12. Oktober 2020
Die Schweizer Nationalräte Mattea Meyer und Cédric Wermuth kandidieren gemeinsam für das Amt der Parteiführung der SP. Wie ein linker Aufbruch gelingen könnte, erklären sie im JACOBIN-Interview.
Cédric Wermuth und Mattea Meyer treten gemeinsam in der Wahl um das SP-Präsidium an.
In den letzten Jahren gab es viele Versuche, die europäische Sozialdemokratie nach links zu ziehen. Manche weckten große Hoffnungen, viele endeten in Enttäuschung. Nun ist die Sozialdemokratische Partei der Schweiz (SP) an der Reihe.
Mattea Meyer und Cédric Wermuth treten zusammen an, um die Nachfolge des amtierenden Parteipräsidenten Christian Levrat zu übernehmen. Beide kommen von den Jusos und gehören dem linken Flügel der Partei an. Sie plädieren für mehr Mitgliederbeteiligung, eine politische Orientierung auf soziale Bewegungen und Gewerkschaften sowie zeitgemäße Transformationsstrategien gegen soziale Ungleichheit und die voranschreitende ökologische Krise.
Da Meyer und Wermuth ohne nennenswerte Konkurrenz in die bevorstehende Wahl am 17. Oktober gehen, werden sie aller Voraussicht nach ab nächster Woche die Partei anführen. Kürzlich sprachen die beiden mit Jacobin darüber, was sie politisch vorhaben, und wie sie linke Politik ins Parlament tragen wollen.
Am 17. Oktober findet die Wahl zum Ko-Präsidium der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz (SP) statt. Aller Voraussicht nach werdet Ihr eine überragende Mehrheit gewinnen. Was wäre Eure erste Amtshandlung?
MM: Das erste, was wir tun werden ist, mit den Leuten reden, die aktuell die Partei maßgeblich prägen. Wir sind selber schon seit 15 Jahren politisch aktiv, aber würden dann trotzdem in einer neuen Funktion agieren. Wir wollen hören, wo sie die Zukunft der Partei sehen, sei dies inhaltlich oder aber organisatorisch.
CW: Wir stimmen im November in der Schweiz bereits über die nächsten Vorlagen ab. Die sogenannte »Konzernverantwortungsinitiative« liegt uns dabei besonders am Herzen. Da geht es darum, dass in Zukunft Konzerne mit Sitz in der Schweiz für Menschenrechtsverletzungen und Umweltzerstörungen, die sie im Ausland begehen, in der Schweiz haftbar sein sollen. Das ist Teil unseres Wahlprogramms: Die Sozialdemokratie muss die internationalistische Dimension ihrer Politik stärken.
MM: Hinzu kommt eine zweite Vorlage die fordert, dass unsere Pensionskassen und Banken nicht in Kriegsgeschäfte investieren dürfen. Vor allem für die Konzernverantwortungsinitiative gibt es seit Monaten eine sehr breite Mobilisierung, das stimmt mich zuversichtlich. Ich habe noch nie einen solchen Abstimmungskampf erlebt, und die Bürgerlichen haben unglaublich Angst, dass sie verlieren werden.
Ihr sprecht in Eurem Programm viel von einem »linken Aufbruch«, den Ihr gemeinsam mit der Partei und ihren Wählern hinkriegen wollt. Was bedeutet das konkret? Rot-Rot-Grün, wie man es hier in der Bundesrepublik vielleicht anstreben würde, gibt es in eurem Wahlsystem in der Schweiz ja nicht.
CW: Die Antworten der Linken müssen auf der Höhe der Zeit sein, das ist damit gemeint. Wir wollen ein Programm gestalten, das eine Antwort auf die Krise des Kapitalismus formuliert – ein Programm, das die feministischen und antirassistischen Bewegungen mit der Ökologie zusammenbringt und ein Modell für das 21. Jahrhundert vorbringt und das Leben der Menschen ganz konkret verbessert.
Insbesondere Mattea hat in den letzten Monaten einige Mehrheiten im Parlament mitgeschaffen, von denen wir selber überrascht waren. Wir führen z.B. eine neue Sozialversicherung ein für Menschen über 60, die ihre Stelle verlieren, die sogenannte »Überbrückungssrente«. Aufbruch heißt aber auch, mehr Menschen für Politik zu begeistern als bisher.
