06. Dezember 2024
Anfang Dezember 2024 verbreitete sich die Nachricht, dass der angesehene französische Widerstandskämpfer Serge Wourgaft im Alter von 108 Jahren verstorben sei. Mit ihm verlieren wir einen der letzten Augenzeugen des antifaschistischen Kampfes, der Europa von der Barbarei befreite.
Serge Wourgaft wurde am 31. August 1917 in Odessa geboren. Seine Familie kam in den 1920er Jahren wie viele russisch-jüdische Arbeitsmigranten nach Frankreich. Als junger Mann beteiligte er sich an dem Kampf des französischen Widerstands gegen die deutsche Besatzung. Er war in doppelter Hinsicht von dem Vormarsch der NS-Herrschaft betroffen. Als Antifaschist und französischer Patriot wollte er für die Freiheit seines Landes eintreten. Als Kind einer jüdischen Familie war er von der Rassenpolitik der Besatzer existenziell bedroht. In den Berichten über die Kämpfe der Résistance wird auf seine Tätigkeit im Département de la Lozère, im Süden Frankreichs in der Region Okzitanien, aufmerksam gemacht. Er war verantwortlich für die »Armée secréte« (AS) für den Sektor Florac, am Rande des heutigen Nationalparks der Cevennen. In den Reihen der AS trug er den Kampfnamen »Didier«. Insbesondere in dem bergigen Gebiet war es für die bewaffneten Einheiten der Résistance lange Zeit möglich, erfolgreich zu agieren und mit Überfällen und Sabotageaktionen zuerst das Kollaborationsregime von Vichy, später die deutsche Armee anzugreifen. Politisch war er damals mit der kommunistischen Partei (PCF) verbunden.
Im Oktober 1943 wurde er jedoch verhaftet und mit einem Transport von französischen Widerstandskämpfern in das KZ Buchenwald verschleppt. Dort trug er die Häftlingsnummer 69037. Im Lager Buchenwald gab es bereits eine illegale Widerstandsorganisation der politischen Häftlinge. Im Sommer 1943 schufen die Häftlinge ein Internationales Lagerkomitee (ILK), in deren romanischer Sektion französische Häftlinge eingegliedert waren. Da Serge Wourgaft als Kämpfer der Résistance bekannt war, kam er von Anfang an in den Kreis der französischen politischen Häftlinge (»Comité des interêts français«). Man schickte ihn in den »Sanitätstrupp«, einer Widerstandsstruktur der internationalen Militärorganisation (IMO) der Häftlinge im Lager Buchenwald, die Ende 1943 vor den Augen der SS entstand. In dieser Funktion leistete er seinen Beitrag zur Selbstbefreiung des Lagers am 11. April 1945. Am 19. April legte er – wie die 21.000 geretteten Häftlinge – den »Schwur von Buchenwald« ab. Die Vernichtung des Nazismus und seiner Wurzeln, der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit blieben bis zu seinem Tod seine politische Orientierung.
Nach seiner Rückkehr nach Frankreich stellte er sich sofort dem politischen Neuanfang zur Verfügung. Er blieb der PCF verbunden und wurde als journalistisch erfahrener Antifaschist Presseattaché beim Minister für Lebensmittelversorgung, Redakteur bei der Nachrichtenagentur Reuters und Mitglied des Arbeitsstabes des Ministers für öffentliche Arbeiten und Verkehr.
1957 begann er – im Auftrag seiner Organisation FNDIRP (Fédération Nationale des Déportés et Internés Résistants et Patriotes) – für die Weltföderation der Veteranen (FMAC, Fédération Mondial des Anciens Combattantes/WVF World Veterans Federation) zu arbeiten, deren Generalsekretär er 1979 wurde. In dieser Funktion arbeitete er eng mit der zweiten transnationalen Organisation, die mit dem Vermächtnis der Überlebenden der NS-Verfolgung verbunden war, nämlich der Internationalen Föderation der Widerstandskämpfer (FIR Fédération International des Résistants) zusammen, was sich beispielsweise in dem friedenspolitischen »Appell von Rom« der Kriegsveteranen zur weltweiten Abrüstung und Entspannungspolitik ausdrückte. Anfang der 1990er Jahre organisierte er als Vertreter der FMAC/WFV gemeinsam mit der FIR eine internationale Konferenz in Straßburg zum Schutz der KZ-Gedenkstätten als Teil der europäischen Erinnerung, als insbesondere in der BRD die geschichtspolitischen Angriffe auf die Gedenkstätten stattfanden. 1997 endete seine Tätigkeit als Generalsekretär. Anschließend wurde er für drei Jahre noch zum Präsidenten der FMAC/WVF gewählt. Im Jahre 2000 endete seine Tätigkeit für die FMAC/WVF und er wurde Ehrenpräsident. Im Rahmen dieser Aufgabe hatte er weitere internationale Funktionen z.B. als Vorsitzender des Sonderausschusses der NGOs für Abrüstung in Genf. In dieser Funktion organisierte er 1978 in Paris eine internationale Expertenkonferenz zu dem Thema: »Über die Hindernisse der Abrüstung und die Wege ihrer Überwindung.« Er selber beteiligte sich mit einem Vortrag zu der Rolle der »öffentlichen Meinung«. Die Konferenzmaterialien sind bis heute auf der Homepage der UNESCO nachweisbar.
