14. Mai 2020
Victor Gruen, Begründer des Einkaufszentrums, war Sozialist. Hätte seine Erfindung gerettet werden können?
Verlassene Shopping Mall
Die Landschaft des suburbanen Amerikas ist von hunderten toter Einkaufszentren übersät. An Orten wie der gigantischen Rolling Acres Mall in Akron, Ohio, die seit 2008 leer steht, haben die Springbrunnen aufgehört zu sprudeln, während die künstlichen Pflanzen grün sind wie eh und je. In Zukunft wird es immer mehr solcher Orte geben: 15 Prozent der US-amerikanischen Einkaufszentren werden in den nächsten zehn Jahren schließen.
Das größte Einkaufszentrum der Welt, die New South China Mall in Dongguan, ist ebenfalls eine tote Mall. Als sie 2005 eröffnet wurde, umfasste sie sieben Areale, die jeweils einer anderen weltberühmten Stadt nachempfunden waren. Ein Arc de Triomphe findet sich dort ebenso wie ein venezianischer Kanal – samt Gondeln. Dennoch steht die New South China Mall seit ihrer Eröffnung zu 99 Prozent leer. Abgesehen von einigen Fast-Food-Restaurants in der Nähe des Eingangsbereichs ist sie nur mehr ein Netzwerk riesiger Atrien, ungenutzter Kinos und stillgelegter Achterbahnen.
Das Sterben der Shopping Mall hat verschiedene Gründe: Konkurrenz des Onlinehandels, sinkender Wohlstand, steigende Ölpreise und ein unsteter Immobilienmarkt. Der Geschäftsführer eines der größten Bauunternehmen für Einkaufszentren prophezeite kürzlich, dass die Shopping Mall in zehn bis fünfzehn Jahren ein »historischer Anachronismus« sein werde – eine Verirrung, die nach sechzig Jahren an ihr Ende komme, da sie nicht länger den Bedürfnissen der Menschen entspreche.
Wenn zukünftige Archäologen einst die Ruinen dieser gigantischen Gebilde entdeckten, könnten sie kaum einen besseren Einblick in die materiellen Lebensbedingungen im späten 20. Jahrhunderts bekommen. Der globale Aufstieg der Shopping Mall hat zu einer Standardisierung von Raum geführt, die in der Menschheitsgeschichte beispiellos ist.
In der Ära des Einkaufszentrums wird ein nicht unbedeutender Teil der Erdoberfläche auf ziemlich genau 22 Grad Celsius aufgeheizt und mit 350 Lux beleuchtet. Die Mall ist Instrument wirtschaftlicher Entwicklungspolitik in Indien, Ort des Protests in Brasilien und Ziel von Terror in Nairobi. Geographinnen und Historikerinnen haben in ihr eine architektonische Vorbotin des Neoliberalismus gesehen, die dabei behilflich war, den öffentlichen Raum aufzuteilen, Freizeit und Konsum zu verschmelzen und den unabhängigen Einzelhandel zu drangsalieren.
Doch das war nicht immer so. Das Einkaufszentrum hat eine sozialistische Vorgeschichte, die weitgehend in Vergessenheit geraten ist.
Die IFC Mall in Seoul, Südkorea, erbaut 2012.
Der Erfinder der suburbanen amerikanischen Shopping Mall war der Wiener Architekt Victor Gruen, der 1938 nach dem Anschluss Österreichs vor den Nazis in die USA geflohen war. Gruen sah in der Mall das Potenzial, Zersiedelungsprozessen entgegenzuwirken. Ihm schwebte eine große, überdachte Agora vor, die von staatlicher Hand verwaltet wird und eine bändigende Wirkung auf die Kräfte des Marktes haben sollte. Seine modernistische Vision zielte auf die Erneuerung des öffentlichen Lebens in den Vereinigten Staaten ab. Manche der Malls, die Gruen und seine Firma in den 1950ern bauten, verkörperten zumindest einige Elemente dieser Vision. Die Southdale Mall in Edina, Minnesota beispielsweise hatte in ihrer Mitte einen großen Versammlungsplatz, der einer europäischen Piazza nachempfunden war.
