01.05.2020
Kristen Ghodsee liefert den Beweis, dass wirtschaftliche Unabhängigkeit und sexuelles Vergnügen zusammengehören. Ihr Buch »Warum Frauen im Sozialismus besseren Sex haben« zeigt die Erfolge der sozialistischen Frauenbewegung.
Illustrationen
Marvin Traber.
Interview mit Kristen Ghodsee geführt von Meagan Day
Übersetzung von Martin Neise
In den ehemals staatssozialistischen Ländern arbeiten Frauen viel häufiger in sogenannten MINT-Berufen als im Westen. Wie kommt das?
Das liegt daran, dass Frauen im Staatssozialismus gezielt in diesen Berufen ausgebildet wurden. Im Augenblick haben Bulgarien und Rumänien die höchsten Frauenanteile im Tech-Sektor in der gesamten EU. Dort wurde eine Politik betrieben, die es Frauen erlaubte, genau jene Berufe zu ergreifen, die im Westen von Männern dominiert blieben. Es war ein gemeinsames Projekt der staatssozialistischen Regierungen, Frauen in vormals männlich geprägte Wirtschaftsbereiche wie das Rechtswesen, die Medizin, die Forschung oder das Bankwesen zu integrieren. Diese Anstrengungen gingen im Falle der Sowjetunion auf die 30er Jahre und in Osteuropa auf die 50er Jahre zurück. Frauen wurde sogar die militärische Ausbildung zuteil – so wurden sie Pilotinnen, Scharfschützinnen und Fallschirmjägerinnen.
Trotzdem bildete sich im Sozialismus des 20. Jahrhunderts eine neue geschlechtliche Arbeitsteilung heraus. Sozialistische Ökonomien werteten harte physische Arbeit höher als zum Beispiel Büroarbeiten. Und Männer waren häufiger mit ersterer betraut, während Frauen häufiger die letzteren erledigten.
Die Arbeit von Männern war oftmals besser entlohnt. Allerdings sind Löhne von geringerer Bedeutung, wenn der Staat eine große Bandbreite sozialer Dienste zur Verfügung stellt. Der Staat garantierte Arbeit, Wohnungen, Gesundheitsversorgung, Bildung, Kinderbetreuung und bezahlten Mutterschaftsurlaub. Frauen wurden zwar nicht so gut bezahlt wie Männer, aber sie hatten eine größere wirtschaftliche Unabhängigkeit von Männern als es heute der Fall ist.
Staatssozialistische Regierungen begannen nicht nur Gesundheitsversorgung, Wohnen und Bildung zu vergesellschaften, sondern auch Hausarbeit und Kindererziehung. Was waren die Gedanken dahinter?
Die Vorstellung, Hausarbeit gemeinschaftlich zu organisieren, um ihr gesellschaftlichen Wert zu geben, geht zurück auf die utopistische Sozialistin Flora Tristan im Frankreich der 1840er Jahre. Jahrzehnte später kam der deutschen Sozialistin Lily Braun die Idee einer »Mutterschaftsversicherung«. Und das Konzept einer Vergesellschaftung der Kindererziehung wurde von Clara Zetkin noch weiter entwickelt.
»Wir können beobachten, dass Frauen nicht in unbefriedigenden Beziehungen bleiben, wenn sie wirtschaftlich unabhängig sind.«
Die Theorie wurde nach 1917 in der Sowjetunion mit der Unterstützung Lenins umgesetzt – und zwar insbesondere von Alexandra Kollontai, die Volkskommissarin für Soziale Fürsorge war. Kollontai versuchte die Vergesellschaftung der Kindererziehung durch die Gründung von Kinderhäusern zu erreichen. Sie wollte öffentliche Kantinen einrichten, in denen die Menschen gemeinschaftlich essen konnten. Auch wollte sie öffentliche Waschhäuser bauen lassen. Und sie wollte Flick-Genossenschaften gründen, weil das Flicken von Kleidung den Frauen zu Hause damals viel Arbeit machte. Sie ging nämlich davon aus, dass diese Arbeit gemeinsam effektiver gestaltet und so die einzelnen Frauen entlastet werden könnten.
Diese Versuche wurden alle in den 20er Jahren unternommen. Aber sie scheiterten, weil der sowjetische Staat nicht reich genug war. All diese Gesetze wurden bis 1936 zurückgenommen, weil Stalin im Grunde sagte: »Wir müssen unsere Ressourcen zusammenführen und sie in die Industrie stecken. Es ist für uns viel günstiger, wenn die Frauen diese Arbeit unbezahlt zu Hause machen.« Doch die Politik, die Kollontai in den 20ern umzusetzen versuchte, lebte nach 1945 in Osteuropa wieder auf.
