13. September 2021
Rot-Rot-Grün war zeitweise beliebter als Angela Merkel. Doch es wurde nichts daraus.
Die Kanzlerschaft von Angela Merkel war überwiegend eine Periode linker Ratlosigkeit. Seit geraumer Zeit gelingt es weder der parlamentarischen noch der gesellschaftlichen Linken in Deutschland, Mehrheiten bei Wahlen oder Deutungshoheit im öffentlichen Diskus zu erringen. Warum eigentlich nicht?
Um 2011 kommen die Parteien links der Mitte – SPD, Grüne und Linke – in Umfragen zusammen auf knapp 60 Prozent der Stimmen. Angela Merkel ist unbeliebt und die mit ihr koalierende FDP rangiert unter 5 Prozent. Es gibt in dieser Zeit etwas wie einen linken Grundkonsens – man spricht von einer »strukturellen linken Mehrheit« im Parteiensystem. Von so was kann das linke Spektrum in Deutschland heute nur träumen. Dass die deutsche Linke an Angela Merkel gescheitert ist, lässt tief blicken. Es gibt dafür viele Gründe, zwei stechen jedoch besonders hervor: das über die Jahre zur Folklore verkommene Abgrenzungsverhalten der Parteien untereinander sowie das Fehlen einer stimmigen und nachvollziehbaren Vision, wie ein Deutschland jenseits der neoliberalen Hegemonie aussehen könnte.
Eigentlich ist es eine ausgemachte Sache: Nach der für Rot-Grün verlorenen Landtagswahl in NRW von 2005 ist die Bundesregierung am Ende, Gerhard Schröder lässt sich vom Bundestag das Misstrauen aussprechen und setzt Neuwahlen an. Angela Merkels Weg zur Kanzlerschaft in einer schwarz-gelben Regierung scheint geebnet.
Dass es anders kommt, ist eine Überraschung, die man kaum überbetonen kann. Schwarz-Gelb hatte fest mit einem Wahlsieg gerechnet. Doch dank der Neugründung der Partei Die Linke und der atemberaubenden Aufholjagd der SPD in den Wochen vor der Wahl kommt völlig unvorhergesehen eine nominell linke Mehrheit zustande. Am Wahlabend erklärt Schröder – nicht ohne den gewohnten Machismus –, er wolle bleiben. Unklar ist nur, wie. Am Ende muss er einsehen, dass Merkel sich nicht unterordnen wird, und es kommt zur ersten Großen Koalition seit den 1960er Jahren.
Die Wahlniederlage von Schwarz-Gelb ist bereits das zweite Scheitern des klassischen Neoliberalismus in Deutschland innerhalb von nur drei Jahren. Schon 2002 schreckten die Wählerinnen und Wähler vor Edmund Stoiber von der CSU und seinen Plänen für eine Flat Tax zurück.
Merkel ist zu dieser Zeit die profilierteste Neoliberale und Konservative im Land. Nicht nur stellt sie sich während des Irakkriegs demonstrativ an die Seite von George W. Bush, auch verordnet sie der CDU auf dem Leipziger Parteitag von 2003 ein marktradikales Programm, das unter anderem die Abschaffung der solidarischen Beitragsgestaltung der gesetzlichen Krankenkassen vorsieht. In ihren Augen hat der deutsche Sozialstaat ausgedient und es gibt nur zwei Alternativen: »Weiter herumdoktern und sich über die Zeit retten oder den Befreiungsschlag wagen.« Als Oppositionsführerin stellt sie klar: »Ich wähle den zweiten Weg.«
In den Wochen nach der Wahl von 2005 muss Merkel gedämmert haben, dass es für einen solchen Holzhammer-Neoliberalismus keine politische Mehrheit gibt. Rot-Grün ist zwar verhasst, doch vor einem Kahlschlag unter Schwarz-Gelb hat man noch mehr Angst. Merkel entscheidet sich für einen Strategiewechsel: Anstelle einer neoliberalen Revolution würde sie versuchen, das ideologisch verunsicherte Mitte-links-Lager zu spalten und den Raum des politisch Möglichen über Jahre schrittweise einzuschränken – ein Erfolgskonzept.