MM: Es lohnt sich manchmal ein Blick in die Geschichte. Es ist die Sozialdemokratie, die maßgeblich die Politik der Schweiz im 20. Jahrhundert geprägt hat. Es ist der Sozialdemokratie zu verdanken, dass wir die AHV – das ist die umlagefinanzierte Altersvorsorge – haben, die Menschen von einer Existenznot befreit. Es waren unsere Leute, die an vorderster Front für das Frauenstimmrecht kämpften – das in der Schweiz erst 1971 eingeführt wurde – und die bereits in den 1970er und 1980er Jahren die Anti-AKW-Bewegung mitgeprägt haben.
Aber dann kam in den 1990er und 2000er Jahren ein politischer Backlash. Wir sind in dieser Zeit politisiert worden. Es ging einfach nur noch um Abwehren – ein Abwehrkampf gegen den Neoliberalismus, der alles überrollt. Aber es gab sehr wenig Fortschrittliches darunter. Mit »Aufbruch« meinen wir: jetzt muss es endlich wieder vorwärts gehen, aufwärts gehen. Und da soll die Sozialdemokratie eine tragende Rolle spielen.
Die Schweiz ist ein wohlhabendes Land mit einer sehr niedrigen Arbeitslosenquote und einer sehr niedrigen Armutsquote. Wofür kämpft die Linke in der Schweiz?
MM: Es stimmt, dass bei uns niemand auf der Straße leben muss. Aber der Druck auf die Sozialhilfe, quasi das letzte Auffangnetz, ist enorm. Die Menschen werden in der öffentlichen Debatte als Sozialschmarotzer abgestempelt und entwürdigt. Die Betroffenen müssen zwar nicht hungern, aber eine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ist kaum möglich. Wir haben zum Beispiel ein System, in dem Migrantinnen, Migranten und Asylsuchende eine massiv tiefere Sozialhilfe kriegen. Das was an Leistungen da ist, muss gegen Angriffe von rechts verteidigt werden.
Abwehren reicht aber einfach nicht. Die Corona-Krise hat gezeigt, dass es zehntausende von prekär Beschäftigten und Selbstständigen gibt, die nebst der Sozialhilfe keine soziale oder wirtschaftliche Absicherung haben. Sie haben zum Beispiel keinen Zugang zur Arbeitslosenversicherung, welche sehr viel umfassendere Leistungen bietet als die Sozialhilfe. Und ich glaube, dass wir jetzt ein Moment haben, wo man neue Mehrheiten für einen Ausbau dieser sozialen Leistungen hinkriegen kann.
CW: Es stimmt zwar, dass die Schweizer Löhne im europäischen Vergleich sehr hoch sind. Aber was man nicht vergessen darf, ist, dass die Menschen von dem, was am Ende des Monats auf dem Lohnzettel steht, noch ihre Steuern, einen Teil ihrer Altersvorsorge und die Krankenversicherung zusätzlich finanzieren müssen. Letztere wird bei uns extrem unsolidarisch finanziert – wir bezahlen alle pro Kopf die gleichen Beträge, egal wie hoch Einkommen oder Vermögen ist. Außerdem sind die Mieten so explosionsartig gestiegen, dass Du in großen Städten locker 2.500 Franken oder mehr für eine normale Familienwohnung zahlst.
Die wirtschaftlichen Erfolge der letzten 30 Jahre wurden brutal ungleich verteilt. Insbesondere bei den Vermögen ist die Schweiz sehr ungleich, auch bei den Einkommen hat sich das in den letzten Jahren so entwickelt. Das spüren die Menschen mit dem Druck im Erwerbsleben und da gibt es Kämpfe um die Verteilung dieses Reichtums, die wir anführen müssen.
In der Schweiz ist vieles, was in Deutschland öffentlich organisiert ist, noch privat. Wir haben z.B. relativ wenig Kindertagesstätten, auf dem Land manchmal gar keine. Dort wo ich wohne kostet die Betreuung von zwei Kindern für zwei Tage die Woche gut 25.000 Franken, sofern du keine Subventionen bekommst. Wir können es uns leisten, weil wir beide gut verdienen, aber für viele ist das nicht finanzierbar.
Wir haben massiven Bedarf in der Pflege, das Problem habt Ihr in Deutschland auch. Wir brauchen zehntausende zusätzliche Pflegerinnen und Pfleger, und sie werden zu Arbeitsbedingungen angestellt, die erodiert sind in den letzten Jahren. Das sind die Kämpfe, an denen wir ansetzen müssen.
