12. Dezember 2023
Der Film »Lilien auf dem Felde« von 1963 erzählt, wie sich ein Schwarzer Wanderarbeiter und fünf weiße Nonnen in Arizona unerwartet solidarisieren. Der Hauptdarsteller Sidney Poitier widersetzte sich dem Rassismus der USA – auf und abseits der Leinwand.
Sidney Poitier und Lilia Skala in »Lilien auf dem Felde«.
Anfang 2022 starb Sidney Poitier im Alter von 96 Jahren. Für viele Schwarze in den USA war er ein Idol, besonders unter Schauspielenden of Color wurde er verehrt. Er gilt als der erste Schwarze Hollywood-Star und prägt die Filmindustrie bis heute. Aber für welchen Film bekam er eigentlich seinen legendären Oscar? Für In der Hitze der Nacht (1967), der mit der berühmten Zeile: »They call me Mr. Tibbs?«. Oder für Flucht in Ketten (1958), wo zwei Männer, ein Schwarzer und ein Weißer, zufällig und in Hass aneinander gekettet, aus der Haft entfliehen und am Ende Freunde werden? Oder doch für Rat mal, wer zum Essen kommt? (1967) mit dem ersten US-Film-Kuss zwischen einem Afroamerikaner und einer Weißen, wenn auch nur im Rückspiegel eines Taxis? Alles falsch. Poitier bekam die Auszeichnung für den Film Lilien auf dem Felde, bei den Academy Awards von 1964.
Der Film ist heute nicht mehr so bekannt wie die anderen drei. Und doch schrieb er Geschichte. Nicht nur wegen des Hauptdarsteller-Oscars für Poitier, sondern weil er einen Plot erzählte, der zwar in den USA von 1962 spielt, aber in dem ein Schwarzer Amerikaner sich mal ausnahmsweise nicht die ganze Zeit damit beschäftigen musste, dass er Schwarz ist und sich nicht permanent gegen die Diskriminierung durch seine weiße Umgebung und deren Gesetze zu wehren hatte. Jenseits der gesellschaftlichen Realität – der damaligen Black Codes, der Lynchmorde und täglichen Drangsalierung Schwarzer Menschen und People of Color.
Das war schon etwas Besonderes. Doch wie war so etwas in einem US-Film von 1963 überhaupt möglich?
Die Idee des Films stammt bereits aus dem gleichnamigen Roman von William E. Barrett aus dem Jahr 1962. Ein Schwarzer US-Bürger trifft auf fünf weiße Nonnen, die kürzlich aus sozialistischen Staaten des Nachkriegseuropas – DDR und Ungarn – in die USA gekommen waren. Weil sie nicht in den USA sozialisiert wurden, tragen die fünf Frauen nicht das entsprechende rassistische US-Muster in ihren Köpfen. Es ergeben sich zwar Konflikte, aber ohne Gewalt.
Worum geht es? Der Afroamerikaner Homer Smith zieht als Wanderarbeiter durch die USA. Wohlweislich nicht in den Südstaaten, sondern tief im Westen – in Arizona – wo es, wie es im Roman heißt, »keinen Süden« gibt. Dort trifft Homer auf einem kargen Stück Land fünf Nonnen, die sich dort angesiedelt haben und Deutsch miteinander reden. Homers erste Begegnung mit den weißen Frauen ist sofort von einer Unbefangenheit, die in den USA in dieser Konstellation mehr als undenkbar war. Eigentlich braucht Homer nur Kühlwasser für sein Auto, doch die Oberin will, dass der große kräftige Mann, den ihr »Gott geschickt hat«, wie sie glaubt, das Dach repariert. Homer braucht gerade Geld und macht sich ans Werk. Beim gemeinsamen Abendessen entsteht schnell Vertrauen zwischen ihm und den Frauen, als er beginnt, ihnen ganz praktisch Englisch beizubringen. Dabei wird viel gelacht.
Der erste Konflikt entsteht, als Homer für seine Arbeit ordentlich bezahlt werden will. Die Oberin weigert sich. Stattdessen will sie, dass Homer weiterarbeitet: Er soll auf dem Grund einer unweit gelegenen Ruine eine Kirche erbauen. Erst will Homer die für ihn leicht verrückten Nonnen wieder hinter sich lassen, bleibt aber dann doch. Er baut mit der Hilfe vieler Bewohner der kleinen, hispanischen Gemeinde tatsächlich die Kirche fertig. Die Frage des Lebensunterhalts löst er, indem er bei einem weißen Bauunternehmer anheuert, wovon er neben Überraschungspaketen für die Nonnen – Konserven, Brot, Süßigkeiten – auch Baumaterial kaufen kann. People of Color und weiße Osteuropäerinnen: ein verblüffendes, poetisches Kollektiv.
