11. April 2025
Die Schweiz ist eines der wohlhabendsten Länder der Welt. Doch wie ein neuer Sammelband darlegt, haben die meisten seiner Bürger kaum was davon.
Die Bahnhofstraße Shopping-Meile in Zürich.
Wenn über die Schweiz gesprochen wird, sind »Reichtum« und »Neutralität« oft die ersten Schlagworte, die fallen. Die verschwiegenen Schweizer Banken oder Briefkastenfirmen sind vielen ein Begriff. Gleichzeitig versteht sich die Schweiz als eine am Weltgeschehen unbeteiligte Oase. Dieses widersprüchliche Bild durchleuchtet der Sammelband Schweizer Kapitalismus. Erfolgsmodell in der Krise.
Im Interview sprechen die Herausgeber Arman Spéth, Dominic Iten und Lukas Brügger darüber, warum das Bild der neutralen, humanitären Schweiz ein Mythos ist und was die Spezifik des Schweizer Kapitalismus ausmacht.
»Geschichte oder Mythos?« – mit dieser Frage leitet Ihr Euren Sammelband ein. Die Schweiz sei ein beinahe modellhaftes Zentrum der kapitalistischen Welt, das gerade deshalb von Mythen umrankt würde. Von welchen Mythen reden wir?
Die ideologische Identitätsstiftung durch Mythen ist kein Alleinstellungsmerkmal der Schweiz, sondern ein gewöhnlicher Teil des bürgerlichen »Nation-Building«. Mythen stehen in Verbindung mit Erscheinungen der Wirklichkeit, sie entspringen aus den Gesellschaftsverhältnissen selbst, bieten Interpretationsmuster und Handlungsangebote, vermischen Fiktion und Wahrheit. Sie können sich wandeln und in verschiedenen historischen Konstellationen durch unterschiedliche Interessen angerufen werden.
So knüpfen auch die Mythen der Schweiz an Eigenheiten des helvetischen Kleinstaates an, die aber aus ihrem historischen Werden und gesellschaftlichen Zusammenhang gelöst und mit ideologischen Narrativen, Deutungen und Interpretationen verflochten werden. So zum Beispiel die Vorstellung einer reichen Schweiz, die aufgrund von Tugenden wie Fleiss, Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit und Diskretion sowie direkter Demokratie und einer an humanitären Werten orientierten Neutralität zu Stabilität und Reichtum gelangt sei. Viel weniger begegnen wir folgender Darstellung: Die Schweiz profitiert als kleines, aber betreffend die Außenwirtschaft mächtiges kapitalistisches Zentrumsland von den strukturellen Ungleichheiten im globalen Handel und von der asymmetrischen Verteilung der ökologischen und sozialen Lasten.
»Der Mythos einer tugendhaften, reichen Schweiz setzt zwar am durchschnittlich relativ hohen materiellen Lebensstandard in der Schweiz an, leugnet aber, dass dieser zu einem Großteil vom Erfolg des Schweizer Kapitals in den strukturell ungleichen Weltmarktbeziehungen abhängt.«
Von dieser vorteilhaften Positionierung im globalen Handel profitieren bei weitem nicht alle Schweizerinnen und Schweizer. Dazu nur zwei Beispiele: Wird das Pensionskassenvermögen nicht berücksichtigt, so verfügen 55 Prozent der erwachsenen Bevölkerung über ein durchschnittliches Vermögen von weniger als 7.500 Franken, wie Hans Baumann und Robert Fluder in ihrem Beitrag zur Konservierung von Ungleichheit und Klassenstruktur aufzeigen. Und Mascha Madörin, eine Pionierin der feministischen Ökonomie in der Schweiz, zeigt auf, dass Frauen über 80 Prozent ihrer bezahlten und unbezahlten Arbeitszeit für personenbezogene und haushaltsnahe Dienstleistungen (auch Sorge- und Versorgungsarbeit genannt) aufwenden – ein deutliches geschlechterspezifisches Ungleichgewicht. Außerdem verdienen Frauen in der Schweiz jährlich rund 100 Milliarden Franken weniger als Männer.