Was wir in der Schweiz aber geschafft haben, insbesondere die SP und die Gewerkschaften, war die Deregulierung des Arbeitsmarktes und die Privatisierung des Sozialstaates größtenteils zu verhindern. Wir konnten auf dem politischen Weg das System der so genannten »Flankierenden Massnahmen« (u.a. allgemeinverbindliche Gesamtarbeitsverträge und systematische Lohnkontrollen) stark ausdehnen, wir haben heute das höchste Kontrollniveau in ganz Europa. Darum gibt es in der Schweiz keinen Tieflohnsektor, wie ihn unsere Nachbarn kennen. Wir haben nach wie vor im Wesentlichen das Monopol über die Grundinfrastruktur. Elektrizität, Wasser, Gesundheitsversorgung und Bildung ist noch sehr stark staatlich reguliert und kommunal.
Cédric, Du vor ein paar Monaten das Buch Die Service-public-Revolution zusammen mit Beat Ringger veröffentlicht. Darin plädierst Du für einen Ausbau des Schweizer-Modells, um die gesellschaftliche Arbeitsteilung gerechter umzugestalten. Wofür steht dieses Konzept und wie kann eine parlamentarische Linke garantieren, dass eine solche Umgestaltung nicht in der nächsten Krise wieder rückgängig gemacht wird?
CW: Der »Service public« ist eine sehr schweizerische Begrifflichkeit, der vor allem in den 1990er Jahre an Relevanz gewann als sich die Frage stellte, ob die Schweiz das ökonomische Modell Europas auf dem Weg zur Liberalisierung der öffentlichen Dienstleistungen übernimmt. Es waren insbesondere die Gewerkschaften und die französischsprachige Linke, die sich dem widersetzt haben. Der Begriff des »Service public« geht über die Grundsicherung hinaus, gemeint sind die öffentlichen Infrastrukturen im weiteren Sinne, z.B. auch die Volksschulen.
In unserem Buch formulieren wir eine Transformationsstrategie. Im Jahr 2010 hat die SP schon in ihrem Programm eine sozial-ökologische Wirtschaftsdemokratie gefordert, aber es war relativ schwierig, das Konzept der Wirtschaftsdemokratie unter diesem Begriff verständlich zu machen. Der Versuch der Service-public-Revolution ist, aufzuzeigen, dass es die Logik der Kapitalverwertung ist, die uns politisch blockiert. Und, dass die Menschen dagegen immer schon Widerstand geleistet haben, Spuren davon finden wir eben z.B. in den öffentlichen Diensten. Darin steckt großes Widerstandspotenzial, von der Altersvorsorge über Genossenschaftsbanken bis hin zur Frage, wie die Kinderbetreuung organisiert werden soll.
Während der Corona-Krise hatten wir in der Schweiz plötzlich eine Debatte über die gesellschaftliche Solidarität und die Handlungsfähigkeit der öffentlichen Hand. Man hat innerhalb von 48 Stunden das größte Hilfspaket, das die Schweiz jemals gesehen hat, für die Industrie mobilisiert. Warum kann man sowas nicht machen, wenn es um Sozialwerke oder die Klimakrise geht? An diesen Gedanken knüpft unser Buch an.
Wir meinen, das Schweizer Modell könnte durchaus auch Dinge beinhalten, die als Vorbild für eine europäische Linke dienen könnten. Wie gesagt, die Basisinfrastrukturen sind hierzulande nach wie vor stark kommunal organisiert, der Arbeitsmarkt stark kontrolliert. Das wären Modelle, die auch über die Landesgrenzen der Schweiz hinweg ausgebaut werden könnten für ein solidarisches Europa.
Die Idee des Buches ist nicht neu: Wir suchen nach den bekannten nicht-reformistischen Reformen. Das Buch macht eine ganze Reihe von Vorschlägen von den Finanzdienstleistungen bis zum öffentlichen Verkehr, wo wir für eine Transformation ansetzen können und sollten.
MM: Diese Projekte sind übrigens auch sehr mehrheitsfähig. Die Menschen realisieren: das verbessert unser Leben und nicht der angeblich freie Markt. Solidarität im Alltag und verlässliche staatliche Leistungen haben uns durch die Corona-Krise getragen, während der »freie Markt« dafür gesorgt hat, dass die Maskenpreise in die Höhe getrieben wurden.
In Eurem Programm fordert Ihr, den Schweizer Finanzplatz zu einem weltweiten Vorbild für einen sozial-ökologisch nachhaltigen Finanzplatz zu machen. Müssten Linke nicht eher die Frage stellen, ob die Welt solche Finanzplätze überhaupt braucht?
