01. Mai 2024
Schwedens große Gewerkschaften können mit den immer rücksichtsloseren Arbeitgebern nicht mehr Schritt halten. Ausgebeutete migrantische Bauerbeiter organisieren sich deshalb bei den Syndikalisten und zeigen, was offensiver Arbeitskampf erreichen kann.
Die Solidarischen Bauarbeiter während einer Blockade im Februar. Ein Subunternehmer auf dem Bau schuldet zwei der Gewerkschaftsmitglieder seit Monaten tausende Euro Lohn. Aufnahme vom 26 Februar.
»Arbeit – fertig! Gehalt – fehlt noch! Betrüger – hab Angst, wir finden dich doch!«, schallen die Stimmen von etwa zwanzig, in identischen gelben Warnwesten und Bauhelmen gekleideten Bauarbeitern. Es ist ein nebeliger Tag im Februar, und die Männer blockieren die Zufahrt zu einer Baustelle in Stockholm. Sie sind migrantische Arbeiter aus einem halben Dutzend, hauptsächlich postsowjetischen Ländern, und sie rufen ihre Parole auf Russisch.
Die Szene spiegelt die tiefgreifenden Veränderungen, die der schwedische Arbeitsmarkt in den letzten Jahren erlebt hat. Zwei der Bauarbeiter warten seit Monaten auf Gehalt, insgesamt fast 30.000 Euro, von einem nie erreichbaren Subunternehmer, der unter anderem auf diesem Bau aktiv ist. »Es geht nicht nur ums Geld«, erklärt Roman Ramasanow, einer der betrogenen Bauarbeiter. »Es geht auch darum, diesem Betrug ein Ende zu setzen.«
Ihre Protestform, eine sogenannte Eintreibungsblockade, zielt darauf ab, Arbeitgeber mittels Blockade eines Arbeitsplatzes zur Auszahlung ausstehender Löhne zu zwingen. In der Frühgeschichte der schwedischen Arbeiterbewegung war dies ein üblicher Vorgang, fiel aber zunehmend in Vergessenheit, als Lohndiebstahl und ähnliche grobe Ausbeutungsformen schrittweise ausgemerzt wurden. Dies war ein Erfolg der Sozialdemokraten, die das 20. Jahrhundert über die Politik Schwedens dominierten, und des mit ihnen verbündeten Gewerkschaftsdachverbands LO, in dem sich über den gleichen Zeitraum die große Mehrheit der schwedischen Arbeiterschaft vereinigte.
»Es liegt an Schwedens traditionell mächtigen Gewerkschaften, sicherzustellen, dass die in den Kollektivverträgen festgelegten Gehälter und Bedingungen eingehalten werden. Dieses Modell steckt aber gegenwärtig in einer Krise.«
Die heutige Blockade ist aber nur eine von etwa vierzig ihrer Art, die in den letzten Jahren von Solidariska byggare (»Solidarische Bauarbeiter«), einer neuen und rasant wachsenden Gewerkschaft migrantischer Bauarbeiter, durchgeführt wurde. Die 2021 gegründete Gewerkschaft gehört nicht der LO an, sondern ihrem kleineren, dafür aber kämpferischeren syndikalistischen Gegenstück SAC. Die Syndikalisten spalteten sich 1910 von der Hauptströmung der schwedischen Arbeiterbewegung ab und zählten in ihrer Glanzzeit, vor hundert Jahren, fast 40.000 Mitglieder. Aber genau wie die brutale Ausbeutung jener Zeit und die radikalen Taktiken, die im Kampf gegen sie damals üblich waren, wurde auch die SAC immer mehr zu einem Randphänomen, als sich das konsensorientierte »Schwedische Modell« auf dem Arbeitsmarkt durchsetzte. Die Blockade der Solidariska byggare ist eine kleine Schlacht in dem großen Kampf um die Zukunft dieser Ordnung.