Zwar gibt es nach der Wahl theoretisch eine rot-rot-grüne Mehrheit, doch politisch ist ein solches Linksbündnis ausgeschlossen. Die inhaltlichen Differenzen zwischen SPD und Linken (bezüglich Hartz IV, Afghanistan und vielen anderen Themen) lassen das nicht zu, und die Grünen denken nicht daran, ihren fragilen innerparteilichen Frieden durch einen Kurswechsel zu gefährden. Die Linkspartei befindet sich zu diesem Zeitpunkt noch im Fusionsprozess von PDS und WASG – einige Spitzenpolitiker wie Oskar Lafontaine hegen Hoffnungen, die SPD mittelfristig abzulösen.
Während die neue Regierung ihre Arbeit aufnimmt, verbessert sich ohne ihr Zutun die wirtschaftliche Lage: Die Weltwirtschaft boomt und der Euro beginnt, die deutschen Exporte anzufachen. Schröder muss sich darüber sehr geärgert haben – hätte er bis zum regulären Wahltermin 2006 gewartet, wäre seine rot-grüne Regierung vielleicht sogar wiedergewählt worden.
Der Boom verringert die Arbeitslosigkeit und damit den öffentlichen Druck für weitere neoliberale Reformen. Gleichzeitig legitimiert dies in den Augen vieler Neoliberaler den Sozialabbau, der unter Rot-Grün bereits geschehen ist. So werden die Effekte der Euro-Einführung und des Rohstoffbooms Hartz IV und den rot-grünen Steuersenkungen gutgeschrieben. Dies bestärkt Neoliberale innerhalb der SPD und der Grünen in ihrer Abgrenzung von der Linkspartei.
Die erste Große Koalition, geschmiedet unter Bedingungen von Feindseligkeit und Misstrauen, ist für die SPD bitter: Sie gibt der Union bei der Rente mit 67 klein bei und bricht zugleich ihr Wahlversprechen, die Mehrwertsteuer nicht zu erhöhen. Als Ausgleich bekommen die Sozialdemokraten unter anderem eine Anhebung des Spitzensteuersatzes, den sie zuvor selbst gesenkt hatten. Insgesamt kommt es durch den Einfluss der SPD unter Merkel nicht ganz so schlimm, wie viele erwartet haben.
Dies führt aber zu einer »Entgiftung« der Marke CDU in Teilen von Arbeiterklasse und Mittelschicht. Merkel steht fortan nicht mehr für Kahlschlag, sondern für Technokratie. Gesellschaftspolitisch kann die Union gegen die SPD wenig durchsetzen (mit Ausnahme einer restriktiven »Anti-Terror«-Politik, die beide Parteien unterstützen). Der klassische Konservatismus der Kohl-Jahre ist tot. In der Folge beginnt die CDU, in neuen gesellschaftlichen Milieus anschlussfähig zu werden, und kann erstmals eine signifikante Anhängerschaft unter Menschen mit Migrationshintergrund aufbauen (eine Ausnahme bildeten vorher die Spätaussiedler).
Die Finanzkrise von 2008 ändert alles. Es bietet sich die Gelegenheit, antikapitalistisches Gedankengut wieder im Mainstream zu verankern. Die marginalisierte sozialistische Linke ist schlecht vorbereitet, doch auch ohne ihre Hilfe erfährt der Neoliberalismus eine schwere Legitimitätskrise, die mehrere Jahre andauert: »Ich beginne zu glauben, dass die Linke recht hat«, zitiert der liberale Vordenker Frank Schirrmacher den Konservativen Charles Moore noch 2011 in der FAZ.
Die Große Koalition entscheidet sich – auch im Hinblick auf die bevorstehende Wahl und das Erstarken der Linkspartei –, die Krise durch klassischen Keynesianismus zu lösen: Es werden Maßnahmen wie Kurzarbeit und die Abwrackprämie für Gebrauchtfahrzeuge ergriffen, die durch eine hohe Kreditaufnahme des Bundes finanziert werden. Merkel kann sich als souveräne Krisenmanagerin mit Augenmaß vermarkten.