CW: Doch natürlich. Aber die Frage ist: Wie kommen wir dahin? Wir werden so schnell keine Alternative zu Krediten für eine gesellschaftliche Steuerung etablieren. Also schränken wir den Finanzplatz so stark ein, dass er nur noch finanzieren darf, was die solidarische und ökologische Gesellschaft voranbringt. Damit verliert die Finanzindustrie auch automatisch an gesellschaftlicher Bedeutung. Für die Schweiz ist das glaube ich die realistische Strategie.
MM: Außerdem ist der Finanzplatz der Schweiz international gesehen ein wichtiger und mächtiger Hebel, mit dem wir Einfluss nehmen können. Ein Verbot in klimaschädliche Investitionen wäre sehr viel wirkungsvoller, als Plastiksäcke beim Einkaufen zu verbieten. Uns geht es darum, hier die Banken in die Pflicht zu nehmen und ihre bedeutende Rolle für die Umweltzerstörung zu thematisieren.
CW: Außerdem ist der Kampf gegen die absolut unhaltbare Rolle des Schweizer Finanzplatzes im internationalen Finanzkapitalismus für die Linke in der Schweiz zumindest seit den 1970er Jahren konstituierend, zum Beispiel unser Kampf gegen das Bankgeheimnis. Wer den Finanzplatz in der Schweiz in Frage stellt gilt nach wie vor als Landesverräter. Das ist als würde man in Deutschland sagen, wir wollen die Autoindustrie abschaffen.
Es gab in den letzten Jahren in der Schweiz eine Reihe von lokalen Mindestlohninitiativen. Davon habe ich relativ wenig in Eurem Programm gefunden.
CW: Die Ausgangslage in der Schweiz ist anders. 1992 hat sich die Schweiz gegen einen Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum EWR entschieden. Danach gab es den sogenannten »bilateralen Weg«, bilaterale Verträge zwischen der EU und der Schweiz. Die Schweizer Gewerkschaften haben im Rahmen dieses bilateralen Wegs die sogenannten »flankierenden Maßnahmen« durchgesetzt: das bedeutet, dass das Lohnsystem durch die Gewerkschaften, das Kapital und den Staat gemeinsam kontrolliert und reguliert werden.
Das geht viel weiter als der Mindestlohn, weil in diesen Tarifverträgen dann nicht nur die Mindestlöhne gesetzt werden, sondern auch alle darüberhinausgehenden Lohnstufen und Sozialversicherungsansprüche. Wir haben zum Beispiel im Bau die Rente von 65 auf 60 absenken können – ein einmaliger Vorgang in Europa. Wegen dieser Entwicklung hat die Debatte um den Mindestlohn lange etwas an Gewicht verloren. Allerdings ereignet sich gerade jetzt eine Trendwende. Mit dem Kanton Genf hat eben der – wenn ich mich nicht täusche – vierte Kanton einen lokalen Mindestlohn eingeführt.
Ihr plädiert für eine schweizerische Beteiligung am Green Deal der EU, der aber hierzulande von links als nichtausreichend kritisiert wird. Müsste nicht die Schweiz, wie eben alle Industrieländer, viel mehr tun?
CW: Wir sind die einzige Partei in der Schweiz, die sagt: Wenn wir Klimagerechtigkeit meinen, dann meinen wir Klima als Klassenfrage. Es geht darum, unsere Gesellschaft so umzubauen, dass diejenigen, die auch tatsächlich verantwortlich sind, zur Rechenschaft gezogen werden. Die reichsten zehn Prozent in den Industriegesellschaften verursachen gleich viele Emissionen wie die untere Hälfte der Gesellschaft. Natürlich ist der Green New Deal der EU in diesem Sinne nicht ausreichend. Aber ich hätte vor ein paar Jahren nicht mal darauf gewettet. Ich finde wir sollten da ansetzen. Der Schweizer Finanzplatz ist der globale Verwalter der Klimakatastrophe. Er verursacht über zwanzig Mal höhere Klimaschäden als die gesamte Schweizer Bevölkerung zusammen. Darum ist das für uns ein zentrale Auseinandersetzung.
MM: Wir haben es hier mit der größten Bedrohung der Menschheit zu tun. Wir müssen jeden noch so kleinen Schritt gehen, um die Krise zu stoppen. Und dazu gehört der Green Deal, auch wenn er nicht weit genug geht.
Das entbindet uns aber nicht vor einer grundsätzlichen Kritik. »System change, not climate change« ist zu Recht die Parole der Stunde. Denn es gibt Gruppierungen, die sagen, jede und jeder ist gleich verantwortlich und muss ihren oder seinen Beitrag leisten. Das ist die Antwort der Mächtigen auf die Klimaproteste. Doch auch bei der grünen Bewegungen gibt es Leute, die sagen, nur wer vegan lebt und noch nie ein Flugzeug von innen gesehen hat, trägt dazu bei, die Klimakrise abzuwenden. Das finde ich wenig zielführend.