Das Schwedische Modell baut auf Harmonie. Gewerkschaften und Arbeitgeber verhandeln in regelmäßigen Tarifrunden Bedingungen aus, die für beide Seiten vorteilhaft sein sollen. Die dabei ausgehandelten Kollektivverträge decken gewöhnlich ganze Branchen und beinhalten ein Friedensgelübde von Seiten der Gewerkschaften. Streiks sind in Schweden deshalb relativ selten.
Eine Besonderheit dabei ist, dass sich der Staat in diesen Zwei-Parteien-Prozess kaum einmischt, weshalb woanders übliche Kontrollmechanismen – wie etwa ein gesetzlicher Mindestlohn oder systematische Arbeitsplatzinspektionen durch staatliche Behörden – hier fehlen. Stattdessen liegt es an den traditionell mächtigen LO-Gewerkschaften, sicherzustellen, dass die in den Kollektivverträgen festgelegten Gehälter und Bedingungen eingehalten werden. Dieses Modell steckt aber gegenwärtig in einer Krise.
Oberflächlich mag es nicht danach aussehen. Während die Aktivitäten der Solidariska byggare bisher eher wenig Beachtung finden, macht der Konflikt zwischen Elon Musks Autofirma Tesla und den großen schwedischen Gewerkschaften international Schlagzeilen. Seit die wichtigste Metallgewerkschaft IF Metal im Herbst zum Arbeitskampf aufgerufen hat, haben sich gleich mehrere LO-Gewerkschaften, die verschiedene Berufsgruppen repräsentieren, aus Solidarität angeschlossen, und verweigern seitdem die Wartung von Teslas Ladestationen und Autos, und den Versand von Ersatzteilen und Nummernschildern an die Firma. »Das ist Wahnsinn«, schrieb ein schockierter Musk auf X, ehemals Twitter.
Der Hauptgrund für diese ungewöhnlich entschlossene Kraftdemonstration von Seiten der LO-Gewerkschaftsführung ist, dass es bei dem Konflikt um Prinzipien geht. Entgegen den üblichen Spielregeln verweigert Tesla der Metallgewerkschaft IF Metal nämlich das Recht, im Namen der Mechaniker seiner Servicezentren einen Kollektivvertrag auszuhandeln. Der resultierende Kampf der Giganten ist allerdings nur die Spitze des Eisbergs.
Auch wenn Musk einen perfekten Bösewicht abgibt, ist er nicht der Einzige, der in Schweden die Gewerkschaften untergräbt. Unzählige kleinere Akteure sind ihm Meilen voraus – und dabei bisher kaum auf Widerstand gestoßen. Diese Unternehmer betreiben eine enorme Schattenwirtschaft, die sich unter anderem über die Pflege-, Transport-, Reinigungs-, Nahrungsmittel- und Baubranchen erstreckt, wo migrantische Arbeitskräfte von heute auf morgen angestellt und entlassen werden und die traditionellen schwedischen Kontrollmechanismen längst nicht mehr greifen.
»Dieser bedeutende Teil der Arbeiterklasse in Schweden ist heute völlig entmächtigt«, erklärt Emil Boss, ein langjähriger SAC-Aktivist und Vorstandsmitglied bei den Solidariska byggare. Dies sei das Resultat mehrerer paralleler Tendenzen. Zum einen haben Jahre der Deregulierung in der Wirtschaftsgesetzgebung und die zunehmende Verbreitung von Outsourcing es Schurkenfirmen ermöglicht, den Markt zu durchsetzen. Gleichzeitig habe die schwedische Migrationspolitik ihnen einen Pool von prekären Arbeitnehmern ausgeliefert.
Boss zufolge sind verschiedene migrantische Gruppen der Ausbeutung besonders preisgegeben. Undokumentierte Migrantinnen und Migranten, die mit Abschiebungsdrohungen erpresst werden können, stehen am schlechtesten da. »Ich habe Fälle erlebt, wo Arbeitgeber bedeutende Gehaltsschulden angesammelt haben, nur um dann die Polizei zu rufen, um den Arbeitsplatz zu durchsuchen und die betroffenen Arbeiter abschieben zu lassen«, erklärt er.
