03. Januar 2022
Schweizer Arbeitgeberverbände versuchen in der Pandemie, Löhne zu drücken und den Arbeitsschutz aufzuweichen. Doch die Beschäftigten haben sich organisiert und wehren sich nun gemeinsam.
Tausende Beschäftigte aus den Bauberufen, der Logistikbranche und der Pflege gingen Ende Oktober 2021 auf die Straße.
Wie viele andere Länder hat der Ausbruch der Pandemie auch die Schweiz auf dem falschen Fuss erwischt. Die Auswirkungen von COVID-19 zeigten sich in den Regionen der Alpenkonföderation höchst unterschiedlich – sowohl in wirtschaftlicher wie auch in gesundheitlicher Hinsicht. Doch eines ist in sämtlichen Teilen des Landes bei jeder Welle gleichgeblieben: Es waren die Arbeiterinnen und Arbeiter, die die Kosten der Krise getragen haben.
Zu Beginn der Pandemie machten schockierende Bilder von Baustellen mit überfüllten Pausenbaracken und verdreckten Toiletten ohne fließend Wasser die Runde. Diese Aufnahmen, welche die Gewerkschaft Unia gesammelt und veröffentlicht hatte, standen in starkem Kontrast zu den konstanten Aufrufen zu »Social Distancing« und dem Befolgen strikter Hygieneregeln.
Auch wenn diese Bilder nur die Zustände auf den Baustellen dokumentierten, spiegelten sie Realitäten von Hunderttausenden von Arbeiterinnen und Arbeitern wieder. Sie alle wurden vor die gleiche groteske Wahl gestellt: entweder unter unsicheren Bedingungen weiterarbeiten oder Gefahr laufen, Job und Einkommen zu verlieren. Natürlich waren die Aufrufe der Behörden sowie zahlreicher Politikerinnen und Politiker, zu Hause zu bleiben und Social Distancing zu praktizieren, vernünftig. Doch sie hinterließen einen bitteren Beigeschmack bei Hunderttausenden Bauarbeitern, Logistikangestellten und anderen Beschäftigten. Denn sie waren gar nicht erst in der Lage, diese Anweisung zu befolgen.
Die Gewerkschaften – und insbesondere die größte Schweizer Gewerkschaft Unia – kämpften an vorderster Front für wirksame Schutzmaßnahmen am Arbeitsplatz. Die Unia organisiert Arbeiterinnen und Arbeiter aus der ganzen Privatwirtschaft und ist gerade im Baugewerbe stark verankert, zunehmend aber auch in der Pflege. Während der ersten Welle der Pandemie, als die Unsicherheit am größten war, fußte die Strategie der Gewerkschaft auf drei Säulen: Einführung und Durchsetzung minimaler Schutzmaßnahmen, Garantie der Lohnfortzahlungen im Falle von Betriebs- und Branchenschließungen sowie Gegenmaßnahmen, um die Kosten der Krise nicht auf die Arbeiterinnen und Arbeiter abzuwälzen.
Die Schweiz ist zwar klein, doch mit vier verschiedenen Sprachregionen und 26 Kantonen ist der Föderalismus stark ausgeprägt. Die Gewerkschaft Unia konnte nicht alle ihrer Forderungen durchsetzen, doch sie hat zusammen mit anderen politischen Akteuren genügend Druck aufgebaut, um zu erwirken, dass auf nationaler Ebene die Regelungen für die Kurzarbeit ausgeweitet und vereinfacht wurden. Somit konnten zumindest der Großteil der Löhne der Beschäftigten, deren Betriebe geschlossen blieben, gesichert werden.