»Homer Smith lebt, wie er will, und bleibt keine Antwort schuldig. Ein Schwarzer Outlaw des US-Kapitalismus.«
Der Film ist voller schöner Details. Wie Homer am ersten Abend nach schwerer körperlicher Arbeit das bescheidene Essen der Nonnen zugleich verschlingt und genießt, weißes Brot, Milch, ein bisschen Rührei. Er bricht das Brot, er gabelt das Ei. Schnell ist er fertig und wartet höflich durch alle Gebete hindurch auf die Hauptspeise. Doch die Mahlzeit ist beendet. Erst erscheint Enttäuschung, dann Spott auf Homers Gesicht: »So lebt ihr also von den Früchten des Landes?« Die Nonnen bejahen freudig, ohne Sinn für Ironie.
Essen bleibt ein großes Thema, denn die Nonnen haben gar kein Geld, nur dieses staubige Stück Land, die Hütte, ein paar Hühner und vielleicht auch eine Kuh. Zur Messe in der nächsten Gemeinde marschieren sie Stunden.
Die schönste Essen-Szene ist jedoch die, in der Homer gar nicht isst, sondern genüsslich in dem Laden Juans Trading Post ein vollumfängliches US-amerikanisches Frühstück (»I mean: a real Breakfast«) bestellt: Frisch gepressten Orangensaft, Pancakes mit geschmolzener Butter, fünf Eier »and a mountain of white toasts with strawberry marmelade« und viel Kaffee, die Bohnen von Juan gern noch dazu. Genüsslich spielt Poitier das, mit Gesten, die das Essen »darstellen«, langsam die Namen der zu erwartenden Köstlichkeiten aussprechend, bei der geschmolzenen Butter muss er in Vorfreude die Augen schließen.
Dazu muss man wissen, dass Poitiers Art zu sprechen einen wichtigen Teil seines Charismas ausmacht: Er macht unvermutete Pausen, legt Emotionen in die besondere Betonung einzelner Silben, kann vor Zorn seine Stimme beben lassen und in Freude und Glück auch Wörter zusammenziehen und mitten im Reden anfangen zu lachen, was seine Tonlage verändert.
Die Rolle lag Poitier. Homer Smith lebt, wie er will, und bleibt keine Antwort schuldig. Ein Schwarzer Outlaw des US-Kapitalismus. Und er reagiert gleichberechtigt, als der weiße Bauunternehmer ihn rassistisch »Boy« nennt – jene jahrhundertelange herabsetzende Bezeichnung Weißer für Schwarze erwachsene Männer. Was macht Homer? Er ruft den Weißen ebenfalls mit »Boy« an, anno 1963.
Vier Jahre später gab es dazu eine Art dramatisches Pendant in In der Hitze der Nacht, wo Poitier als Detective Virgil Tibbs bei der Befragung eines weißen Baumwollfarmers (in Mississippi) von jenem geohrfeigt wird und sofort zurückschlägt. »Es gab eine Zeit, in der man Sie dafür erschossen hätte«, sagt der Weiße, sichtlich außer Fassung. Das lag noch nicht so lange zurück. In derselben Gegend war 12 Jahre zuvor Emmett Till gelyncht worden. Die Zeit war, genau genommen, noch da. Und just 1963, als der Film erschien, hatte der Ku-Klux-Klan mit einer Bombe in der 16th Street Baptist Church in Birmigham vier Schulmädchen getötet.
In einer solchen Zeit schrieb William E. Barrett seinen Roman Lilien auf dem Felde über einen Afroamerikaner, der entrückt von all dieser Gewalt schien. Barretts Motiv war ausdrücklich religiös – darauf weist auch das Bibelzitat als Titel hin. Homer und die Oberin streiten in einer Szene sogar mit Sätzen aus der Bibel. Bibelfest sind beide – er als Baptist und sie vermutlich als Katholikin. Aber darin erschöpft sich Barretts Motiv nicht. Er meint seine Geschichte emanzipatorisch. Seine Idee, die »Farbenschranke« zwischen seiner Schwarzen Hauptfigur und den fünf weißen Frauen aufzuheben, indem er aus den Nonnen Geflüchtete aus der DDR und Ungarn macht, war simpel und großartig zugleich.
Das entsprach einerseits der Ideologie vom »freien« Westen, andererseits konnte Barrett, gerade durch dessen Abwesenheit, den Rassismus in den USA anklagen. Richtig bekannt wurde die Geschichte aber erst durch die zeitnahe Verfilmung durch den Erfolgsregisseur Ralph Nelson, der den Geist des Romans kongenial in den Film übertrug.
