14. Juli 2022
Die Jakobiner gelten vielen als Begründer eines diktatorischen Terrorregimes. Warum diese Darstellung einseitig ist und was wir vom politischen Geist der französischen Revolution erhalten sollten, erklärt der Philosoph Slavoj Žižek im JACOBIN-Interview.
Slavoj Žižek in Leipzig, 13. März 2015.
Die meisten Menschen wissen über die Französische Revolution, dass sie die Monarchie in Frankreich zu Fall brachte und den Grundstein für die liberale Demokratie in Europa legte. Außerdem inspirierte sie die Haitianische Revolution und später auch teilweise die Russische Revolution. Was sollten Menschen – insbesondere Linke – Deiner Meinung nach noch über die Französische Revolution wissen?
Ich werde versuchen, nicht nur zu jenen zu sprechen, die bereits überzeugt sind, sondern auch diejenigen zu verführen oder zumindest zu verwirren, die vielleicht aufrichtige Linksliberale sind, aber die vorherrschende Auffassung übernommen haben. Diese besagt, die Revolutionäre hätten es vielleicht gut gemeint, seien aber in der Sackgasse des absoluten Terrors mit willkürlicher Gewalt und so weiter gelandet, und dieser sei die Grundform des stalinistischen Terrors.
Ich hingegen denke, wir sollten sie rehabilitieren. Ich würde sogar so weit gehen zu sagen, dass wir in einigen Dingen zu den französischen Revolutionären zurückkehren sollten, selbst im Vergleich zur marxistischen Tradition.
Ich mag jetzt wie ein Positivist klingen, aber jenen, die wohlwollend, aber skeptisch sind, würde ich raten: Lasst uns die Fakten klarstellen. Ich habe mit einer Reihe von Expertinnen und Experten gesprochen, und die sagen, man solle den jakobinischen Terror nicht mit dem Terror der Nazis oder des Stalinismus vergleichen. Die Prozesse des Revolutionstribunals waren nicht, wie oft dargestellt wird, bloße Formalität, weil man in Wirklichkeit von vornherein verurteilt war. Der Anteil derer, die für schuldig befunden wurden, lag nur bei rund 60 Prozent. Man hatte also eine Chance von 40 Prozent, mit dem Leben davon zu kommen.
Weiter heißt es, viele der Anschuldigungen seien irrational gewesen. Dazu muss man einfach nur ehrliche, nicht einmal pro-jakobinische britische Historikerinnen und Historiker befragen, die sich das angesehen haben. Die Archive Großbritanniens sind niemals zerstört worden und haben alle möglichen Dokumente aufbewahrt, auch über die Interaktion der britischen Regierung mit den französischen Revolutionären. Dass Danton angeklagt und verurteilt wurde, wird für gewöhnlich als das erste Aufflackern des großen Wahnsinns dargestellt. Verzeihung, aber er war schuldig! Aus den inzwischen offengelegten Geheimdokumenten geht hervor, dass Danton die ganze Zeit über systematisch von der britischen Regierung bestochen wurde.
Was ist mit der Ermordung des Königs und der Königin? Die Revolutionäre wollten ihnen eine Chance geben. Aber während sie nicht einmal im Gefängnis saßen, sondern nur in ihrem Schloss isoliert waren, schmiedeten sie die ganze Zeit Komplotte mit den in Frankreich einfallenden Feinden, um die Regierung zu stürzen. Sie waren schlicht und einfach schuldig.
Wie sieht es zahlenmäßig aus? Einigen Quellen zufolge wurden in den ersten zwei bis drei Wochen des Thermidor, nachdem Saint-Just und Robespierre verhaftet und liquidiert wurden – also als der Terror angeblich vorbei war und die Menschen auf den Straßen tanzten – mehr Menschen getötet als während der gesamten Ära des revolutionären Terrors. Der Unterschied ist natürlich, wer guillotiniert wurde. Unter den Jakobinern waren es die bekannten Namen: Adelige und so weiter, deshalb weiß man von ihnen. Über die einfachen Leute, die hinterher enthauptet wurden, haben wir nicht einmal besonders genaue Statistiken.
Der letzte Punkt ist mein ultimatives Argument gegen diejenigen, die behaupten, die Herrschaft der Jakobiner sei eine terroristische Diktatur gewesen. Was auch immer man über sie sagen mag: Robespierre und Saint-Just waren keine Idioten. Sie wussten, dass sich in der Nationalversammlung nach und nach eine Koalition bildete, um sie abzusetzen. Sie waren, wenn überhaupt, zu verfahrensliberal. Sie wollten keinen Staatsstreich durchführen, um ihre direkte Herrschaft einzuführen.