Spätestens in den 1960er Jahren jedoch bereute Gruen seine Schöpfung. Zusammen mit dem Ausbau der Highways und staatlicher Eigenheimförderung wurde die Shopping Mall Teil der Herrschaftsarchitektur des weißen Amerikas. Gruen kehrte 1968 nach Österreich zurück und entwickelte ein Projekt zur flächendeckenden Umwandlung von Innenstädten in Fußgängerzonen.
Zwei Jahre vor seinem Tod im Jahr 1980 sagte er: »Ich werde immer wieder der Vater der Shopping Mall genannt. Ich möchte die Gelegenheit nützen, diese Vaterschaft zurückzuweisen. Ich weigere mich, Alimente für diese Bastardprojekte zu zahlen. Sie haben unsere Städte zerstört.«
»Shopping Malls zelebrieren eine Künstlichkeit, unter deren Dauerbeleuchtung Raum und Zeit kollabieren«
In Großbritannien hat die linke Vorgeschichte der Shopping Mall einen noch längeren und verwickelten Lauf genommen. Als der anarchistisch beeinflusste Stadtplaner Ebenezer Howard seine Utopie der Garden Cities entwickelte, wollte er in jedem Ort einen »Kristallpalast« errichten – eine Kombination aus überdachter Passage und Wintergarten. Diese Gebäudekomplexe sollten gemeinschaftlich verwaltet werden, und Howards Konzept sah vor, dass sich Händlerinnen frei niederlassen konnten, die ansässige Community jedoch das letzte Wort über die Nutzung von Flächen und Räumen behalten sollte.
Tragischerweise war es die deutsche Luftwaffe, die dazu beitrug, dass Howards Vision Gestalt annahm. Es war die Stadt Coventry in den englischen Midlands, in der die erste Shopping Mall der Welt gebaut werden sollte. Das flächendeckende Bombardement der Stadt im November 1941 hatte die engen mittelalterlichen Gassen der Innenstadt völlig zerstört. Unterstützt von der britischen Regierung brachte der oberste Baurat der Stadt, Donald Gibson, fast zwei Quadratkilometer Land unter lokale Verwaltung. Die 1939 bei Kriegsbeginn erlassene Notstandsgesetzgebung kam ihm dabei zugute.
Gibson baute in Coventry ein holistisch geplantes, nur teilweise geschlossenes Einkaufszentrum, wahrscheinlich das erste seiner Art. Die Stadt stellte als Eigentümerin die Grundstruktur, Treppen und Brücken, Parkplätze und Grünflächen zur Verfügung. Die Mieterinnen sorgten für Beheizung, Musik und Licht. Die Türen blieben rund um die Uhr geöffnet.
Diese linke Vorgeschichte der Mall gehört einer anderen Zeit an. Dass abstrakte, regulierte Räume des Konsums zu Vorboten des Neoliberalismus wurden, anstatt die Kräfte des Marktes zu bändigen, war aber keine zwangsläufige Entwicklung. In den 1940er und frühen 1950er Jahren war noch nicht vorherzusehen, dass das Einkaufszentrum zu einem Aushängeschild der privatisierten Stadt des 20. Jahrhunderts werden sollte. Heute werden Biomärkte und suburbane Einkaufskomplexe oft als Widerspruch gesehen; Donald Gibson und Victor Gruen wollten beide unter einem Dach vereinen.
Die heutigen Shopping Malls sind geschlossene Welten, die sich der Zufälligkeit und dem chaotischen Treiben der Straße entziehen. Sie zelebrieren eine Künstlichkeit, unter deren Dauerbeleuchtung Raum und Zeit kollabieren. In der West Edmonton Mall im kanadischen Alberta findet man ein Chinatown, eine Bourbon Street wie jene in New Orleans und eine Replik der Santa Maria, Christopher Columbus’ Flaggschiff, mit dem er Amerika damals »entdeckte«.
