kleine Reparaturmaßnahmen nicht mehr ausreichen und gleich ein ganzer Straßenabschnitt neu gemacht werden muss.
»Vom Economist über die Financial Times bis hin zu Bloomberg fragen sich Journalistinnen und Ökonomen, die allesamt nicht unter dem Verdacht stehen, Linksradikale zu sein, was dieser deutsche Sonderweg soll.«
Zweites Beispiel: Seit Jahren ist klar, dass die Uniklinik in Hannover neu gebaut werden muss. Doch unter anderem, weil es jahrelang keine Finanzierungszusage für den Neubau gab und sich der Baubeginn deshalb massiv verzögerte, müssen in den nächsten zwanzig Jahren jetzt noch fast eine Milliarde Euro in den Erhalt der Bestandsgebäude investiert werden, damit diese überhaupt so lange durchhalten, bis der Neubau fertig ist. In beiden Fällen führt das Verschleppen von Investitionen also dazu, dass für den Staat schlussendlich alles nur noch teurer wird. Die Sparpolitik von heute sind die Schulden von morgen.
Weltweit bringen Ökonominnen und Ökonomen der deutschen Schuldenbremse Verwunderung und Unverständnis entgegen. Während nahezu alle großen Industrieländer inzwischen eine viel höhere Staatsverschuldung in Kauf nehmen, um damit die Transformation ihrer Industrien zu finanzieren, hält allein Deutschland weiter eisern an der Schuldenbremse fest. Vom Economist über die Financial Times bis hin zu Bloomberg fragen sich Journalistinnen und Ökonomen, die allesamt nicht unter dem Verdacht stehen, Linksradikale zu sein, was dieser deutsche Sonderweg soll.
Schuldenregeln, die losgelöst von fiskalpolitischen Herausforderungen aufgestellt werden, sind sinnlos und kontraproduktiv. Selbst einige konservative Ministerpräsidenten sehen das inzwischen ein und kritisieren zunehmend die Schuldenbremse. Das Absurde an der aktuellen Debatte ist: Im Grunde geht es gar nicht um die Frage, ob Kredite für die Transformation aufgenommen werden müssen. Denn dem hatte auch die FDP bereits zugestimmt, indem sie die verfassungswidrigen Sondervermögen absegnete.
Im Grunde waren schon die Schattenhaushalte das Eingeständnis, dass ohne weitere Kreditaufnahme kein Fortschritt zu machen ist. Es geht jetzt nur darum, einen neuen Rechtsgrund zu finden, nachdem das Verfassungsgericht den Trick mit dem Sondervermögen gekippt hat. Volkswirtschaftlich spielt es gar keine Rolle, ob die entsprechenden Kredite auf Grundlage eines Sondervermögens, einer ausgesetzten oder einer reformierten Schuldenbremse aufgenommen werden – die Zinsen bleiben die gleichen und die Projekte, die damit finanziert werden, auch. Über all diese Projekte bestand bereits politische Einigkeit in der Koalition, ebenso wie darüber, dass die Finanzierung nur mittels neuer Schulden möglich ist. Auch rechtlich gibt es mit der Aussetzung der Schuldenbremse kurzfristig einen einfachen Weg, das Problem für 2024 zu lösen.
Die aktuelle Krise ist im Kern dadurch bedingt, dass sich die neoliberale Ideologie nicht eingestehen will, an der Realität gescheitert zu sein. Ihre Anhängerinnen und Anhänger können nicht zugeben, dass alles, woran sie in den letzten Jahren so fest geglaubt haben, falsch war.
Dass viele an der Schuldenbremse festhalten, hat aber auch einen politischen Grund: Mit ihrer Hilfe lässt sich behaupten, dass Kürzungen an Sozialleistungen unvermeidlich wären. Gerade das schlägt die FDP – und auch der grüne Finanzminister Baden-Württembergs Danyal Bayaz – in diesen Tagen vor: Leistungskürzungen, um das Haushaltsloch zu stopfen. Bei den Summen, die gerade fehlen – allein für das nächste Jahr dürften das laut Bundesfinanzministerium rund 17 Milliarden Euro sein - müsste die Bundesregierung allerdings einen massiven sozialen Kahlschlag hinlegen, um das Haushaltsloch allein durch Einsparung von Sozialleistungen zu stopfen.
»Wir können es uns nicht leisten, dass weiterhin wenige Superreiche auf den Milliarden sitzen und mit ihren Investitionsentscheidungen unsere Zukunft verheizen und unsere Mieten in die Höhe treiben.«
Kindergrundsicherung? Die wurde schon lange vor dem Urteil aus Karlsruhe klein gespart. Bürgergeld? Das müsste auf deutlich unter das verfassungsrechtlich verbürgte Existenzminimum gesenkt werden. Und was sollte man eher tun: den Bundeszuschuss zur Rente kürzen und damit Hunderttausende in die Altersarmut stürzen oder an der Kinder- und Jugendarbeit sparen? Weder ist es möglich, die notwendigen Summen im Sozialetat zu streichen, noch wäre ein solcher sozialer Kahlschlag vertretbar.
Ein starker Sozialstaat ist notwendiger Bestandteil einer Gesellschaft, die sich transformiert. Nur er nimmt den arbeitenden Menschen die Angst, dass die Unsicherheit, die große gesellschaftliche Veränderungen mit sich bringen, zu ihren Lasten geht. Sparpolitik ist Klassenkampf von oben. Sie versucht, die Privilegien der Reichsten auf Kosten der Mehrheit zu sichern und die Unsicherheit den Schultern der Schwächsten statt der Stärksten aufzulasten.