Die Grünen sind im Nationalrat so stark vertreten wie noch nie. Oft wird nahegelegt, dass sie Eure engsten politischen Bündnispartner sind. Allerdings wissen wir aus Deutschland und Österreich, in welche Richtung bürgerliche grüne Politik gehen kann. Glaubt Ihr, dass die Grünen ein verlässlicher Partner sein können für einen sozial-ökologischen Wandel?
MM: Die Grünen waren schon vor der Wahl unsere engsten Verbündeten. In 95 Prozent der Fragen, über die wir hier im Parlament abstimmen, sind wir deckungsgleich. Ich glaube, es ist eher die Geschichte, die eine andere ist. Die SP hat eine 130-jährige Geschichte und kommt aus der Arbeiterbewegung. Die Grünen haben eine Geschichte von 30, 40 Jahren und kommen aus der Ökologie-Bewegung. Das zieht unterschiedliche Menschen an.
Hinzu kommt aber auch, dass die Antworten zum Teil andere sind. Die Grünen werden unglaublich stark als monothematische Partei wahrgenommen, noch stärker als in Deutschland oder Österreich. Die Kompetenzen, die man den Grünen zuspricht, sind ausschließlich im ökologischen Bereich. Die SP ist breiter aufgestellt.
CW: In der Schweiz generell sind die nationalen Parteien bundesweit eher wie Föderationen, und bei den Grünen ist das nochmal extremer. Ich komme aus einem Kanton, in dem die Grünen sicher rechts von uns stehen, aber auf nationaler Ebene sind die Grünen und wir praktisch deckungsgleich. Das ist kein Vergleich mit Deutschland.
Hätten wir dieses Interview vor einem Jahr geführt, wäre die Ausgangslage eine andere gewesen: Jeremy Corbyn hat die Labour-Partei noch angeführt, Bernie Sanders war noch im Rennen. Mittlerweile scheint dieser Moment des linken, sozialdemokratischen Aufbruchs erstmal abgeflaut zu sein – außer, scheinbar, in der Schweiz. Was habt Ihr aus dieser Erfahrung gelernt?
CW: Bernie Sanders hat als erster in den USA die Arbeit der parlamentarischen Linken mit einer gesellschaftliche Mobilisierung verbunden, weil er verstanden hat, dass nur das langfristig Machtverhältnisse verändert. Er lag offensichtlich richtig. Diese Lektion ist wichtig. Im Grunde hat Sanders ja versucht, ein neues Subjekt für eine progressive Gesellschaft zusammenzubringen, von der Arbeiterklasse bis zu Black Lives Matter. Das ist sicher der Weg vorwärts.
Wenn vor fünf oder sechs Jahren jemand behauptet hätte, Sanders käme in die Nähe eines Politikwechsels in den USA, dann hätte das niemand geglaubt. Wir sollen nicht so tun, als wäre das alles erfolglos gewesen. Sanders und Corbyn haben gezeigt, dass man mit diesen Strategien etwas erreichen kann.
MM: Außerdem darf man nicht vergessen: sie zwingen Joe Biden nach links.
Naja, das wird sich noch zeigen.
MM: Ja, klar. Aber sie haben es geschafft, das ganze Denkgefüge, das sich in den letzten Jahren nach rechts verschoben hat, zumindest in Richtung links zu bringen, und das ist schon ein Verdienst, den man nicht unterschätzen darf.
CW: Man muss auch zwischen Corbyn und Sanders unterscheiden. Sanders war kein verlorener Kampf – auch abgesehen davon, dass er mit den jungen Leuten um Ocasio-Cortez eine neue Generation inspiriert hat. Corbyn kann man schon eher eine Katastrophe nennen, weil Corbyn das Richtige versucht hat, aber taktisch gravierende Fehler gemacht hat und vielleicht auch die falsche Person dafür war.
Die große Gefahr ist, dass Labour daraus die falsche Konsequenz zieht und sagt: Nie mehr wieder so ein linkssozialistisches Programm, nie mehr wieder eine traditionelle Gewerkschaftsbewegung mit neuen sozialen Bewegungen zusammenbringen, lieber zurück zu einer konservativen, rechtssozialdemokratischen Strategie. Das ist verheerender und gefährlicher, als das was in den USA geschehen ist.