Bei der Bundestagswahl von 2009 führt die Linkspartei einen inhaltsstarken Wahlkampf, der Mindestlohn und Mindestrente erstmals auf die politische Tagesordnung setzt, und erzielt damit ihr bisher bestes Ergebnis. Die Grünen stagnieren und die SPD kollabiert. Die Zugewinne für die FDP führen zu Schwarz-Gelb. Dieses Krisenwahlergebnis bestätigt ein bekanntes Muster: Zunehmende wirtschaftliche Unsicherheit im Kapitalismus bringt der Linken zwar intellektuelle Deutungshoheit, schadet ihr aber bei Wahlen, da viele Menschen in ihrer Verunsicherung zur »Keine-Experimente«-Fraktion tendieren.
Die Sozialdemokraten tragen ihr Möglichstes dazu bei, indem sie sich weiterhin scharf nach links abgrenzen. Als die SPD-Oppositionsführerin Andrea Ypsilanti im November 2008 in Hessen den Versuch wagt, sich mit den Stimmen der Linkspartei zur Ministerpräsidentin wählen zu lassen, revoltiert ihre eigene Partei. »Nicht um den Preis meiner persönlichen Integrität und Grundwerte und nicht um den Preis der Wahrhaftigkeit in der Politik. Ich kann das nicht«, erklärt die SPD-Abweichlerin Carmen Everts, als hätte sich Stalin höchstpersönlich in Wiesbaden zur Wahl gestellt.
Auch das zweite Kabinett Merkel bringt keinen sozialen Kahlschlag. Das bürgerliche Lager geht in ihrem Krisenmanagement vorsichtig und strategisch vor, bremst bei der Energiewende und zerstört die Solarindustrie, wagt aber keinen offenen Bruch mit dem Konsens. Unpopulär macht sich die Regierung vor allem durch offene Klientelpolitik wie die Senkung der Mehrwertsteuer für Hotels.
Glaubt man den Umfragen, kann sich die politische Linke in dieser Phase am erfolgreichsten gegenüber einer unbeliebten schwarz-gelben Regierung profilieren. Doch es gibt erste Anzeichen einer gesellschaftspolitischen Verhärtung: 2010 erscheint Thilo Sarrazins Deutschland schafft sich ab – eine rassistische Tirade gegen eine Gesellschaft, in der Migrantinnen und Migranten sichtbarer werden und Räume einnehmen, die ihnen bis dato verwehrt waren.
Durch die Krise ist der Finanzsektor europaweit in Schieflage geraten, niemand kann ihn mehr retten, bis auf die Nationalstaaten – die Gläubiger letzter Instanz. Das Establishment nutzt diese Gelegenheit, um eine strukturelle Krise des finanzialisierten Kapitalismus in eine »Euro-Schuldenkrise« umzudeuten. Obwohl die deutsche Bevölkerung gesehen hat, dass keynesianische Maßnahmen im eigenen Land funktionierten, nimmt sie es größtenteils als rechtens hin, als Griechenland und anderen Staaten der europäischen Peripherie stattdessen Austerität auferlegt wird. »Keynesianismus für uns, aber nicht für euch«, lautet der Zeitgeist.
Statt eine strauchelnde konservative Regierung vor sich herzutreiben und echte Strukturfragen zu stellen, geben SPD und Grüne die loyale Opposition. Insbesondere die Debatte um die gemeinsame Schuldenaufnahme der Eurostaaten (sogenannte Eurobonds), welche die Zinslast für die südeuropäischen Länder senken soll, wird zum Messaging-Desaster für die Parteien links der Mitte. Bei den Wählerinnen und Wählern bleibt hängen: »Grüne, SPD und Linke wollen, dass wir die Schulden der unverantwortlichen Griechen bezahlen.«
Für die Linkspartei beginnt nun eine Zeit, in der sie ihre Oppositionsrolle immer weniger effektiv ausfüllen kann: Die seit der Parteigründung schwelenden Flügel- und Personalkämpfe treten deutlicher hervor, während inhaltliche Fragen in den Hintergrund rücken. Diese Konflikte rühren weniger von bestimmten Personalien oder Strömungen her, als vielmehr von dem Umstand, dass sich die Partei nie auf eine kohärente Vision eines demokratischen Sozialismus im Deutschland des 21. Jahrhundert verständigt hat. Es war immer klar, dass sie gegen den Neoliberalismus antrat – wofür sie aber im Positiven stand, darüber gingen die Meinungen auseinander.