»Da Fremdenfeindlichkeit die politische Agenda bestimmt, und immer mehr Menschen ihre Asylanträge abgelehnt bekommen, ist die Beschaffung einer Arbeitserlaubnis mit selbigen Bedingungen für viele ein letzter Ausweg geworden, um einer Abschiebung zu entgehen.«
Aber selbst diejenigen, die mit Arbeitserlaubnis ankommen, riskieren Missbrauch, da ihr Status sie zwingt, die ersten zwei Jahre bei demselben Arbeitgeber zu bleiben. »Das wird ausgenutzt, um Arbeiterinnen und Arbeiter zu unterdrücken und ihre Arbeitsbedingungen zu verschlechtern«, sagt Boss. »Arbeitgeber können Bargeldrückzahlungen, unbezahlte Arbeit, oder sexuelle Dienste verlangen.«
Auch Geflüchtete finden sich oft in einer ähnlichen Lage. Da Fremdenfeindlichkeit die politische Agenda bestimmt, und immer mehr Menschen ihre Asylanträge abgelehnt bekommen, ist die Beschaffung einer Arbeitserlaubnis mit selbigen Bedingungen für viele ein letzter Ausweg geworden, um einer Abschiebung zu entgehen.
Auch Migrantinnen und Migranten, denen keine Abschiebung droht – etwa Staatsbürger der EU oder der Ukraine, die durch ein EU-Dekret seit dem russischen Einmarsch eine temporäre Aufenthaltsgenehmigung haben –, sind oft von ähnlicher Ausbeutung betroffen, da Unternehmer nur zu gerne ihre Unkenntnis der schwedischen Sprache und der gängigen Regeln ausnutzen.
»Was wir hier haben, ist eine perfekte Kombination aus Profitgelegenheit, schutzloser Opfer und Konsequenzfreiheit«, erklärt Daria Bogdanska. Sie wurde einst selbst als migrantische Arbeiterin ausgebeutet, engagiert sich seitdem für die Arbeitsrechte von Migranten und arbeitet inzwischen als Ermittlerin für Arbeitsmarktkriminalität.
Mit Konsequenzfreiheit meint sie, dass es den großen LO-Gewerkschaften bisher misslungen ist, die schätzungsweise mehrere Zehntausende zählende migrantische Arbeiterschaft Schwedens zu organisieren. Die Gründe sind verschiedene, von gewerkschaftsinterner Bürokratie, die Menschen aussperrt, denen die in Schweden für alles entscheidende Steuernummer fehlt, bis zu kulturellen Faktoren bei Menschen, die aus Ländern kommen, wo Gewerkschaftsmitgliedschaft weniger üblich ist.
Laut Bogdanska können aber selbst diejenigen, die den Weg in eine der üblicherweise auf Kompromiss und Konsens ausgerichteten Gewerkschaften gefunden haben, nicht unbedingt mit Unterstützung rechnen. »Schwedische Gewerkschaften sind nicht gerüstet für eine Realität, in der Arbeitgeber systematische, teils raffinierte kriminelle Methoden nutzen. Eine Realität, in der Menschen ohne schriftlichen Anstellungsvertrag arbeiten, in bar bezahlt werden, und ihre Arbeitgeber bereit sind, Dokumente zu verfälschen«, erklärt sie. »Das Problem ist teilweise eins der Einstellung, also vorauszusetzen, dass Arbeitgeber es gut meinen würden, und teilweise eins der Kapazitäten.«
In Schweden überlässt es der Staat den Gewerkschaften, sicherzustellen, dass Löhne ausgezahlt und Arbeitsplätze inspiziert werden. Die Bereiche der Wirtschaft, die von unseriösen Unternehmen dominiert werden, die zwecks leichterer Ausbeutung bewusst gewerkschaftlich kaum organisierte migrantische Arbeitskräfte anstellen, liegen daher inzwischen jenseits der etablierten Kontrollsysteme.