Zudem hat sie erreicht, dass in mehreren Kantonen der französischsprachigen Schweiz sowie im italienischsprachigen Tessin, wo der gewerkschaftliche Organisationsgrad besonders hoch ist, eine größere Bandbreite von Betrieben vorübergehend geschlossen wurde. Dadurch konnte Zeit gewonnen werden, um notwendige Schutzmaßnahmen einzuführen und durchzusetzen. Zudem hat die Gewerkschaft – auch in einzelnen Kantonen der Deutschschweiz – dafür gesorgt, dass paritätische Kontrollen der Schutzmaßnahmen durchgeführt werden, also behördlich anerkannte Inspektionen der Arbeitsplätze, welche Gewerkschaften und Arbeitgeber selbst unternehmen. Gewerkschaftsvertreterinnen und -vertreter haben dadurch deutlich mehr Möglichkeiten, um bei Verstößen direkt eingreifen zu können.
Die widersprüchlichen Realitäten des Landes spiegelten sich auch innerhalb der Gewerkschaft wider. Die französisch- und italienischsprachigen Regionen waren anfänglich härter von der Pandemie betroffen, gleichzeitig sind die Gewerkschaften dort stärker verankert. Zu Beginn der Pandemie hatten diese Regionaleinheiten wenig Verständnis dafür, dass es in der Deutschschweiz nicht gelungen war, sämtliche Baustellen zu schließen. Gleichzeitig war es für einen Großteil der Arbeiterinnen und Arbeiter in der Deutschschweiz kaum möglich, für großflächige Schließungen zu kämpfen, solange minimale Schutzmaßnahmen eingehalten wurden. Im Verlauf der Pandemie verblassten diese Widersprüche jedoch, als auch in der lateinischen Schweiz die Baustellen wieder geöffnet wurden, die Impfquote anstieg und die Gewerkschaft sich zunehmend auf die ökonomischen Interessen ihrer Mitglieder konzentrierte.
Die Pandemie hat auch zu einer Verschärfung der Klassenkonflikte geführt. Rechte Politikerinnen, Politiker und Arbeitgeberverbände haben uralte Forderungslisten hervorgekramt, von deren Verwirklichung sie seit Jahren träumen, um diese nun unter dem Deckmantel der Corona-Krise durchzudrücken.
Diese Auseinandersetzung wurde zum einen in den Sälen des Parlaments ausgefochten. So haben rechte Politikerinnen und Politiker deutlich flexiblere Arbeitszeitregelungen gefordert und dies mit angeblichen wirtschaftlichen Notwendigkeiten zu legitimieren versucht, die sich aus der Pandemie ergäben. Tatsächlich sind diese Vorstöße nichts anderes als Spiegelbilder von Vorschlägen, die bereits Jahre zuvor erfolglos eingereicht wurden.
Zur gleichen Zeit versuchten Teile des Schweizer wie auch des europäischen Kapitals, die Verhandlungen für das Institutionelle Rahmenabkommen (InstA) zwischen der EU und der Schweiz zu nutzen, um die flankierenden Maßnahmen aufzuweichen. Die flankierenden Massnahmen sind wichtige Lohnschutzbestimmungen in der Schweiz, welche die Gewerkschaften vor zwei Jahrzehnten erreicht hatten, als die Schweiz die Personenfreizügigkeit mit der EU vereinbarte. In den aktuellen Verhandlungen zum Rahmenabkommen, die seit 2014 und besonders intensiv seit 2018 geführt wurden, sah der Entwurf des Rahmenabkommens eine Reihe von Verschlechterungen bei genau diesen Lohnschutzbestimmungen vor. Die Gewerkschaften unterstützen zwar den freien Personenverkehr, doch nur unter der Bedingung, dass die Löhne in der Schweiz – die höchsten Europas – geschützt werden. Aus diesem Grund haben sie den aktuellen Vertragsentwurf vehement abgelehnt – auch unter Androhung eines Referendums. Die Schweizer Gewerkschaften verbündeten sich früh mit ihren Schwestergewerkschaften in den umliegenden Ländern, um gemeinsam gegen den Angriff auf die Löhne anzukämpfen. Ende Mai 2021 ist der Deal schließlich geplatzt. Für das Scheitern des Abkommen werden seither die Gewerkschaften verantwortlich gemacht.