Als Sidney Poitier die Rolle von Nelson angeboten bekam, war er bereits sehr erfolgreich in großen Rollen unterwegs gewesen. Homer Smith war dem allen gegenüber nochmal etwas Besonderes, und er mochte die Rolle gleich, wie er in seiner Autobiografie The Measure of a Man schreibt. Dort leitet er her, was Homer Smith mit seiner eigenen Biografie zu tun hat. In gewisser Weise entsprach Homers unbefangener Geist der Erfahrung, die Poitier als Kind auf Cat Island in den Bahamas geprägt hatte: »In Arthur’s Town gab es einen weißen Arzt, und Damite Farrah, der Ladenbesitzer, war ebenfalls weiß. Beide sahen anders aus, das schon. Aber keiner von ihnen repräsentierte Macht.«
Erst als junger Erwachsener sollte Sidney Poitier jene weiße Machtrepräsentation in den USA kennenlernen. So erlernte er auch tägliche Wachsamkeit spät, aber dafür gründlich. Cops verfolgten ihn eines Nachts in Miami, auf einer »langen Wanderung«, feixend im Streifenwagen, in allen Eisenbahnzügen südlich der Mason-Dixon-Linie musste er im Wagen für »Colored People« fahren und er wurde in vielen Restaurants abgewiesen. »Ich lebte hier in einer Kultur, die mir den Menschenwert absprach. Ständig wurde ich daran erinnert, dass ich einst durch die Gesetze dieses Landes zu einem Drei-Fünftel-Menschen erklärt worden war (…).« Damit bezieht sich Poitier auf die »Drei-Fünftel-Klausel« von 1787, einem Kompromiss zwischen Nord- und Südstaaten, der mit den Schwarzen Versklavten politisch so verfuhr, wie es den Machthabern passte.
»Egal, wen Sidney Poitier spielte, einen Arbeiter, Arzt, Harvard-Absolventen, Ketten-Sträfling, Cowboy oder Lehrer: In seinen Figuren waren immer Würde und Auflehnung präsent.«
In solch ein Land kam Sidney Poitier, und doch bedeutete es ihm eine Verheißung, die er sich auf Cat Island nicht hätte träumen lassen. Das damals sogenannte »American Negro Theatre« in Harlem war für den 18-Jährigen das Sprungbrett zum Broadway, nach den Erfolgen dort kam er mit 22 nach Hollywood und fiel schon mit dem zweiten Film in einer größeren Rolle auf.
Es folgte Film auf Film mit Poitier in der Hauptrolle. Und egal, wen Poitier spielte, einen Arbeiter, Arzt, Harvard-Absolventen, Ketten-Sträfling, Cowboy oder Lehrer: In seinen Figuren waren immer Würde und Auflehnung präsent. Der zivile Widerstand der Schwarzen Bürgerrechtsbewegung, der 1955 mit den Protesten gegen den Freispruch der beiden Mörder von Emmett Till sowie der Weigerung von Rosa Parks, im Bus für einen Weißen aufzustehen, begann, spiegelt sich in diesen Filmen wider.
United Artists hatte eigentlich keine Lust, Lilien auf dem Felde zu drehen, wollte aber Ralph Nelson als Regisseur nicht verlieren. So warfen sie ihm ein Low-Low-Budget von 240.000 Dollar hin, wo gerade mal 14 Tage Drehzeit drin waren. Das ist für einen Kinofilm fast unmöglich. In seinem Buch erzählt Sidney Poitier jedoch von der Zuversicht und Sorgfalt, mit der alle Beteiligten an dem Film arbeiteten: »Wir probten vielleicht eine Woche lang in seinem [Ralph Nelsons] Haus in Kalifornien, dann flogen wir nach Arizona, quartierten uns in einem Motel ein, machten eine Kostümprobe und begannen am nächsten Tag mit den Dreharbeiten. Dreizehn Tage später waren wir fertig.«
Der Film dürfte mit seiner künstlerischen (Oscar, Golden Globe und Silberner Bär in Westberlin für Poitier) und finanziellen Ausbeute (3 Millionen Dollar Box-Office) einer der erfolgreichsten der Filmgeschichte sein.
Bei seinem Erscheinen 1963, auf einem Höhepunkt des Kalten Kriegs, wurde er im Westen gern gefeiert als Erzählung, in der Christinnen aus dem Sozialismus in die Freiheit entflohen waren. »Over the wall, over the ocean«, wie Juan, der Imbissbudenbesitzer, Homer erläutert. Die Nonnen in dem Film waren für die westliche Blockpolitik Beleg, dass man im verfeindeten Sozialismus nicht gut leben kann, und dass die Welt im Westen die beste aller Welten sei.