Ihr nationalistischer Kurs in der Eurokrise bringt der Union bei der Bundestagswahl 2013 fast die absolute Mehrheit ein. Angela Merkel ist auf dem Gipfel ihrer Macht angelangt. Ihre Strategie der »asymmetrischen Demobilisierung« der Linken ist voll aufgegangen. FDP und AfD verpassen bei dieser Wahl jedoch den Einzug in den Bundestag, wodurch eine rot-rot-grüne Koalition rechnerisch möglich wird. Aber die Neurosen der SPD sitzen tief und die Grünen, die mit einem vergleichsweise linken Wahlprogramm angetreten waren, reagieren panisch auf ihre Einbußen und wollen sich als Partei des liberalen Bürgertums neu erfinden. Auch bei der Linkspartei überwiegt berechtigte Skepsis vor einem Regierungsbündnis mit zwei Parteien, die zu großen Teilen ideologisch im Neoliberalismus feststecken und das Erbe von Rot-Grün fast zwanghaft verteidigen.
Wenn überhaupt, wäre eine Minderheitsregierung in Frage gekommen, doch in Deutschland hasst die politische Klasse diese etwa in den skandinavischen Ländern völlig alltägliche Option wegen der damit verbundenen Unwägbarkeiten für die eigene Karriereplanung. (Die offizielle Begründung lautet üblicherweise »Weimar«.) Das ist äußerst bedauerlich, denn eine solche Konstellation, die der Linkspartei eine glaubhafte Distanz zu SPD und Grünen ermöglicht hätte, wäre wohl die einzige für alle Seiten gangbare Lösung gewesen. Stattdessen kommt es zur zweiten Großen Koalition unter Merkel.
In den folgenden Jahren erhöht die zunehmend chaotische Weltlage das allgemeine Sicherheitsbedürfnis und damit die Attraktivität konservativer Parteien. Wirtschaftlicher Nationalismus schlägt immer häufiger in kulturellen Chauvinismus und offenen Rassismus um, was der als rechte Anti-Euro-Partei auftretenden AfD entgegenkommt. Auf der anderen Seite sorgen Ereignisse wie die NSA-Affäre, der syrische Bürgerkrieg und die Ukraine-Krise im linken Lager für neue Polarisierungen und Spaltungstendenzen.
Bereits vor der Ankunft Hunderttausender Geflüchteter ist der linke Grundkonsens in Deutschland schwer beschädigt. Doch der Zeitgeist ist in der Migrationsfrage weiterhin solidarisch: 59 Prozent geben im April 2015 in einer Umfrage von Infratest Dimap an, »keine Angst« vor Zuwanderung zu haben, ganze 96 Prozent sehen in Bürgerkriegen einen legitimen Fluchtgrund.
Merkel hat viel politisches Kapital angespart – nur deshalb kann sie für kurze Zeit eine humanere Migrationspolitik verfolgen, als ihre Partei es will. In der Tat ist ihr Umgang mit der Situation anfangs sehr populär, die Stimmung wandelt sich nur allmählich wegen technischer Probleme bei der Umsetzung und einer Kampagne rechter Medien, aber auch aufgrund echter Überforderungserscheinungen der sozialen Infrastruktur.
Hier rächt sich, dass die Linke dem neoliberalen Lager in Wirtschaftsfragen nichts entgegenzusetzen hat. So kann ein polarisierendes Framing verfangen, das »unverdiente« Leistungen für Geflüchtete »verdienten« Leistungen für Einheimische gegenübergestellt. Merkel gewinnt durch ihre Politik weiter Grund bei Linksliberalen und kann sich als progressive Stimme der Vernunft profilieren, während sie am rechten Rand zunehmend Wählerinnen und Wähler an die AfD verliert.