Nein, sie handelten geradezu tragisch naiv: In den Tagen vor dem Thermidor sah man Robespierre in Paris an der Seine entlanglaufen und über seine Rede grübeln. In seiner Vorstellung war das Mittel, mit dem er triumphieren würde, nicht die Verhaftung der Konterrevolutionäre, sondern eine große Rede in der Nationalversammlung. Geklappt hat es nicht und er wurde durch eine einfache Stimmenmehrheit gestürzt. Verzeihung, aber der Sturz eines totalitären Herrschers sieht anders aus.
Robespierre war durchaus gemäßigt. Er war sich der Gefahr bewusst, dass der Terror in Wahnsinn ausarten könnte. Seine letzten Schriften sind geprägt von einer zweifachen Sorge. Die erste war, wie man den Terror allmählich zu Ende bringt. Die zweite war seine vielleicht bedeutendste Einsicht – und hier liegt die eigentliche Größe von Robespierre, Saint-Just und einigen anderen. Sie waren sich dessen bewusst, was der Marxismus später als einen allmählichen Übergang aus der republikanischen Form zu einer persönlichen Diktatur bezeichnen würden: den Bonapartismus.
Sie ahnten, dass es wahrscheinlich dazu kommen würde, und diskutierten sogar die Versuchung, selber diese Rolle zu übernehmen. Aber sie kamen zu dem Schluss: Nein, es ist besser, wir bekommen unsere Köpfe abgeschlagen, als dass wir diesen Weg beschreiten. Das ist für mich eine der schönsten ethischen Gesten.
Und der Schritt von Robespierre zu Napoleon machte einen riesigen Unterschied. Ich will dafür nur einen Beweis anführen, und der betrifft die Haitianische Revolution. Bekanntermaßen bin ich sehr auf die Haitianische Revolution fixiert. Ich glaube sogar, dass die Französische Revolution erst durch ihre Wiederholung in Haiti zu einem welthistorischen Ereignis wurde. Dieses Modell musste seine Universalität erst beweisen, indem sich eine ganz andere ethnische und kulturelle Gruppe darin wiedererkannte.
Erst an der Haitianischen Revolution zeigte sich, wer wirklich fortschrittlich dachte. Der vermeintlich konservative Hegel zum Beispiel lobt in einer wunderbaren Fußnote in seiner Rechtsphilosophie, Haiti habe bewiesen, dass auch eine Nation, die nicht zu den »aufgeklärten« Völkern Westeuropas gehört, erfolgreich einen modernen Staat gründen kann.
Als die neue haitianische Regierung um Toussaint Louverture während der Herrschaft der Jakobiner eine Delagation in die Pariser Nationalversammlung entsandte, wurde sie dort feierlich empfangen. Man erkannte sie als Gleiche an. Doch das änderte sich mit Napoleon. Er schickte eine Armee, die nicht einfach nur Ordnung schaffen sollte – das heißt, die Sklaverei wieder einzuführen. Für Napoleon war Haiti vielmehr ein Präzedenzfall, den er für so gefährlich hielt, dass er alle ehemaligen Sklaven töten und neue Sklaven anschaffen lassen wollte.
Was folgte, ist für mich der erhabenste Moment. Jeder Revolutionär sollte diese Geschichte kennen. Ein bedeutender Teil der napoleonischen Armee bestand aus polnischen Soldaten. Und was sie taten, war unglaublich. Als sie auf die Schwarze Revolutionsarmee zukamen, hörten sie diese singen. Erst dachten sie, das müssten irgendwelche Stammesgesänge sein – doch dann erkannten sie das Lied: Es war die Marseillaise. Die polnischen Soldaten fragten sich: Moment mal, kämpfen wir hier auf der richtigen Seite? Und sie liefen über. Sie schlossen sich den Schwarzen an.
Als die Haitianische Revolution nach dem Tod von Touissant Louverture vom Kurs abkam und der neue Herrscher Jean-Jacques Dessalines befahl, alle Weißen umbringen zu lassen, wurden Menschen polnischer Abstammung aus eben diesem Grund ausdrücklich davon ausgenommen. Dessalines sagte: Sie haben uns gerettet, also sollen sie leben.
