15. April 2022
Aber wissen wir es besser? Fünf Großerzählungen übers Klima.
Im Herbst 2021 findet sich die globale Elite zur 26. UN-Klimakonferenz in Glasgow zusammen. Auf dem Treffen ruhen hohe Erwartungen: In diesen Tagen, so die allgemeine Wahrnehmung, wird sich entscheiden, ob die Welt an den bescheidenen Erfolg der Klimakonferenz von Paris anknüpfen und die ökologische Katastrophe noch abwenden kann – oder nicht.
Regierungsvertreterinnen der größten Volkswirtschaften der Welt – darunter China, Indien, die EU, die USA und Großbritannien – versprechen in Glasgow Klimaneutralität mit Zieldaten zwischen 2050 und 2070. Von diesem Ausgang sind viele Kommentatoren positiv überrascht. Noch vor wenigen Jahren war ein solcher Erfolg der internationalen Klimadiplomatie unvorstellbar. Großbritanniens Premierminister Boris Johnson lässt sich als erfolgreicher Gastgeber feiern. So ist es besonders peinlich, als wenig später ans Licht kommt, dass er etwa ein Jahr zuvor laut einem internen Memo erfragte, ob die Autorinnen des IPCC-Berichts überhaupt echte Wissenschaftler seien oder nicht.
Diese Art von Widersprüchlichkeit und Inkongruenz ist typisch für die internationale Klimapolitik: Blumige Versprechungen und hoffnungsvolle Verkündigungen neuer technologischer Durchbrüche auf der einen Seite, zerstörerischer Zynismus und alarmierende Untergangsszenarien auf der anderen. Es macht den Eindruck, als wolle die herrschende Klasse uns lediglich Sand in die Augen streuen – niemand unter den Reichen und Mächtigen beabsichtige ernsthaft, die Welt vor dem Klimakollaps zu bewahren.
Doch wenn es tatsächlich niemand ernst meint mit dem Klimaschutz, stellt sich die Frage, warum unsere Stromrechnungen in die Höhe steigen. In einer Welt ohne Klimawandel könnten wir uns einfach weiterhin mit billigem – und vom Weltmarkt unabhängigem – Braunkohlestrom versorgen. Stattdessen kommt in Deutschland inzwischen fast die Hälfte der Elektrizität aus erneuerbaren Quellen, welche noch bis vor kurzem als hoffnungslos unwirtschaftlich galten.
»Propaganda, Greenwashing und Wunschdenken erklären einen Gutteil der rosigen Nachrichten zu Fortschritten beim Klimaschutz.«
Warum sollte sich China erneuerbare Energien im Rekordmaßstab als unverhältnismäßig teure PR-Maßnahme leisten, wenn ihm die Meinung des Auslands zu seiner Regierungsführung sonst herzlich egal ist? Wenn alles nur grüner Schein ist, lässt sich nicht erklären, warum nicht nur in den Schaltzentralen der globalen Macht medienwirksam Klimaziele beschlossen werden, sondern die weltweiten CO2-Emissionen einer neuen Analyse des Global Carbon Projects zufolge in den letzten zehn Jahren tendenziell stagniert sind, während die Weltwirtschaft weiter wuchs.
Propaganda, Greenwashing und Wunschdenken erklären einen Gutteil der rosigen Nachrichten zu Fortschritten beim Klimaschutz. Doch sie reichen nicht aus, um alle Entwicklungen der letzten Jahre aufzuschlüsseln. Es gibt keine weltweite Verschwörung des Kapitals, das Klima nicht zu schützen. Gleichzeitig sind wir von einer koordinierten und zielgerichteten globalen Klima- und Umweltpolitik, die der Größenordnung der Probleme gerecht wird, sehr weit entfernt.
Obwohl sich die Interessen verschiedener Branchen und Kapitalfraktionen beim Klimaschutz unterscheiden, lässt sich die mangelnde Koordination der Staaten als »ideelle Gesamtkapitalisten« nicht allein daraus erklären. Es sind sogar oft dieselben Institutionen und Akteure, welche den Klimaschutz in Sonntagsreden hochhalten, montags torpedieren und dienstags dann Trippelschritte in die richtige Richtung gehen.
Die verstörende Wahrheit ist, dass die globalen Bemühungen zum Klimaschutz einem chaotischen Wirrwarr von Impulsen, Anreizen und Zielvorstellungen folgen. Es findet Klimaschutz statt – anders lassen sich die Entwicklungen des letzten Jahrzehnts nicht erklären – doch niemand weiß wirklich, wohin die Reise geht. Alle Akteure – ob Staaten, Unternehmen, zivilgesellschaftliche Organe oder Einzelpersonen – sind in strukturellen Zwängen gefangen, revidieren stetig ihre Entscheidungen und schielen nervös auf alle anderen Mitspieler: Manche von ihnen haben mehr Macht als andere, aber niemand hat das Sagen oder einen Plan.
Weder auf individueller noch auf gesellschaftlicher Ebene ist ein solcher Zustand der Unsicherheit haltbar. Unserem ökologischen Schicksal gegenüber können wir nur schwer agnostisch bleiben. Wie praktisch jede Gesellschaft vor uns integrieren wir unsere Ökologie in eine kosmologische Großerzählung. Wir sind uns nur nicht einig darüber, in welche.
Insgesamt lassen sich heute fünf bedeutende ökologische Narrative ausmachen. Alle berufen sich auf empirische Erkenntnisse – nur mehr oder weniger selektiv. Wir sprechen hier nicht von konkurrierenden naturwissenschaftlichen Hypothesen: Ökologische Großerzählungen dienen nicht in erster Linie der empirischen Wahrheitsfindung, sondern dazu, Diskurse zu strukturieren und politische Möglichkeitsräume auszuloten. Dabei spiele normative Wertvorstellungen mindestens so eine große Rolle wie wissenschaftliche Daten. So sind die Narrative einerseits mehr oder weniger egalitär orientiert und andererseits mehr oder weniger optimistisch, was die Möglichkeiten von Technologie angeht.
Auf der Rechten existieren zwei unterschiedliche Erzählungen: entweder man bestreitet die Brisanz ökologischer Fragen oder man interpretiert sie als reine Verteilungskämpfe um Ressourcen zwischen Nationen, Zivilisationen oder »Rassen«. Das neoliberale Zentrum betrachtet die Klimafrage hingegen zuallererst als technokratische Herausforderung – die Märkte werden die Klimakrise schon lösen, sofern man ihnen die richtigen Anreize bietet. Die Linke ist in der ökologischen Frage ebenfalls gespalten: Für viele Progressive, vor allem im Globalen Norden, ist Wachstumskritik zum festen Bestandteil des politischen Selbstverständnisses geworden. Doch es gibt auch weiterhin Linke, die diese Position in Frage stellen und dem technologischen Wandel, gestaltet und gelenkt durch einen aktiven öffentlichen Sektor, eine größere Rolle in der Umweltpolitik zuschreiben.
Du hast ein Abo, aber hast dich noch nicht registriert oder dein Passwort vergessen?
Klicke hier!
Alexander Brentler ist Journalist und Übersetzer.