Welche Auswirkungen hatten diese strukturellen Veränderungen auf die Beziehungen zwischen Männern und Frauen in den staatssozialistischen Ländern? Ich denke da an ein Beispiel aus Deinem Buch, in dem Männer feststellen, dass es schwierig war, Frauen in Ostdeutschland mit einem hohen Gehalt zu imponieren. Einer erinnert sich: »Man musste interessant sein.«
Wir können beobachten, dass Frauen nicht in unbefriedigenden Beziehungen bleiben, wenn sie wirtschaftlich unabhängig sind – also wenn sie nicht verheiratet sein müssen, um ihre Kinder versorgen zu können, wenn sie Zugang zu Jobs, Renten und Wohnungen haben und Grundbedürfnisse wie Strom und Nahrung bezuschusst werden. Wenn sie gehen können, dann bleiben sie nicht bei Männern, die sie nicht gut behandeln. Wenn also ein Mann heterosexuell ist und mit einer Frau zusammen sein möchte, ist es nicht so einfach, die Frau zu bekommen, indem er ihr ökonomische Sicherheit bietet oder indem er ihr etwas kauft, das sie benötigt. Er muss auf andere Weise attraktiv sein, freundlich und rücksichtsvoll. Dabei zeigt sich: Wenn Männer »interessant« sein müssen, um Frauen anzuziehen, dann sind sie es auch. Aus ihnen werden tatsächlich bessere Männer. Das ist wirklich kein komplizierter Sachverhalt. Ich verstehe nicht, warum Menschen so überrascht davon sind.
»Ich gehe davon aus, dass sich Männer in einer Kultur, in der Frauen mehr wirtschaftliche Möglichkeiten haben, auf gewisse Weise selbst zivilisieren.«
Ich möchte das Leben hinter dem Eisernen Vorhang natürlich nicht idealisieren. Selbstverständlich gab es einige sehr negative Aspekte. Andererseits hatte die ökonomische Befreiung der Frauen einige nachweislich positive soziale Effekte. Und wir können die gleichen Effekte heute auch in sozialdemokratischen Ländern wie Schweden, Norwegen oder Dänemark beobachten.
Westliche Feministinnen sind derzeit stark dem Projekt der Umerziehung und Zivilisierung der einzelnen Männer verschrieben. Das muss prinzipiell nicht falsch sein, zumal männliches Verhalten oft ernsthafte Probleme für Frauen zur Folge hat. Wenn man nun die Veränderung männlichen Verhaltens als primäres politisches Projekt ansieht, dann zeigt uns diese Geschichte, dass strukturelle wirtschaftliche Veränderungen der bessere Weg sein könnten, um das zu erreichen.
Ich denke, dass die individuelle Zivilisierungsmission vielen Menschen als machbarer erscheint als struktureller Wandel. Deshalb sind sie geneigt, ihre begrenzten Energien darauf zu konzentrieren. Aber ich gehe davon aus, dass sich Männer in einer Kultur, in der Frauen mehr wirtschaftliche Möglichkeiten haben, auf gewisse Weise selbst zivilisieren, weil sie feststellen, dass sie nicht gewalttätig sein dürfen und Beziehungen mit Frauen nicht als selbstverständlich erachten können.
»Durch den Aufstieg des Neoliberalismus und den globalen Backlash gegen den Marxismus löste sich die Idee eines sozialistischen Feminismus in Luft auf. Wir versuchen noch heute, uns davon zu erholen.«
In den 70ern haben sich brilliante sozialistische Feministinnen wie zum Beispiel Silvia Federici für große strukturelle Veränderungen ausgesprochen, die die Beziehungen zwischen Männern und Frauen reorganisieren würden. Doch wie Nancy Fraser schrieb, wurde der Feminismus größ- tenteils durch den neoliberalen Kapitalismus vereinnahmt. Das hatte diesen »Lean In«-Feminismus à la Sheryl Sandberg zur Folge, bei dem es nur um persönlichen Erfolg geht sowie darum, Bedingungen zu schaffen, unter denen sich eine Handvoll Frauen genau so unverschämt bereichern können wie eine Handvoll Männer. Durch den Aufstieg des Neoliberalismus und den globalen Backlash gegen den Marxismus löste sich die Idee eines sozialistischen Feminismus in Luft auf. Wir versuchen noch heute, uns davon zu erholen.
Du hast geschrieben, dass der Zusammenbruch des Staatssozialismus in Osteuropa »das perfekte Labor schuf, um die Auswirkungen des Kapitalismus auf das Leben von Frauen zu erforschen.« In der Regel haben die Menschen im Westen durchaus eine Vorstellung von der Verarmung der Frauen aus den ehemaligen Ostblockstaaten und die daraus resultierende Verschärfung sexistischer Unterdrückung. Doch wenn es um die Frage nach den Gründen geht, lautet die Standardantwort, dass der Kommunismus daran schuld ist. In Deinem Buch machst Du allerdings das Argument stark, dass die Schuld in Wirklichkeit beim Kapitalismus liegt.
Als der Staatssozialismus abgewickelt wurde, bedeutete das die Privatisierung und Liquidierung von Staatsunternehmen sowie die Aushöhlung des Sozialstaats. Dabei verschwanden viele Unterstützungsprogramme für Frauen – bezahlter Mutterschaftsurlaub, Kinderzentren, Krippen und Kindergärten, Kinderzulagen und so weiter. Frauen wurden auf die kapitalistischen Märkte geworfen und zugleich zurück ins Haus gezwungen, um die Last unbezahlter Sorgearbeit zu tragen.