Dazu möchte ich noch etwas anfügen – keine Rechtfertigung, sondern eine Erklärung: So wie ich es verstehe, war dieser Befehl, alle Weißen zu töten, genau der Moment, in dem die Schwarze Revolution begann, die weißen Machtstrukturen zu imitieren. Jetzt wollten sie die herrschende Klasse sein. Es war also nicht etwa so, dass sie »zu weit gegangen« sind, sondern er handelte sich um ein immanent reaktionäres Moment – einen Versuch, die alte Machtstruktur wiederherzustellen, nur diesmal mit ihnen an der Spitze.
Die Haitianische Revolution gehört zu uns. Wir sollten uns immer an sie erinnern; an die erste Kolonie, die Unabhängigkeit erlangte, und die – hier wird mir zu Unrecht Eurozentrismus vorgeworfen – zweifellos europäischer war als wir Europäer, vorausgesetzt wir meinen mit »europäisch« das, was an unserem Erbe das Beste ist: Freiheit, Gleichheit und so weiter.
Sie hat die Französische Revolution vollendet. Die Amerikanische Revolution hingegen bleibt bis heute unvollendet – hier folge ich meinem Freund Jean-Claude Milner, der zwar nicht gerade ein radikaler Linker ist, in diesem Punkt aber Recht hat. Für ihn war sie nie ein authentisches emanzipatorisches Ereignis. In einer großartigen Polemik gegen Hannah Arendt zeigt er, dass die Amerikanische Revolution stets ein Kompromiss gewesen ist, der bis heute hinzieht.
Rechte entgegnen daraufhin: Schau dir Haiti heute an, mit dem ermordeten Präsidenten und so weiter. Das ist der Fluch von Haiti, die Strafe für die Menschen, nur weil sie diese Revolution gemacht haben. Die gesamte europäische Moderne ist von einem Paradox geprägt: Sie war erfüllt von der Idee von Freiheit in Abgrenzung zur Sklaverei. Sklaverei wurde dabei aber hauptsächlich in dem metaphorischen Sinne verstanden, in dem ein Arbeiter ein Sklave oder eine Frau im Haushalt eine Sklavin ist. Über die tatsächliche Sklaverei, die in der Anfangszeit des Kapitalismus explodierte, wurde hingegen nur wenig geschrieben. Genau diese Sklaverei haben die Menschen von Haiti aber abgeschafft. Und sie wurden dafür über zweihundert Jahre lang bestraft.
Heute scheint es, als seien das alles nichts als romantische Träumereien. Die Leute sagen: Wir leben in einer komplexen, digitalisierten Gesellschaft, es ist nicht mehr die Zeit für solche Dinge. Ich bin da anderer Ansicht. Ich denke, wir steuern auf den Notstand zu. Wir wissen jetzt, dass Covid nicht einfach verschwinden wird; es werden weitere Pandemien kommen; die globale Erwärmung wird zunehmend Realität und so weiter. Wenn wir in dieser Situation bestehen wollen, bleibt uns nur ein Ausweg.
Erstens: Voluntarismus. Wir können die nötigen Maßnahmen, um unsere Produktion auf ökologische Ziele auszurichten, nicht mit einer zwingenden Notwendigkeit der Produktivkräfte begründen. Wir müssen einfach handeln, auch wenn es der Marktlogik widerspricht.
Zweitens: Egalitarismus. Selbst diejenigen, die heute an der Macht sind, müssen inzwischen Lippenbekenntnisse dazu abgeben. Im Kampf gegen die Pandemie sollte es nicht unser Ziel sein, geschützte Enklaven für einige Wenige zu schaffen, sondern eine angemessene gesundheitliche Versorgung für alle Menschen zu gewährleisten.
Drittens: Elemente des progressiven Terrors. Ich meine damit nicht, dass eine Geheimpolizei Menschen abgreift, sondern dass man in einer Pandemie oder wenn die Natur im Chaos versinkt, die Situation kontrollieren können muss.
Und viertens: Vertrauen in die Menschen. Das kann nicht nur bedeuten, dass alle vier Jahre eine Wahl stattfindet, und danach die Korruption weitergeht wie vorher. Auch bei der Bekämpfung der Pandemie hat sich gezeigt, dass Länder, in denen zwischen Staat und Bevölkerung ein Vertrauensverhältnis besteht, am besten zurechtkommen.