Der Mythos einer tugendhaften, reichen Schweiz setzt zwar am durchschnittlich relativ hohen materiellen Lebensstandard in der Schweiz an, leugnet aber, dass dieser zu einem Großteil vom Erfolg des Schweizer Kapitals in den strukturell ungleichen Weltmarktbeziehungen abhängt und dass von dessen Erfolg unterschiedliche Klassen in der Schweiz mal überschwänglich, mal kaum profitieren.
Der Untertitel eures Buches lautet: »Erfolgsmodell in der Krise«. Wie ist das genau zu verstehen. Ist der Schweizer Kapitalismus tatsächlich in einer Krise und falls ja, woran macht ihr das fest?
Der Untertitel kann auf zweierlei Arten gedeutet werden: Einerseits stellt die Schweiz ein Erfolgsmodell in Krisenzeiten dar, andererseits steckt heute selbst das so erfolgreiche Schweizer Erfolgsmodell in der Krise. Beide Lesarten haben ihre Berechtigung. Die Schweiz hat sich immer wieder »erfolgreich« durch Krisenzeiten geschlängelt, beispielsweise mittels eines ausgeklügelten strategischen Opportunismus. Das »Erfolgsmodell« wurde selbst durch zahlreiche Krisen geformt und hervorgebracht. Es ist Resultat der Geschichte und seiner Einbettung in das globale kapitalistische Weltsystem. Die Schweiz – ein Erfolgsmodell in und durch Krisen. Diplomatischen Krisen im ausgehenden 19. Jahrhundert, Erster und Zweiter Weltkrieg, Bankenkrise und so weiter: Zahlreiche Beiträge des Sammelbands zeigen, wie die Eigenheiten und Mechanismen des Schweizer Kapitalismus gerade in Krisenperioden geformt werden – bis heute! Man denke gegenwärtig nur an die harten außen- und wirtschaftspolitischen Richtungskämpfe, die im Zuge der aktuellen geopolitischen Umbrüche entflammt sind.
Diese Historisierung der Entstehung und Entwicklung des Schweizer Kapitalismus in Eurem Buch sticht bei der Lektüre ins Auge. Dabei stellt sich die Frage: Wie verhält sich dabei das Modellhafte zu den spezifischen historischen Umständen des Schweizer Kapitalismus? Welche Unterschiede bestehen zu anderen Ländern im kapitalistischen Zentrum?
Die Vorstellung des Schweizer Kapitalismus als modellhaftes Zentrumsland ist eine Zuspitzung. Dennoch weist er durchaus idealtypische Merkmale auf: Insbesondere die starke Position des Schweizer Kapitals auf dem Weltmarkt spiegelt die globalen Ungleichheiten und hierarchischen Strukturen des Kapitalismus wider. Der Beitrag von Arman Spéth und Michael Graff zeigt, dass die Zahl der Beschäftigten in Schweizer Tochtergesellschaften im Ausland von 575.000 im Jahr 1985 auf knapp 2,3 Millionen im Jahr 2022 gestiegen ist. Ergänzend dazu verdeutlichen Anke Schaffartzik, Hanspeter Wieland und Christian Dorninger in ihrer Analyse, dass im Jahr 2020 insgesamt 5,7 Millionen Menschen außerhalb der Schweiz das ganze Jahr über für die Schweizer Endnachfrage gearbeitet haben. Damit arbeiteten im Ausland mehr Menschen für die Schweizer Endnachfrage, als in der Schweiz selbst beschäftigt sind!