»Manche mögen behaupten, dass das System für die große Mehrheit immer noch funktioniert. Und das stimmt zumeist. Aber das Problem wächst. Wir müssen anerkennen, dass die Lage in manchen Branchen eine Katastrophe ist, weitaus schlimmer als in vielen anderen Ländern. Da herrscht der wilde Westen«, erklärt Bogdanska. »Wir müssen uns fragen: Wollen wir eine so große Lücke akzeptieren zwischen denen mit Arbeitnehmerschutz und denen, die es am nötigsten hätten und doch fast völlig schutzlos sind?«
Während die meisten Arbeiterinnen und Arbeiter in Schweden im globalen Vergleich immer noch mit die besten Bedingungen genießen, sorgt sich Emil Boss, dass die furchtbaren Verhältnisse, denen migrantische Beschäftigte ausgesetzt sind, zu einem breiteren Verfall führen können. »Es ist nur eine Frage der Zeit, bis der Rest des Arbeitsmarkts nachfolgt und Dumping erfährt«, sagt er. Ihm zufolge ist eine solche Entwicklung im Stockholmer Bausektor schon erkennbar. Dort sei die zur LO gehörende Baugewerkschaft Byggnads im Begriff, den Status einer Mehrheitsgewerkschaft zu verlieren – nicht zuletzt, weil sie kaum migrantische Mitglieder habe. »Gehälter sind bisher vielleicht noch nicht nach unten gedrückt worden, aber wenn es um Arbeitsbedingungen geht, ist der Trend offensichtlich«, erklärt er.
»Dass es den radikaleren Syndikalisten von SAC zumindest teilweise gelingen kann, beruht nicht zuletzt auf einer historischen Besonderheit.«
Der Ernst der Lage wurde im Dezember deutlich, als fünf Bauarbeiter beim Absturz eines Aufzugs auf einer Stockholmer Baustelle ums Leben kamen – dem schlimmsten Arbeitsplatzunglück im Land seit dreißig Jahren. Die Bedingungen auf dem Bau waren typisch für die Branche. Das Großunternehmen, das den Bau leitet, hatte zwar mit Byggnads einen Kollektivvertrag unterzeichnet. Ausgeführt wurden die Arbeiten allerdings über fünf Outsourcing-Levels von über 120 Subunternehmen. Von den fünf tödlich verunglückten Männern kam einer aus Schweden, die anderen vier aus der Ukraine, Russland und Afghanistan.
Angesichts der Tatsache, dass die etablierten Gewerkschaften im Kampf gegen solche Zustände bisher weitgehend fehlen, ist es nun den radikaleren Syndikalisten von SAC zugefallen, die Lücke zu füllen. Dass ihnen dies zumindest teilweise gelingen kann, beruht nicht zuletzt auf einer historischen Besonderheit.
»Es gibt ein Sicherheitsventil im Schwedischen Modell«, erklärt der SAC-Aktivist Emil Boss. »Und um ehrlich zu sein, haben wir es den bürgerlichen Kräften zu verdanken. In den Siebzigern intervenierten die Liberalen, als die Sozialdemokraten ihren Verbündeten in der Arbeiterbewegung ein Monopol über die gewerkschaftliche Organisierung verschaffen wollten.« Deshalb können kleinere, unabhängige Gewerkschaften wie SAC bis heute außerhalb der LO-Struktur und seinen Kollektivverträgen agieren.
Gleichzeitig gelten aber viele der von schwedischen Gewerkschaften genossenen Privilegien – etwa das Recht, Arbeitgeber, die deren Mitglieder beschäftigen, zu Verhandlungen zu zwingen – auch für die Syndikalisten. Wenn Konflikte juristisch ausgefochten werden, betrachten Gerichte mangels gesetzlicher Regulierung überdies oft die von den LO-Gewerkschaften ausgehandelten Kollektivverträge als Branchennorm und entscheiden häufig gegen Arbeitgeber, die von diesen allzu weit abweichen. »Indem SAC in diesem Zwischenraum agiert, sind wir zu einer Art Experimentierwerkstatt für gewerkschaftliche Organisierung geworden«, fasst Boss zusammen.