Diese vier Elemente braucht eine Notstandsregierung: Voluntarismus, Egalitarismus, progressiver Terror und Vertrauen in die Menschen. Die Jakobiner haben in einem ähnlichen Modus gehandelt haben und den sollten man an die heutigen Bedingungen anpassen. Wenn wir mehrere Katastrophen zur gleichen Zeit bewältigen wollen, müssen wir diese Grundlogik neu erfinden.
Hier bin ich auf der Seite von Lenin. Leute sagen oft zu mir: Aber Moment mal, du bist gegenüber Lenin doch kritisch eingestellt. Das mag sein, manchmal. Aber der einzige Lenin, den ich so gar nicht ausstehen kann, ist Lenín Moreno, der ehemalige Präsident von Ecuador, der Assange an die USA ausgeliefert hat.
Der Unterschied ist: Wir sollten nicht nach Lenins Schriften handeln, sondern im Geist seiner Taten. Die Menschewiki waren einfach altmodische orthodoxe Marxisten. Marx hat bekanntlich einmal gesagt: »Alles was ich weiß, ist, daß ich kein Marxist bin!« Ich denke, das trifft genau auf die Menschewiki zu. Sie meinten ja, man solle nicht von der Revolution träumen, die Situation in Russland sei noch nicht reif. Das Land müsste erst den geordneten Übergang zum Kapitalismus und zur bürgerlichen Demokratie vollziehen.
Lenin hingegen sah abseits all dieser evolutionären marxistischen Standardformeln die Gelegenheit zur Revolution. Und ich denke, dass auch das, was heute getan werden muss, nicht in den für meinen Geschmack zu vertrauensseligen Standardvorstellungen der Entwicklung der Produktivkräfte formuliert werden kann. Auch wir sollten voluntaristischer und schneller handeln.
Was können wir aus der Geschichte der Französischen Revolution über reaktionäre und konterrevolutionäre Kräfte lernen?
Es heißt für gewöhnlich, die Jakobiner seien zu radikal gewesen, sie hätten den Kompromiss suchen sollen. Bei der Oktoberrevolution ist es dasselbe. In beiden Fällen sagt man, dass die Revolutionäre die Macht auch auf eine organischere und friedlichere Weise hätten erringen können, anstatt durch den Terror, der ihnen die Konterrevolution und den Bürgerkrieg einhandelte.
Aber das ist nicht so einfach. Können wir uns heute überhaupt vorstellen, unter welch ungeheurem Druck Frankreich 1792/93 und die Sowjetunion 1918/19 gestanden haben? In beiden Fällen kontrollierte die Zentralregierung nur etwa ein Siebtel des Staatsgebiets. Und das lag nicht etwa daran, dass sich einige Bauern gesträubt hatten.
Was die junge Sowjetunion angeht, gibt es ein Buch, das man zu diesem Thema unbedingt lesen sollte. Damals schloss sich der US-amerikanische General William Graves mit seinen Truppen der Armee von Alexander Koltschak an, der gefährlichsten Weißen Konterrevolution mit ihrem Zentrum in Sibirien, die zwischenzeitlich den Ural und große Gebiete im asiatischen Teil der Sowjetunion eroberte. Nach Ende des Bürgerkriegs schrieb Graves seine Memoiren. Und die zeichnen ein erschreckendes Bild.
Manche Leute sagen, die Kommunisten seien antisemitisch gewesen. Aber es war Koltschak, der in seinen Gebieten wie verrückt die Protokolle der Weisen von Zion drucken ließ und behauptete, es gäbe eine jüdisch-bolschewistische Verschwörung. Aus dieser Zeit stammt auch die Karikatur, die Trotzki als jüdischen Teufel darstellt.
Außerdem beschreibt Graves sehr detailliert, was die Weißen Konterrevolutionäre taten, wenn sie ein Gebiet besetzten: Unglaubliche Säuberungen, die viel brutaler waren, als die Gewalt, mit der die Bolschewiki diese Territorien letztendlich zurückeroberten – Massentötungen, die Rückgabe von Land an die früheren Eigentümer und so weiter. Die Brutalität ging also keineswegs bloß von den Bolschewiki aus, sondern die Lage war viel komplexer.