»Das Neutralitätskonzept bleibt in Zeiten der Blockbildung und strategischen Neuausrichtungen von Interessen umkämpft und kann nicht nur zu einer Zerreißprobe für das rechtsbürgerliche Lager werden, sondern auch für die Linke in der Schweiz.«
Gleichzeitig weist die Schweiz, wie jede kapitalistische Gesellschaft, auch spezifische Eigenheiten auf, die historisch gewachsen sind. Zahlreiche Beiträge im Sammelband beleuchten die vielfältigen historischen Bedingungen, die die Entstehung und Entwicklung des Schweizer Kapitalismus geprägt haben. Sie spannen einen Bogen von der Bedeutung des Alpenhandels für die Entstehung von Handelszentren und der Rolle des Soldwesens im Frühkapitalismus über die Stellung der Schweiz in europäischen Großmachtkonflikten bis hin zur Herausbildung des opportunistischen Neutralitätskonzepts. Weitere Themen sind der Schweizer Weg in den fossilen Kapitalismus und ökologischen Imperialismus, die Entwicklung von Profitraten und Ungleichheiten seit dem Zweiten Weltkrieg sowie die aktuellen Herausforderungen des »Erfolgsmodells« Schweiz in einer zunehmend blockbildenden Weltordnung.
Dabei zeigen sich die Eigentümlichkeiten des Schweizer Kapitalismus, wie beispielsweise der Einfluss der kleinen Staatsgröße, Föderalismus und Vielsprachigkeit auf das politische System oder den Schweizer Medienmarkt, die aber stets mit dem globalen kapitalistischen Gesamtzusammenhang und den der kapitalistischen Produktionsweisen inhärenten Krisendynamiken verwoben sind. Die Historisierung und Verflechtung der Schweiz in die globale politische Ökonomie sind zentral, um die oben genannten Mythen in Richtung der Wirklichkeit aufzulösen.
Die starke internationale Verflechtung des Schweizer Kapitalismus ist neben der Historisierung ein weiterer roter Faden, der sich durch viele Beiträge zieht. Sei es das Bankenwesen, der ökologisch ungleiche Tausch oder insbesondere die Beteiligung an Sklavenhandel und Kolonialismus: die Schweiz erscheint wesentlich verwickelt in den globalen Kapitalismus. Das steht, zumindest auf den ersten Blick, in Konflikt mit dem Mythos der neutralen humanitären Schweiz, die sich aus den Geschehnissen der Welt diplomatisch heraushält oder lediglich als Vermittlerin auftritt. Welche historischen Wurzeln hat dieses Selbstbild?
Der Mythos der neutralen humanitären Schweiz wird wesentlich in zwei Beiträgen behandelt. Der Historiker Georg Kreis zeigt in seiner Studie auf, wie Akteure der herrschenden Klasse in der Schweiz in der Beziehung zum Apartheid-Regime in Südafrika zwar in der Rhetorik die humanitäre, an Menschenrechte orientierte Schweiz mimte, ihr Handeln allerdings von der Generierung von finanziellen Erträgen bestimmt blieb – ein konkretes Beispiel dafür, wie der Mythos der humanitären und neutralen Schweiz eine Fundgrube an Ideologemen bildet, aus der – je nach historischer Konstellation und Interessenslage – Versatzstücke geholt werden können. Mittels derer kann dann entweder Untätigkeit im Handeln kompensiert werden, oder sie sorgen für eine strukturelle Verschleierung der politökonomischen Verhältnisse und Konstellationen, aus denen sie selbst entspringen.
Die historischen Wurzeln und widerspruchsvolle Entwicklung des Selbstbildes der neutralen Schweiz wird ausführlich in Dominic Itens Beitrag untersucht. Dabei ranken sich selbst um die Ursprünge des Neutralitätskonzeptes Mythen, denn das »Myth-Building« ist Produkt historischer Gegebenheiten mit spezifischen politökonomischen und ideologischen Kräfteverhältnissen. Die erstmalige Verankerung der Neutralität im kollektiven Bewusstsein der Schweiz geschah Ende des 19. Jahrhunderts in einer historischen Konstellation, in der die Schweiz die Großmächte in der Wohlgemuth-Affäre verärgerte und diese der Schweiz bewusst machten, dass die Neutralität ein durch sie im Jahre 1815 gewährtes Privileg darstellt. Nun begann das Bemühen, die Neutralität endgültig als Staatsmaxime und als weit zurückgehende Tradition zu etablieren. Der Mythos der Neutralität ist älter, wurde da aber entscheidend geformt.