»Serge Wourgaft war als Résistance-Kämpfer hochgeehrt.«
Auch auf sozialpolitischer Ebene engagierte sich Serge Wourgaft. Lange Jahre war er in Frankreich Vorsitzender eines Verbindungsausschusses für den Transport von Menschen mit Behinderungen (COLITRAH, Comité de liaison pour le transport des personnes handicapées). Dieser dem Verkehrsministerium zugeordnete Ausschuss sollte Kriterien für die Zugänglichkeit der verschiedenen Verkehrsmittel für Menschen mit Behinderungen oder eingeschränkter Mobilität festlegen und Maßnahmen vorschlagen, um die Zugänglichkeit zu verbessern. Es ging also um Mobilität und gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Behinderungen.
Nach dem Ausscheiden aus seinen aktiven Rolle bei der international agierenden FMAC konzentrierte Serge Wourgaft sich verstärkt auf die antifaschistische Erinnerungsarbeit in Frankreich. Als ehemaliger Häftling des KZ Buchenwald engagierte er sich als Mitglied der Association française Buchenwald, Dora et Kommandos und der FNDIRP. Im Mai 1998 wurde er zum Mitglied des Ehrenkomitees der FNDIRP gewählt. Aber eine allein repräsentative Funktion entsprach nicht seinem Naturell. Auch in hohem Alter übernahm er noch Aufgaben in der tagespolitischen Arbeit der Organisation.
Als es innerhalb des Veteranenverbandes Überlegungen gab, die Arbeit aus »Altersgründen« einzustellen, stellte er sich im Alter von 95 Jahren zur Verfügung. Seit 2013 war er Herausgeber der monatlichen Zeitung der FNDIRP Le Patriote Résistant. Als Leser dieser Zeitschrift fand man seine regelmäßige Kolumne zum Zeitgeschehen, zur Bedrohung durch den Vormarsch der extremen Rechten, für Frieden in Europa und dem Nahen Osten. Aber auch in anderen Rubriken konnte man Beiträge von ihm lesen, insbesondere bezogen auf die Erinnerungsarbeit. Er engagierte sich besonders für einen Wettbewerb, der sich an Schülerinnen und Schüler sowie Studierende richtete, den »Concours National de la Résistance et de la Déportation«. Dabei beschäftigen sich junge Menschen mit der Erinnerung an Widerstand und Verfolgung in Frankreich.
Serge Wourgaft war als Résistance-Kämpfer hochgeehrt, er war Kommandeur der Ehrenlegion, Großoffizier im Nationalen Verdienstorden und Träger des Kriegskreuzes, der Widerstandsmedaille sowie zahlreicher ausländischer Auszeichnungen.
Beeindruckend war seine Lebhaftigkeit als Zeitzeuge. Wer auf YouTube seinen Namen eingibt, findet mehrere Videos, die mit Serge Wourgaft erst vor wenigen Jahren gedreht wurden. Im Alter von 104 Jahren stand er 2021 zwei Interviewpartnern für ein mehr als einstündiges Gespräch zur Verfügung, bei dem er anregend seine Sicht auf die Résistance, seinen eigenen Beitrag in diesem Kampf, aber auch den moralischen Wert der Erinnerung an den Widerstand reflektierte. In diesem Video mit Yves Blondeau (ADVR, Association de Défense des Valeurs de la Résistance) und Julien Le Gros (Le Patriote Résistant) wird seine lebhafte und charmante Art deutlich, wenn er seine Erfahrungen vermittelt. Die Autoren schrieben dazu: »Serge Wourgaft begeisterte uns mit einer Geschichte voller Anekdoten und einigen Geschichten von pikantem und leicht jiddischem Humor«.
Auf diese Weise haben die Zeitzeugen ihre persönlichen Erfahrungen, die Berichte aus Widerstand und Verfolgung verbunden mit ihren Botschaften, dem Vermächtnis der Überlebenden. Wenn mit dem Ableben der Zeitzeugen diese nicht mehr das Wort ergreifen können, entsteht eine »Erinnerungslücke«, die Nachgeborene nur schwer schließen können. Sie stehen vor zwei Herausforderungen. Zum einen müssen sie als »Zeugen der Zeitzeugen« deren Geschichten, deren Erinnerungen bewahren und weitergeben. Zudem müssen sie deren Vermächtnis in die Sprache der heutigen Zeit übersetzen, die Fragen der Gegenwart mit den Erfahrungen der Zeitzeugen verbinden. Nur so transportiert solche Erinnerung eine Botschaft für heutige Generationen.
Zustimmen kann man seiner Tochter, die dem Verfasser dieses Nachrufs anlässlich des Todes von Serge Wourgaft schrieb: »Mein Vater war außergewöhnlich. Seine Freundlichkeit und sein Humor werden uns fehlen. Er hinterlässt ein moralisches Erbe, das wir weiterführen müssen.«
Dr. Ulrich Schneider ist Generalsekretär der Internationalen Föderation der Widerstandskämpfer (FIR).