Viele Bauern hatten erst gesagt: Wir trauen den Bolschewiki nicht, sollen die Konterrevolutionäre kommen. Doch unter den Weißen verschlechterte sich ihre Lage extrem. Am Ende begrüßten sie die Rückkehr der Roten Armee geradezu. Man darf nicht vergessen, dass Lenins Losung zu diesem Zeitpunkt nicht die Kollektivierung war, sondern eine Landreform zugunsten der Bauernschaft. Und das haben die Bolschewiki auch umgesetzt. Das war ein genialer Schachzug Lenins. Er warnte zum Ende seines Lebens vor den Gefahren einer zu schnellen Sozialisierung.
Und wisst ihr, wer sich heute auf diesen Lenin zurückbesinnt? Mein guter Freund – das kann ich mit Stolz sagen, obwohl wir uns nur zwei Mal getroffen haben – Álvaro García Linera, der ehemalige Vizepräsident von Bolivien. In unseren Diskussionen haben wir gemeinsam einen Begriff dafür geprägt: eine prinzipientreu-pragmatische Haltung. Aber wie lässt sich diese Haltung aktualisieren, ohne einen kommunistischen Horizont?
Wir müssen vorsichtig sein, keine Leute zu verprellen, die nicht zwingend unsere Feinde sind. Hier war Lenin unglaublich offen. Ich habe einige Dokumente darüber gelesen, wie Manager von westlichen Konzernen wie Rockefeller die Sowjetunion nach dem Bürgerkrieg besuchten. Lenin war fasziniert von ihnen. In seinen Augen waren sie Meister darin, große Fabriken in all ihrer Komplexität zu organisieren.
Morales, Linera und Arce haben in Bolivien dasselbe Wunder vollbracht. Sie waren radikal – aber auf eine sehr vorsichtige Art. Sie haben es nicht verbockt. Leute sagen mir: Na gut, aber wann immer die radikale Linke an die Macht kam, hat sie es verbockt. Aber nicht in Bolivien. Die reale Kaufkraft eines einfachen Arbeiters hat sich in der Amtszeit von Morales mehr als verdoppelt. Die Regierung hat es geschafft, das Großkapital zu kontrollieren und für ihre Zwecke auszunutzen, also es für sie arbeiten zu lassen.
Ich denke, das ist es, was wir heute brauchen. Und hier kommen die Jakobiner wieder ins Spiel. Da sind mir die Jakobiner ein bisschen lieber als Lenin – nicht Lenin, der Praktiker, sondern Lenin, der Theoretiker. Lenin dachte für meinen Geschmack zu idealistisch und zugleich zu deterministisch. Er ging davon aus, die Geschichte wäre auf unserer Seite, sie folgte festgelegten Phasen und wir würden lediglich Aufgaben erfüllen, die sie uns vorgäbe.
Robespierre und Saint-Juste sahen das anders – und sie haben eine wunderbare Metapher dafür geprägt. Sie sagten: Eine Revolution ist wie mit einem Schiff auf stürmischer See zu sein, ohne eine Karte oder einen Kompass zur Orientierung. Man muss improvisieren. In der Praxis hat Lenin genau so gehandelt. Und auch wir sollten uns der Offenheit der Situation bewusst sein.
Um auf die Frage des Umgangs mit der Konterrevolution zurückzukommen: Am Ende geht es darum, an der Macht zu bleiben. In der Machtfrage sollte man keine Kompromisse eingehen, aber man sollte sich auch keine unnötigen Feinde schaffen.
Man muss rational an diese Dinge herangehen. Wo es effiziente Großunternehmen gibt, muss man sich fragen, wie man sie kontrollieren kann, ohne die Produktion zu ruinieren. Der Lenin der Neuen Ökonomischen Politik wusste, dass der Staat die kleinteilige Produktion von Konsumgütern nicht bewerkstelligen kann. Also wollte er die Privatwirtschaft nutzen und sie für sich arbeiten lassen.
Ich denke, so bekämpft man die Konterrevolution am besten. Auf grundsätzlicher Ebene sollte man also keine Kompromisse machen, aber denjenigen, die im Prinzip unsere Gegner sind, könnte man etwa anbieten: Haltet euch an unsere Regeln, tragt zum Wohlstand der Gesellschaft bei – und dafür tolerieren wir ein gewisses Maß an Reichtum auf eurer Seite. Das ist möglich und das sollten wir anstreben.
Slavoj Žižek, ein Enfant Terrible der Philosophie, ist Autor von mehr als dreißig Büchern und gilt als »der Elvis der Kulturtheorie« und »der gefährlichste Philosoph in der westlichen Welt«.