Dieser Mythos und seine Ideologeme sind bis heute in Bewegung. Die Schweizerische Volkspartei hat eine »Neutralitätsinitiative« lanciert. Erstmals soll die politische Interpretation der Schweizer Neutralität verfassungsrechtlich festgeschrieben werden. Ausserdem bleibt das Neutralitätskonzept in Zeiten der Blockbildung und strategischen Neuausrichtungen von Interessen umkämpft und kann nicht nur zu einer Zerreißprobe für das rechtsbürgerliche Lager werden, sondern auch für die Linke in der Schweiz.
Ich möchte auf die oben angesprochenen Klassenverhältnisse in der Schweiz zurückkommen. Dass die reiche Schweiz keineswegs eine Insel des Wohlstands für alle bildet, zeigen die Beiträge zu Sozialstrukturen und Klassenverhältnissen. Wie gestalten sich die »realen Unterschiede« in der Schweiz?
Von Wolfgang Fritz Haug stammt der Satz: »Die bürgerlichen ideologischen Apparate organisieren das aggressive Schweigen über das kapitalistische Klassenverhältnis.« Und in der Schweiz war genau dieses Schweigen bislang sehr stark spürbar. Es stützt den nationalistischen Mythos eines homogenen Blocks des Wohlstands. Verschiedene Beiträge beleuchten die Klassen- und Sozialstruktur, die Entwicklung der Ungleichheit, die Migrationspolitik, oder die Sorge- und Versorgungswirtschaft, und brechen damit dieses Schweigen.
Die folgenden Beispiele, die aus den Beiträgen im Sammelband zur Klassenstruktur und Ungleichheiten in der Schweiz stammen, veranschaulichen ergänzend zu den eingangs erwähnten Zahlen die Ungleichheit in der Schweiz: 1 Prozent der privaten Steuerpflichtigen besitzt über 42 Prozent des Reinvermögens, während mehr als die Hälfte der Steuerpflichtigen zusammen auf weniger als 1,5 Prozent kommt, schreibt der emeritierte Soziologe Ueli Mäder in seinem Beitrag. Viele von ihnen sind auf zusätzliche Unterstützung angewiesen, was sich in den Sozialausgaben widerspiegelt – diese machten, so Mäder, zwischen 2005 und 2020, also bis zum ersten Corona-Jahr, konstant rund 20,5 Prozent des Bruttoinlandprodukts aus.
»Die Sorge- und Versorgungswirtschaft in der Schweiz blieb lange verschleiert und musste erst durch die Pionierarbeit feministischer Ökonominnen und Ökonomen sichtbar gemacht werden.«
Seit den 1990er Jahren klafft die Schere zwischen der Entwicklung der Reallöhne und der Arbeitsproduktivität immer weiter auseinander, wie der Beitrag von Hans Baumann und Robert Fluder aufzeigt. Ein Vergleich der Reallohnentwicklung mit der Arbeitsproduktivität seit 1991 verdeutlicht eine markante Umverteilung: weg von den Löhnen hin zu den Gewinnen, Vermögenseinkommen sowie Kapital- und Spitzeneinkommen. Besonders auffällig ist, dass seit Mitte der 1990er Jahre die Spitzenlöhne – insbesondere im obersten Promille und obersten Prozent – deutlich stärker gestiegen sind als die mittleren Löhne. Darüber hinaus verfügen die reichsten 10 Prozent mit knapp einem Drittel des gesamten Einkommens über einen weitaus größeren Anteil als die untere Hälfte der Bevölkerung, die mit weniger als einem Viertel auskommen muss.