An dieser Grundsituation wird sich bis zur Bundestagswahl 2017 nichts mehr ändern. Der kurzzeitige Schulz-Hype zeigt, dass ein Restpotenzial für eine linke Wechselstimmung weiterhin vorhanden ist, das politische Personal sie aber nicht mehr glaubhaft verkörpern kann. Mit der Wahl fallen die Reste eines zunehmend hohlen linken Konsenses in sich zusammen. Die AfD zieht in den Bundestag ein und auch die FDP ist wieder zurück. Zunächst gilt eine Jamaika-Koalition als gesetzt, doch ein Deal kommt nicht zustande. Daraufhin bricht die SPD per Mitgliederentscheid ihr Wahlversprechen, keine weitere Große Koalition einzugehen, und macht sich damit in den Augen vieler vollständig unglaubwürdig.
Aber nichts währt ewig, und so bekommt auch die konservative Hegemonie nach Jahren langsam Risse. Protestbewegungen wie Fridays for Future und das Unteilbar-Bündnis sind zugleich Ausdruck einer vorsichtigen gesellschaftlichen Wende und treiben diese weiter voran. Ihre Achtungserfolge auf Ebene von Diskursen erzeugen jedoch eine naive Erwartung an »Bewegungspolitik« als Allheilmittel, womit die Linkspartei wieder in Politikkonzepte aus den 1990er Jahren zurückfällt, die bereits als überwunden galten.
Durch die Wahl von Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans revoltieren die SPD-Mitglieder 2019 relativ unerwartet gegen den zentristischen Kurs ihrer Parteiführung – doch auch dieser Aufstand bleibt relativ folgenlos, da es der neuen Parteiführung an institutionellem Rückhalt mangelt. Vor der Pandemie sorgen ein langer wirtschaftlicher Boom und eine vergleichsweise niedrige Arbeitslosigkeit dafür, dass sich die arbeitende Klasse und andere gesellschaftliche Gruppen wieder mehr trauen, Forderungen zu stellen. Letztendlich führt das Coronavirus aber zu einem verstärkten Verlangen nach Stabilität.
Linke Parteien sind in Deutschland mit einer schnell alternden Wählerschaft konfrontiert, die insbesondere in Krisenzeiten ein starkes Stabilitäts- und Sicherheitsbedürfnis an den Tag legt. SPD und Grüne versuchten in den vergangenen Jahrzehnten meist, dieses Bedürfnis durch staatstragendes Auftreten zu adressieren, entsprechendes Bashing der Linkspartei inklusive. Dies ist besonders verheerend, wenn die Linke gleichzeitig vorhandenes Protestpotenzial nicht kanalisieren kann.
Um erfolgreich zu sein, bräuchten linke Parteien eine Strategie, die gleichzeitig das Verlangen nach Gerechtigkeit, den gesellschaftspolitisch liberalen Grundkonsens und das Bedürfnis nach Stabilität anspricht. Dazu müssten sie aber greifbare, leicht zu vermittelnde Alternativen und eine glaubwürdige Transformationsstrategie entwickeln, statt als die besseren Technokraten aufzutreten.
Auch wenn Bernie Sanders sein Ziel letztlich nicht erreicht hat und sich der politische Kontext in den USA stark vom deutschen unterscheidet, können seine Kampagnen doch auch hier ein Vorbild sein. Denn es ist ihm gelungen, eine überzeugende Vision einer Gesellschaft jenseits des Neoliberalismus zu entwickeln, die erste Schritte in Richtung einer solidarischen Wirtschaftsform geht – und diese Vorstellung so zu kommunizieren, dass selbst politisch unbedarfte Menschen den Kerngedanken verstehen. Mit dem Konzept von Medicare for All, also einer allgemeinen solidarischen Krankenversicherung, können mittlerweile die meisten Menschen in den USA etwas anfangen, ob sie es nun befürworten oder nicht. Rot-Rot-Grün hatte nie ein solches Leuchtturmprojekt, um den Menschen klar zu machen, was sich in ihrem Leben unter einer linken Regierung konkret ändern würde.
Alexander Brentler ist Journalist und Übersetzer.