Jetzt an der Schuldenbremse festzuhalten, wäre ein unverzeihlicher Fehler. Gerade Krisenzeiten sind dadurch geprägt, dass viele Menschen finanziell zurückstecken müssen und Abstiegsangst haben – zu Recht, denn derzeit entsteht für viele der Eindruck, dass zu wenig für alle da sei. Seien es Kommunen, die Sparprogramme fahren müssen oder Reallöhne, die immer weiter sinken. Rechte nutzen diese Verunsicherung und diese Abstiegssorgen, um die Ärmsten gegeneinander auszuspielen. Während sich der Staat aus der Krise sparen will, wächst der Balken der AfD in Umfragen immer weiter. Um dieser Situation Herr zu werden, wären Ausgaben für die soziale Infrastruktur und den Sozialstaat das Gebot der Stunde. Mit der Schuldenbremse ist das aber nicht machbar.
Es ist ganz klar: Die Schuldenbremse muss kurzfristig ausgesetzt und langfristig aus dem Grundgesetz gestrichen werden. Nur so können die Klimaziele – immerhin die größte Herausforderung des Jahrhunderts – eingehalten und ein notwendigerweise gut ausgestatteter Sozialstaat beibehalten werden. Die Pariser Klimaziele wird die Weltgemeinschaft nur dann erreichen können, wenn die Länder massiv in die Transformation ihrer Wirtschaft und Gesellschaft investieren. Das heißt gar nicht, dass der Staat sich zu jeder Zeit in jeder Situation exzessiv verschulden sollte. Aber wenn es derart große Zukunftsaufgaben zu bewältigen gibt, muss er investieren und dafür Kredite aufnehmen.
Zur Wahrheit gehört allerdings auch: Langfristig wird man nicht alle Verteilungskonflikte einfach nur durch neue Schulden zuschütten können. Die zunehmend demokratiegefährdende Ungleichheit, die Finanzialisierung weiter Teile der Daseinsvorsorge und die explodierenden Mieten – all das wird man nur beenden können, wenn man die Superreichen endlich vernünftig besteuert und die Daseinsvorsorge konsequent dem Markt entzieht. Wir können es uns nicht leisten, dass weiterhin wenige Superreiche auf den Milliarden sitzen und mit ihren Investitionsentscheidungen unsere Zukunft verheizen und unsere Mieten in die Höhe treiben.
Die Schuldenbremse abzuschaffen, bleibt die einfachste und schnellste Möglichkeit, die Mittel für die anstehenden Zukunftsinvestitionen zu mobilisieren und die Handlungsfähigkeit der Politik zu garantieren. Doch die Verteilungsfrage verliert dadurch nicht an Bedeutung. Wo das Geld sitzt, entscheidet am Ende auch über die Verteilung realer Ressourcen. Selbst wenn der Staat endlich Geld in die Hand nimmt: Am Ende bleibt die Frage, ob die ohnehin überlastete Baubranche Kapazitäten für den Bau öffentlichen Wohnraums hat oder ob sie mit dem Bau von Luxuswohnungen voll ausgelastet ist.
»Der Kampf gegen die Schuldenbremse ist der wichtigste politische Kampf unserer Generation.«
Dass es ausgerechnet der SPD-Finanzminister Peer Steinbrück war, unter dem die Schuldenbremse eingeführt wurde, und auch Olaf Scholz diese Politik als Finanzminister fortsetzte, zeigt, wie notwendig ein finanzpolitisches Umdenken auch in der Sozialdemokratie ist. In den sechzehn Jahren christdemokratisch geführter Regierungen, in denen der Investitionsstau anwuchs und der Klimaschutz zu kurz kam, war auch die SPD an drei Großen Koalitionen beteiligt. Große Teile der Partei sind inzwischen umgeschwenkt und bereit, Fehler der Vergangenheit zu korrigieren. Das sollte auch der Kanzler tun.
Mit dem Koalitionsvertrag wurde das Unmögliche versucht: die Schuldenbremse einhalten und trotzdem die notwendigen Kredite aufnehmen, um Investitionen zu ermöglichen. Dem dafür angewandten Trick hat das Bundesverfassungsgericht nun eine Absage erteilt. Schuldenbremse und Fortschritt – das passt nicht zusammen.
Mag ja sein, dass einige gern eine Zukunft in Kauf nehmen, in der Millionen Menschen durch die Klimakrise ihr Zuhause verloren haben, die Straßen mehr Schlagloch als Straße sind und bei der Bahn endgültig mehr Störung als Betriebsablauf herrscht, wir aber immerhin keine Schulden mehr zurückzahlen müssen. Wir nicht. Und für dieses Ziel werden wir – die junge Generation – uns nicht weiter instrumentalisieren lassen.
Wir demonstrieren nicht für schwarze Zahlen, sondern für eine lebenswerte Zukunft, für einen absichernden Sozialstaat und eine ernstzunehmende Klimapolitik. Der Kampf gegen die Schuldenbremse ist der wichtigste politische Kampf unserer Generation. Nur wenn wir sie kippen, haben wir eine Chance auf ein Leben in Wohlstand auf einem intakten Planeten.
Svenja Appuhn ist Bundessprecherin der Grünen Jugend und studiert Medizin in Hannover.
Katharina Stolla ist Bundessprecherin der Grünen Jugend. Sie hat Meteorologie in Hamburg studiert.
Philipp Türmer ist Bundesvorsitzender der Jusos, Ökonom und arbeitet nach seinem ersten Staatsexamen an seiner juristischen Doktorarbeit in Frankfurt.