Doch was in Statistiken erscheint, ist meist nur ein Teil der Realität. So blieb die Sorge- und Versorgungswirtschaft in der Schweiz lange verschleiert und musste erst durch die Pionierarbeit feministischer Ökonominnen und Ökonomen sichtbar gemacht werden. Der bereits erwähnte Beitrag von Mascha Madörin zeigt, wie groß die Sorge- und Versorgungswirtschaft in der Schweiz im Vergleich zum Rest der Wirtschaft ist – zumindest, wenn wir die Arbeitsvolumina betrachten. Anders verhält es sich jedoch, wenn es um Geld geht. Da die Sorge- und Versorgungsarbeit unzureichend finanziert und größtenteils in den privaten Bereich verlagert wird, kann sich das »Geschäftsmodell Schweiz« eine Niedrigsteuerpolitik leisten, die große Konzerne und vermögende Privatpersonen anziehen soll.
Ebenfalls bleibt ohne Analyse die durch die Integrationspolitik hervorgerufene Ungleichheit weitestgehend unsichtbar. Jacqueline Kalbermatter zeigt in ihrem Beitrag, wie die mit der rigiden Integrationspolitik verbundene, staatlich kontrollierte Absenkung des für Migrantinnen und Migranten notwendigen Reproduktionsniveaus zentral ist für die Bewältigung von Arbeitskraftproblemen im Niedriglohnbereich. Sie dient nicht nur der Sicherstellung disziplinierter Arbeitskräfte, sondern auch der Minimierung ihrer Reproduktionssicherung.
Verschiedene Beiträge im Sammelband versuchen also, Facetten der Klassenstruktur und Ungleichheiten in der Schweiz zu beleuchten, die im politischen Alltag immer wieder von Mythen – wie dem zu Beginn genannten Mythos der auf Tugenden basierenden reichen Schweiz – überschattet werden.
Ihr habt den letzten Teil des Buches der Frage nach den Spielräumen in der institutionellen Schweizer Politik gewidmet. Die Schweizer Demokratie wird international oft von Linken bewundert, da das System der direkten Demokratie die Möglichkeit von konkreten politischen Veränderungen impliziert. Trotzdem gelang es linken Kräften in der Schweiz bisher kaum auf diese Weise erfolgreich zu sein. Inwiefern lässt sich dies auf die Eigenheiten des Schweizer Kapitalismus zurückführen? Welche Rolle spielt die Form der Politik für die politische Ökonomie der Schweiz?
Das politische System der Schweiz ist nicht nur durch eine relativ ausgeprägte direkte Demokratie und eine föderalistische Struktur gekennzeichnet, sondern auch durch das Prinzip der Konkordanz, also einer Praxis, in der es offiziell keine Opposition gibt. Die direkte Demokratie erscheint als Prozess, durch den alle politischen Akteure in die Institutionen eingebunden und Anliegen aus der Bevölkerung in die politische Debatte aufgenommen werden. Mechanismen des sozialen Friedens sind in der Schweiz besonders stark verankert, und das Selbstverständnis der »Volksherrschaft« ist weit verbreitet.