Auch die Arbeitgeberverbände diverser Branchen sind während der Pandemie in die Offensive gegangen. Dabei hat sich der Schweizerische Baumeisterverband als besonders aggressiv hervorgetan. Im Jahr 2020 startete der Baumeisterverband eine PR-Kampagne und dankte in öffentlichen Inseraten den Bauarbeitern für ihren Einsatz während der Pandemie. Doch nur wenige Wochen später forderte der Arbeitgeberverband in den jährlichen Lohnverhandlungen mit den Gewerkschaften öffentlich, die Löhne aller Bauarbeiter flächendeckend zu kürzen. Angesichts des akuten Fachkräftemangels im schweizerischen Bauhauptgewerbe ist diese Forderung selbst aus Arbeitgeberperspektive schwer nachvollziehbar. Die Gewerkschaft lehnte den Vorstoß erwartungsgemäß ab, weshalb die Lohnverhandlungen schließlich scheiterten.
Die Bau-Chefs haben jedoch nicht aufgehört, mit den Säbel zu rasseln. Auch in den Lohnverhandlungen des Folgejahres beharrten sie auf eine Nullrunde für die Bauarbeiter und drohten kurz darauf, im November 2021, sogar den Branchentarifvertrag insgesamt auslaufen zu lassen. Im bevorstehenden Februar beginnen die Verhandlungen für die Erneuerung des sogenannten Landesmantelvertrags und die Baumeister haben klargemacht, dass sie auch bereit sind, den Vertrag nicht zu verlängern, sollten ihre Forderungen nach drastisch schlechteren Arbeitsbedingungen nicht erfüllt werden. Dass die Baumeister den Konflikt eskalieren lassen und sich damit wohl eine Streikwelle anbahnt, wurde indes breit in der Presse kritisiert – ein gelungener Medien Coup sieht jedenfalls anders aus. Diese Prognose nach einer Streikwelle ist nicht aus der Luft gegriffen: Der gewerkschaftliche Organisationsgrad ist im Bauhauptgewerbe in der Schweiz mit um die 70 Prozent sehr hoch, branchenweite Streiks sind damit nicht ausgeschlossen.
Während die Arbeitgeber und ihre politischen Verbündeten in die Offensive gegangen sind, hat sich die Wirtschaft des Landes nicht nur vom vorübergehenden Schock der Pandemie erholt, zahlreiche Branchen haben sogar ein Rekordwachstum erzielt. Abgesehen von der Gastronomie und den Fluggesellschaften, ist die Wirtschaft im Aufschwung.
Zu diesem Wirtschaftsboom haben nicht zuletzt die Bauarbeiter, Pflegekräfte und Logistikangestellten des Landes maßgeblich beigetragen, als sie während der Pandemie unter schwersten Bedingungen weiterarbeiteten. Sie sind dementsprechend entrüstet darüber, dass nun von ihnen erwartet wird, weiterhin zu Konditionen zu arbeiten, die schon lange vor der Pandemie entweder gesundheitsgefährdend, prekär oder gleich beides waren.
Sebastian, ein 43-jähriger Bauarbeiter und Aktivist bei der Unia, bringt es mit folgenden Worten auf den Punkt: »Seit Jahren sprechen wir über die Probleme auf den Baustellen. Wir arbeiten nonstop während Hitzewellen und dann wiederum während Schnee und Hagel. Die Chefs sagen uns dazu noch ständig, wir müssten immer schneller, immer schneller arbeiten. Langsam haben wir es satt. Und dann kam Corona noch dazu. Wir waren die Leute, die tagtäglich weitergearbeiteten haben, oftmals unter noch mehr Druck als zuvor. Und deshalb finde ich es nur angebracht, dass wir jetzt anfangen über unsere Forderungen zu sprechen – über die Forderungen der Arbeiter.«
Sandra, eine 51-jährige Pflegerin, die ebenfalls in der Unia aktiv ist, schildert Ähnliches: »Von Beginn der Pandemie an waren wir es, die tagein, tagaus gearbeitet haben, buchstäblich an vorderster Front. Und die Politiker und die Chefs haben die Bevölkerung enthusiastisch dazu aufgefordert, für uns und unsere großartige Arbeit als Pflegende zu klatschen. Und wenn Klatschen den Personalmangel, die endlosen Überstunden und die niedrigen Löhne lösen würde, dann wäre ich begeistert. Aber das tut es nicht. Und jetzt ist es die Zeit gekommen für echte Veränderungen.« Dass dies nicht nur leere Worte sind, hat kürzlich eine historische Abstimmung bewiesen, in der eine Mehrheit der Bevölkerung für bessere Arbeitsbedingungen in der Pflege gestimmt hat. Es ist das erste Mal in der Geschichte der Schweiz, dass eine Volksinitiative aus Gewerkschaftskreisen Erfolg hatte.