Was jedoch an dem Film offiziell lieber nicht wahrgenommen wurde, war seine starke Gesellschaftskritik: Der »fehlende« Rassismus mitten in den USA und dass die geflüchteten Nonnen diese Unbefangenheit aus Osteuropa mitgebracht hatten und nicht jene Ideologie in sich trugen, die Hautfarben als Ausdruck von Machtstrukturen definierte. Es gab die Hierarchie, die Weiße über alles herrschen ließ – nach geschriebenen und ungeschriebenen Gesetzen. »Darunter« standen alle Nichtweißen: die indigene Bevölkerung, Schwarze und Personen, die aus Lateinamerika oder Asien eingewandert waren. Der sozialistische Osten hatte die Abschaffung solcher Machtverhältnisse zumindest auf seiner Agenda, war wenigstens von Staats wegen gegen Rassismus und Kolonialismus und für die Freundschaft unter den Völkern. Dementsprechend agieren die Nonnen. »Ihr Lächeln hieß ihn willkommen, und Homer fühlte sich sofort zu Hause«, heißt es in dem Roman. »Bei ihnen gab es keine Farbenschranke: für sie war er einfach nur ein Mensch.« Genau diesen Erzählton trifft Regisseur Nelson auch in der Verfilmung.
»Der Autor William E. Barrett befreit seine Figuren vom Rassismus und lässt sie in einer Culture-Clash-Komödie aufblühen – mit Konflikten, die weder demütigend noch lebensbedrohlich sind.«
Dieses Kompliment sah der Osten nicht. Die Fluchtgeschichte der Nonnen reichte – zwei Jahre nach dem Mauerbau – um den Film weitgehend aus der sozialistischen Öffentlichkeit zu verbannen. Nur konnte man ihn wegen der amtlichen Solidarität mit der Schwarzen Bürgerrechtsbewegung in biografischen Texten über Sidney Poitier nicht ganz unerwähnt lassen. In die DDR-Kinos kam der Film – im Gegensatz zu Flucht in Ketten oder In der Hitze der Nacht – nicht.
In seiner kurzen Oscar-Rede von 1964 dankte Sidney Poitier ausdrücklich auch dem Romanautor. Denn die Plot-Idee zeigte den USA, wie ein Zusammenleben ohne Rassismus aussehen könnte. Eine Utopie bis heute. Der Roman erzählt jedoch kein Märchen, sondern eine in sich logische Geschichte. Indem der Autor seinen Figuren bestimmte Bedingungen verschafft, befreit er sie vom Rassismus und lässt sie in einer Culture-Clash-Komödie aufblühen – mit Konflikten, die weder demütigend noch lebensbedrohlich sind.
Das Lachen, von dem Homer Smith laut Roman »erfüllt« ist, war auch bei Sidney Poitier durchaus präsent. Man hört es in seiner Oscar-Rede von 1964, man erlebt es immer, wenn seine Figuren sich entspannen durften.
Poitier war nämlich auch ein großer Komiker, nicht umsonst war sein erster eigener Regiefilm 1971 eine Westernkomödie – mit zwei Schwarzen Cowboys: Buck und der Prediger, der erste Kinofilm, in dem die Hauptrollen ausschließlich mit Schwarzen Schauspielenden besetzt war. Genau wie Lilien auf dem Felde ist der Film leicht, witzig und emanzipatorisch zugleich: Ein Treck geflüchteter ehemals Versklavter soll in die Freiheit geführt werden und bekommt fast nebenbei auch Unterstützung von Native Americans gegen die weiße Unterdrückung.
Poitier marschierte im Jahr der Filmpremiere 1963 mit Martin Luther King Jr., Harry Belafonte und den anderen 200.000 Protestierenden nach Washington; er war im TV-Gespräch zusammen mit James Baldwin; er ermahnte 1967 die Presse vor laufenden Kameras, ihn nicht auf sein Schwarz-Sein zu reduzieren. Er sei auch Künstler, er sei ein Mann, ein Mensch.
Der Gedanke der Solidarität war Poitier wichtig. So erwähnte er in seinen Reden zur Akzeptanz von Auszeichnungen stets konkret Menschen, die ihn unterstützt hatten auf seinem Weg des enormen Erfolgs. 1993 dankte er beim Live Achievement Award des AFI (American Film Institute) auch jenem namenlosen jüdischen Kellner, der dem jungen Tellerwäscher Poitier das Lesen beibrachte. Und 2002 beim Ehrenoscar dankte er der »Handvoll« Autoren, Regisseuren und Produzenten, die »mutige, selbstlose Entscheidungen« trafen, und er akzeptierte die Auszeichnung im Gedenken an alle die afroamerikanischen Schauspielenden, »auf deren Schultern er privilegiert war, zu stehen«.
Der Film Lilien auf dem Felde, der Poitier endgültig in die zuvor nur weiße Hall of Fame führte, erzählt genau von solcher Solidarität sowohl am Rande der sozialistischen Gesellschaft in Osteuropa als auch der kapitalistischen in den USA, auf einer utopischen Insel ohne Rassismus mitten im Kalten Krieg.