»Die Einbindung der Schweiz in die internationale Staatenkonkurrenz und die damit verbundenen ökonomischen Sachzwänge schränken den Handlungsspielraum für die politischen Akteure im erheblichen Maße ein.«
Das im Sammelband enthaltene Gespräch mit dem Eliteforscher Matthias Leimgruber und der Eliteforscherin Stéphanie Ginalski zeigt hingegen deutlich, wie sich auch rund um die direkte Demokratie Wahrheit und Fiktion vermischen. Es lohnt sich, einen prägnanten Ausschnitt aus dem Interview direkt zu zitieren: »Obwohl die politische Macht seit dem 19. Jahrhundert durch Föderalismus und direkte Demokratie institutionell weniger konzentriert ist als in anderen Ländern, bedeutet dies nicht, dass die Entscheidungsgewalt in den Händen des Stimmvolkes liegt. Es handelt sich also um einen Mythos, denn auch die Schweiz hat ihre Eliten. Und innerhalb dieser Eliten spielen die Wirtschaftseliten eine Schlüsselrolle in der Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaft.«
Dass es sich in der Schweiz bislang gesellschaftspolitisch konfliktarm leben ließ, hat wohl auch dazu beigetragen, dass sich Mythen rund um die direkte Demokratie ranken. Dies im Kontext der bereits mehrfach erwähnten ökonomischen Einbettung des Schweizer Kapitalismus in die globale politische Ökonomie und der damit verbundenen robusten Ökonomie. In Verbindung mit den direktdemokratischen Integrationsmechanismen wird eine hohe politischer Konformität erzeugt, die auch die Politik der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften prägen: Sozialpartnerschaft ist hier das Stichwort. Und auch dies leistet seinen Beitrag zur Bildung des Mythos der Schweiz als einen homogenen Block des relativen Wohlstandes.
Was können die Linken in dieser Konstellation tun? Das wollten wir von Franco Cavalli wissen, der jahrzehntelang innerhalb des Schweizer Staatsapparates linke Akzente setzte. Er schlägt vor, eine Doppelspur-Politik zu fahren. Da es in der Schweiz – anders als in den meisten anderen Ländern – keinen Wechsel zwischen Regierung und Opposition gebe, solle auch die radikale Linke eine Regierungsbeteiligung auf kantonaler und eidgenössischer Ebene nicht grundsätzlich ausschließen, sofern Spielraum für tiefgreifende Reformen bestehe. Gleichzeitig dürfe sie nicht darauf verzichten, sich weiterhin als oppositionelle Kraft gegenüber der kapitalistischen Gesellschaft zu positionieren – sei es durch Initiativen, Referenden, Kundgebungen oder durch die Zusammenarbeit mit außerparlamentarischen Gruppen und linken Gewerkschaften. Ob eine Regierungsbeteiligung sinnvoll sei, hänge letztlich von der jeweiligen historischen Situation und dem bestehenden Kräfteverhältnis in der Gesellschaft ab. Man solle die direkte Demokratie zwar weiter ausbauen, doch gerade in der aktuellen Situation, in der die Rechte die Oberhand habe, zeige sich, dass die direkte Demokratie in dieser aktuellen Kräftekonstellation nicht viel nütze.
Dabei darf man eines nicht vergessen: Die Einbindung der Schweiz in die internationale Staatenkonkurrenz und die damit verbundenen ökonomischen Sachzwänge schränken den Handlungsspielraum für die politischen Akteure im erheblichen Maße ein. Das zeigt sich auch deutlich in den aktuellen Krisendynamiken des globalen Kapitalismus und den daraus resultierenden Stürmen, in der die Schweiz hin und her wankt, in denen neuen Mythen und Ideologeme entstehen, die Wahrheit und Fiktion verschränken – symptom- und beispielhaft zu beobachten in aktuellen Debatten rund um eine Zeitenwende, die bis weit ins linke Lager auch in der Schweiz hinein beschworen wird.
Arman Spéth ist Doktorand und forscht über die Entwicklung des Kapitalismus in Kasachstan. Er schreibt für verschiedene linke Zeitschriften und war Mitglied des Redaktionsteams der Schweizer Zeitschrift Widerspruch: Beiträge zu sozialistischer Politik.
Dominic Iten studierte Geschichte und Soziologie in Bern. Zu den Schwerpunkten seiner Arbeit gehören die Geschichte und die politische Ökonomie der Schweiz.
Lukas Brügger absolvierte eine Berufslehre als Detailhandelsfachmann EFZ, studierte danach Journalismus und Organisationskommunikation und später Soziologie und Politologie.