Die Schweizer Gewerkschaften und insbesondere die Unia versuchen nun, diese Wut in Handlungsfähigkeit zu lenken. Im letzten September zogen 15.000 Arbeiterinnen und Arbeiter durch die Hauptstadt Bern, um gegen die Erhöhung des Rentenalters für Frauen zu demonstrieren. Und Ende Oktober versammelten sich erneut Tausende Beschäftigte aus verschiedenen Branchen – Leute, für die es kein Option war, ins Home Office gehen – in fünf Städten, um mehr Lohn, bessere Arbeitsbedingungen und weniger Belastung bei der Arbeit zu fordern. Die offizielle Parole dieser Demonstrationen: »Jetzt sind wir dran!«
Wie in vielen anderen Ländern hat die Pandemie auch in der Schweiz zu Verunsicherung und Polarisierung geführt und mitunter überraschende Wendungen hervorgebracht – wenn sich etwa konservative Kräfte plötzlich als Kritiker staatlicher Überwachung ausgeben oder linke Akteure sämtliche (Un-)Taten der Behörden im Kampf gegen die Pandemie unkritisch verteidigen.
Während die Rechten jede Gelegenheit nutzen, um sich als die vermeintlich wahre Opposition zu dem Missmanagement des Establishments zu profilieren, tappen Teile der Linken immer wieder in die Falle, sich in pseudoradikale Wortgefechte zu begeben, die im besten Fall moralisierend statt mobilisierend und im schlimmsten Fall entfremdend und spaltend auf die Arbeiterschaft wirken.
Gewerkschaftliche Aktionen wie »Jetzt sind wir dran!« geben der Arbeiterinnenbewegung und der gesellschaftlichen Linken stattdessen eine klassenbezogene Ausrichtung, die dazu beitragen kann, eine politische Kraft aufzubauen, die im Alltagsleben der arbeitenden Menschen verwurzelt ist.
Um substanzielle Verbesserungen zu erreichen, braucht es natürlich mehr als nur gute Slogans. Aber breit angelegte Kampagnen wie diese bieten einen Rahmen, um diejenigen zu erreichen, die wir für unsere Bewegung gewinnen müssen – sei es nun am Arbeitsplatz, in den Quartieren oder in lokalen Vereinen. Diese Begegnungen bilden die Basis für den Aufbau einer echte Bewegung der arbeitenden Klasse. Dazu sind unter anderem endlose, manchmal schwierige, aber oft inspirierende Gespräche nötig, die erfahrene Organizer nur zu gut kennen. Doch nur so kann eine Bewegung wachsen, die im Leben der Arbeiterinnen und Arbeiter wirklich verankert und präsent ist.
Chris Kelley ist Co-Sektorleiter Bau bei der Schweizer Gewerkschaft Unia. Er hat 2017 seine Dissertation in Sozialwissenschaften über Gewerkschaftsstrategien in der sich wandelnden Bauwirtschaft verfasst.
Chris Kelley ist Co-Sektorleiter Bau bei der Schweizer Gewerkschaft Unia. Er hat 2017 seine Dissertation in Sozialwissenschaften über Gewerkschaftsstrategien in der sich wandelnden Bauwirtschaft verfasst.