Wenn Solidariska byggare, der erfolgreichste SAC-Ableger, etwas gezeigt hat, dann ist es, dass die strukturellen Schwächen des schwedischen Modells mit genügend Kampfgeist zumindest teilweise korrigiert werden können. Seit ihrer Gründung 2021 hat der offensive Kampfstil der Basisgewerkschaft Arbeitgeber zur Auszahlung von ausstehenden Löhnen und Schadensersatz von umgerechnet fast 2,5 Millionen Euro gezwungen.
»In vielen Fällen waren Arbeitgeber von dem offensiven Ansatz der Solidariska byggare so überrumpelt, dass sie lieber gleich rasch bezahlten, als eventuelle Konsequenzen zu riskieren.«
Eine Reihe von vorigen Erfahrungen diente dabei als Vorlage. 2019 erzielte eine Initiative, bei der Daria Bogdanska eine der treibenden Kräfte war, Erfolge für osteuropäische Angestellte in Landwirtschaftsbetrieben im Süden Schwedens. Auf einer SAC-Strategiekonferenz später im selben Jahr steuerte eine Delegation der britischen Basisgewerkschaft United Voices of the World, die vor allem migrantische Reinigungskräfte im Raum London organisiert, mit ihren Erfahrungen weitere Inspiration bei. Kurz darauf beschloss die Stockholmer Abteilung der SAC, gezielt jene »unorganiserbaren« prekären migrantischen Arbeiterinnen und Arbeiter zu organisieren.
Nachdem eine mehrsprachige Mobilisierungskampagne in sozialen Netzwerken einige erste Mitglieder rekrutiert hatte, wurden Personen mit relevanten Sprachkenntnissen, wie etwa Russisch und Spanisch, als Verhandlerinnen und Verhandler angestellt. Da sich bald herausstellte, dass Bauarbeiter, teils aus Lateinamerika, zumeist aber aus dem postsowjetischen Raum, für das Vorhaben besonders empfänglich waren, wurden 2021 die Solidariska byggare als eigene Gewerkschaft unter dem Dach der SAC Stockholm gegründet.
Die neue Gewerkschaft war weder durch Naivität noch durch Illusionen von konstruktiven langfristigen Beziehungen gehemmt, mit der die LO-Gewerkschaften normalerweise Konflikte mit Arbeitgebern angehen würden. Schurkenunternehmer, die ohnehin kein Interesse an Dialog hatten, sahen sich plötzlich mit einem ernsten Gegner konfrontiert. In vielen Fällen waren Arbeitgeber, die ihre Beschäftigten monatelang mit Versprechen hingehalten hatten, von dem offensiven Ansatz der Solidariska byggare so überrumpelt, dass sie lieber gleich rasch bezahlten, als eventuelle Konsequenzen wie etwa Blockaden oder Gerichtsprozesse zu riskieren.
Innerhalb der Gewerkschaft haben solche Erfolgsgeschichten zuweilen sogar schon zu herzlichen Streitereien geführt. »Du bekamst dein Gehalt doch schon wenige Tage nach unserem ersten Anruf an deinen Chef, und bist damit wohl das Mitglied, dessen Fall am schnellsten gelöst wurde, nicht wahr?«, fragte der Verhandler Pelle Sunvisson einen zufrieden nickenden Ukrainer auf einer der russischsprachigen Gewerkschaftsversammlungen vor einem guten Jahr. »Blödsinn!«, rief ein kirgisischer Bauarbeiter aufgeregt dazwischen. »Der Rekord gehört mir! Ich bekam mein Gehalt eine halbe Stunde nach unserer SMS an meinen damaligen Chef«, erklärte er, woraufhin die Versammlung in Gelächter ausbrach.