In unseren Befragungen und Recherchen sprechen viele osteuropäische Frauen davon, dass sie im Staatssozialismus mehr Möglichkeiten und Chancen hatten. Trotz des Mangels an Konsumgütern, der Reisebeschränkungen, der Zensur und der Geheimpolizei hatten sie mehr Lebenschancen als junge Mädchen im heutigen Osteuropa.
»Historisch ist der Kapitalismus so strukturiert, dass Unternehmen eine Frau nur dann anstellen, wenn sie billiger ist als ein Mann.«
Die Länder mit den weltweit schnellsten Bevölkerungsrückgängen liegen in Osteuropa. Das liegt einerseits daran, dass Frauen keine Kinder bekommen, weil sie in ihrer wirtschaftlichen Lage keine Familie ernähren können, und andererseits an der Auswanderung. Wenn es keine wirtschaftliche Sicherheit für sie gibt, nutzen Frauen die ihnen zur Verfügung stehenden Mittel, um ein besseres Leben zu erreichen. Das schließt ein, ihre Beziehungen zu Männern in Wert zu setzen. Deshalb ist Werbung für Katalogbräute das Erste, was man sieht, wenn man »ukrainische Frauen« bei Google eintippt.
Der Kapitalismus hat den Frauen in ärmeren Ländern also nicht gutgetan. Was ist mit Frauen, die im Kapitalismus der reicheren westlichen Länder leben? Funktioniert er für uns?
Historisch ist der Kapitalismus so strukturiert, dass Unternehmen eine Frau nur dann anstellen, wenn sie billiger ist als ein Mann. Ein Grund dafür ist, dass sie höchstwahrscheinlich eine Zeit lang dem Beruf fernbleiben wird, um zu Hause Sorgearbeit zu leisten, insbesondere wenn sie Kinder hat. Warum sollte man eine weniger zuverlässige Arbeitskraft einstellen, es sei denn man kann ihr einen niedrigeren Lohn zahlen? Das hat einen Teufelskreis zur Folge, in dem Frauen auf dem Arbeitsmarkt permanent benachteiligt werden.
»Es muss uns möglich sein, eine differenzierte, überlegte und bereichernde Debatte über die Vergangenheit zu führen.«
Sozialistische Feministinnen haben immer argumentiert, dass es nur einen Weg gibt, dieses Problem des kapitalistischen Arbeitsmarkts gründlich zu beseitigen: Der Staat muss intervenieren und soziale Unterstützung für Sorgearbeit bereitstellen.
Die Absicht Deines Buches scheint zu sein, die westlichen Vorstellungen nicht nur über Geschlecht und Sozialismus, sondern auch über das Leben im Sozialismus im Allgemeinen herauszufordern. Wie stellen sich die Menschen im Westen das Leben im Staatssozialismus vor und inwiefern gehen ihre Vorurteile an der Wirklichkeit vorbei?
Wir dürfen die Säuberungen, die Gulags und die staatliche Gewalt auf keinen Fall ignorieren. Doch uns muss klar sein, dass es nicht die gesamte Zeit so war. Es gibt heute hunderte Millionen von Menschen, die im Sozialismus aufgewachsen sind und ein ganz anderes Bild von ihm haben. Da ich seit zwanzig Jahren ethnographische Feldforschung in Osteuropa betreibe, kenne ich viele Leute, die sagen, dass das Leben viel komplizierter und nuancierter war und nicht durchweg negativ, wie es sich die Menschen im Westen vorstellen. Es war ganz bestimmt nicht so, dass alle entweder mit rasierten Köpfen in Mao-Hemden herum marschierten oder aber auf den Straßen verhungerten und um ein Paar Jeans bettelten.
Junge Menschen, die heute zu sozialistischen Auffassungen gelangen, bekommen sofort eins mit der Keule der Verbrechen des osteuropäischen Sozialismus des 20. Jahrhunderts übergezogen. Sobald man etwas über staatlich finanzierte Kinderbetreuung sagt, fangen die Leute an, über die Säuberungen und den Gulag zu schimpfen. Es muss uns möglich sein, eine differenzierte, überlegte und bereichernde Debatte über die Vergangenheit zu führen. Die antikommunistische Schnellschussreaktion macht es schwierig, zu einer solchen Debatte zu gelangen. Ich hoffe, mein Buch macht es ein wenig leichter.
Über die Autorin
Kristen R. Ghodsee ist Professorin für russische und osteuropäische Studien an der University of Pennsylvania. Ihr Buch Warum Frauen im Sozialismus besseren Sex haben erschien 2019 im Suhrkamp Verlag.
Viel zu langsam, viel zu spät: Der Kapitalismus beginnt auf die Klimakatastrophe zu reagieren – allerdings ohne sie abzuwenden. Einen ausführlichen Lagebericht lest ihr in der neuen (Doppel-)Ausgabe.