Verlassene Shopping Mall.
Während in den Warenhäusern des frühen 20. Jahrhunderts noch Livebands den Konsumrausch der Kunden untermalten, haben die Einkaufszentren das Genre der Hintergrundmusik perfektioniert. Die sogenannte »Muzak« beruhte einst auf Klassikadaptionen von berühmten Songs (à la: das Slowenische Staatsorchester intoniert »Satisfaction« von den Rolling Stones), abgespielt auf minimaler Lautstärke. Marktpsychologinnen schwören auf die standardisierte Kombination aus Saiteninstrumenten und wenig Stimme oder Percussion. Üblicherweise wird die Musik von einem »Facility Manager« aufgelegt, derselben Person also, die auch für Heizung, Beleuchtung und Elektrizität zuständig ist. Diese Musik ist selbst Teil des architektonischen Ensembles der Shopping Mall.
Die aggressive, unhinterfragte Privatisierung der Malls hat indes zur Vertreibung von Obdachlosen und zum Verbot von Demonstrationen geführt. Entsprechende Urteile des Supreme Courts, der damit in den 1970er und 1980er Jahren auf Protestaktionen in amerikanischen Einkaufszentren reagierte, haben das Recht auf Redefreiheit an diesen Orten massiv beschnitten.
Ein Handbuch aus den 1970er Jahren gibt Aufschluss über die disziplinierende Gewalt, die hinter dem wohltemperierten Brummen in den Malls lauert. Die Managementliteratur erinnert uns daran, dass die Entwicklung der Shopping Mall von zunehmenden Riots und politischer Gewalt in den mehr und mehr ghettoisierten Innenstädten begleitet wurde. In diesem Handbuch steht, dass die Leitung der Mall im Falle eines Gewaltausbruchs sofort Schritte einzuleiten habe, um bestimmte Bereiche zu schützen, und dass Feuerschutz wegen der konstanten Gefahr von Brandanschlägen oberste Priorität besitze.
Die aggressive Standardisierung und Privatisierung von Konsumorten hätte die sozialistischen Pioniere auf diesem Gebiet erschüttert. Die gigantische, geradezu imperiale »Mall of America« in Minnesota – einst das größte Einkaufszentrum der Welt – liegt nur zehn Minuten von Victor Gruens Erstling in Edina entfernt. Zwischen den beiden Bauten jedoch liegt eine historische Trennlinie.
Als Kind, das in den britischen Vorstädten aufwuchs, war die Mall zentraler Bestandteil meines Lebens. Viele Kids sehen dort zum ersten Mal den Weihnachtsmann oder haben dort ihren ersten Job. Mein erster Kuss fand unter »dem Baum« statt, einer riesigen Eiche, die durch ein rundes Fenster durch das Dach der Mall wächst. Meine ersten politischen Erfahrungen sammelte ich in der örtlichen Protestbewegung gegen den Irakkrieg. Weil wir aus dem Shopping Center verwiesen wurden, mussten wir an der oftmals leeren Bahnstation demonstrieren. Manche Beobachterinnen trauern um den Verlust dieser Soziosphäre, die mit dem Aufstieg des Onlinehandels ihren Niedergang erlebt hat. In den 1960er Jahren reagierten Menschen auf den Verfall britischer high streets und US-amerikanischer downtowns infolge des Aufstiegs der Einkaufszentren mit ähnlichem Bedauern und Nostalgie. Wer hätte vorhersehen können, dass die Mall einmal selbst Opfer einer Form der Privatisierung werden würde, die den Konsum auf noch konsequentere Weise isoliert?
Sam Wetherell ist Dozent an der University of York.