Dass die Solidariska byggare vor allem von russischsprachigen Mitgliedern geprägt ist, geht nicht zuletzt auf die EU-Osterweiterung von 2004 zurück. Die polnischen und baltischen Akteure, die damals in den Markt einstiegen, sind seitdem zu Mittelsmännern in der Rekrutierung niedrig bezahlter Arbeitskräfte aus Ländern jenseits der EU-Grenzen geworden. Die russischen Invasionen 2014 und 2022 trugen zu einem weiteren Anstieg von Zuzügen aus der Ukraine bei.
Für die Arbeiter aus dem postsowjetischen Osteuropa, aus dem Kaukasus und aus Zentralasien ist die russische Sprache nach wie vor die Lingua Franca. Ihren verschiedenen kulturellen Hintergründen und allen geopolitischen Konflikten zum Trotz ist der innergewerkschaftliche Umgangston meist erstaunlich harmonisch. In der russischsprachigen Telegram-Gruppe der Gewerkschaft erscheinen zwischen offiziellen Bekanntmachungen beispielsweise auch immer wieder Grußbotschaften, in denen Mitglieder einander zu ihren jeweiligen orthodoxen, katholischen oder muslimischen Feiertagen gratulieren und sich mittels freundlicher Emojis gegenseitig dafür bedanken.
Während sich die Erfolgsgeschichten der Gewerkschaft in den migrantischen Communities verbreiteten und zu einem stetigen Mitgliederzustrom führten, fanden die Solidariska byggare Lösungen, wo die großen Gewerkschaften sonst nur Probleme sehen. Mitgliedsbeiträge werden auch in Bargeld, statt nur per Überweisung akzeptiert, Mitglieder werden unabhängig von ihrem Migrationsstatus willkommen geheißen, und im Gegensatz zur normalen Praxis werden Neumitglieder auch in Konflikten unterstützt, die schon vor ihrem Beitritt begannen. Die Gewerkschaft bietet jenen, die Schweden vor Abschluss ihrer Fälle verlassen mussten, sogar einen stark verbilligten, symbolischen Mitgliedschaftstarif an. Deshalb hat die Organisation sogar eine Handvoll Auslandsmitglieder in so entfernten Gegenden wie Kirgistan.
Was einst als eine vor allem von schwedischen Aktivisten betriebene Notanlaufstelle begann, ein »Rotes Kreuz für ausgebeutete migrantische Arbeiter«, wie Emil Boss es nennt, wird inzwischen immer mehr von der Zielgruppe selbst übernommen. »Die Mitglieder haben selber angefangen, zu organisieren«, erklärt Boss. Im Gewerkschaftsvorstand sitzen inzwischen Arbeiter aus Lettland, Montenegro, Georgien, Kirgistan, der Ukraine, Nicaragua und Katalonien.
Auch eine Verwaltungskraft, ein Schatzmeister und mehrere Übersetzer sind migrantische Arbeiter, die einst dazukamen, um in eigenen Arbeitsplatzkonflikten Unterstützung zu bekommen. Seit ihrer Gründung sind die Solidariska byggare exponentiell gewachsen, zählen inzwischen fast tausend Mitglieder, und stellen inzwischen etwa ein Viertel der gesamten Mitgliedschaft von SAC. Für die Muttergewerkschaft, die vorher einen über Jahrzehnte anhalten Mitgliederschwund erlebte, hat dieser Erfolg mittlerweile zu einer Trendwende in der Gesamtmitgliedschaft geführt.
»Innerhalb Schwedens gibt es zuletzt auch Zeichen, dass selbst die großen Gewerkschaften sich aktiver in die Problematik einschalten.«
Doch sofern die breitere schwedische Arbeiterbewegung ihre historischen Errungenschaften erhalten will, mag der kämpferische Ansatz der Solidariska byggare auch über die SAC hinaus ein Zeichen der Zeit sein. Im März beschloss die Malmö-Abteilung der SAC die Gründung einer eigenen Gewerkschaft nach demselben Muster für migrantische Arbeitskräfte im südschwedischen Agrarbereich. Im April wurde wiederum in Stockholm nach demselben Prinzip ein weiterer Ableger gegründet, diesmal für Reinigungskräfte, unter denen besonders migrantische Frauen oft Ausbeutung erleben.
Vorigen Sommer trugen die Solidariska byggare ihren Kampf sogar schon über die schwedischen Grenzen hinaus. Als im hessischen Gräfenhausen rund einhundert, vor allem georgische und usbekische Lastwagenfahrer in einen wilden Streik traten, startete die Gewerkschaft den Internationalen Joe-Hill-Streikfonds. Benannt nach dem schwedisch-amerikanischen Liedermacher und IWW-Gewerkschafter, der 1915 in Utah hingerichtet wurde, sammelt dieser Fonds Spenden, um streikende migrantische Arbeiterinnen und Arbeiter europaweit zu unterstützen.
Innerhalb Schwedens gibt es zuletzt auch Zeichen, dass selbst die großen, der LO zugehörigen Gewerkschaften sich aktiver in die Problematik einschalten. Im Herbst führte die LO-Baugewerkschaft Byggnads ihre erste Eintreibungsblockade seit dreizehn Jahren durch. Gerichtet war diese gegen einen Subunternehmer, der migrantischen Byggnads-Mitgliedern Gehalt schuldete. Anfang dieses Jahres etablierte Byggnads außerdem eine spezialisierte Arbeitsgruppe, die zielgerichtet gegen Schurkenunternehmer ermitteln soll.
Mit Blick auf den Stockholmer Baubereich sieht Emil Boss von den Solidariska byggare zwei Zukunftsszenarien. »Angenommen, die aktivsten Mitglieder erleiden vorher keinen Burnout, wachsen wir entweder weiter, und der Stockholmer Bausektor wird aufgeteilt in eine Gewerkschaft für Migranten und eine für alle anderen. Oder Byggnads wacht auf, nutzt seine enormen Ressourcen und übernimmt unsere Rolle, wonach wir wahrscheinlich wieder eingehen. Auch wenn ich eigentlich kein Optimist bin, denke ich, dass beide dieser Varianten fantastisch wären«, sagt er.
Wie dem auch sei, sind die Solidariska byggare zumindest mittelfristig eine Kraft, mit der man rechnen muss. Dies wurde auch an jenem nebeligen Tag im Februar nochmals klar. Nach einiger Verwirrung wurden der betrogene Bauarbeiter Roman Ramasanow und der Verhandler Pelle Sunvisson in das in einem Container eingerichtete Bauleitungsbüro des Hauptunternehmers eingelassen. Nach einem Gespräch mit dem Bauleiter über die von dessen Subunternehmer enthaltenen Löhne kamen die beiden zu den demonstrierenden Genossen an der Einfahrt zurück. »Man hat uns erklärt, dass man die Frage sehr ernst nehmen würde, und versprochen, sich schnellstens darum zu kümmern«, berichtete Sunvisson.
Zufrieden, ihre Forderungen deutlich gemacht zu haben, rollten die Arbeiter ihr Banner zusammen, um sich auf den Weg zur nahegelegenen U-Bahn-Station zu machen. »Es war übrigens auch ganz klar, dass die genau wissen, mit wem sie es zu tun haben«, fügte Sunvisson mit einem Lächeln hinzu, bevor auch er sich den anderen anschloss und im Nebel verschwand.
Volodya Vagner ist freiberuflicher Journalist und Autor in Schweden mit Schwerpunkt auf Gewerkschaften, sozialen Bewegungen und radikaler Politik, insbesondere im postsozialistischen Eurasien. Er schreibt unter anderem für Novara Media, Open Democracy und VICE.