12. Mai 2020
Nach der Quarantäne könnte der Neoliberalismus sein Comeback feiern. Um den Profiteuren der Krise zu entkommen, müssen wir schleunigst zusammenarbeiten und kreativ werden.
Geierkapitalisten: In der Krise kaufen Spezialisten für sogenannte »notleidende Kredite« wertlos gewordene Aktien auf.
Die 1807 von Heinrich von Kleist veröffentlichte Novelle Das Erdbeben in Chili erzählt die Geschichte eines jungen Liebespaars. Er sitzt zu Beginn der Handlung im Gefängnis, sie im Kloster – als Strafe für ihr unehelich gezeugtes Kind. Als ein Erdbeben plötzlich die Stadt erschüttert, kommen die beiden frei und finden sich inmitten der Trümmer wieder. Gemeinsam fliehen sie in den Wald und treffen dort auf Menschen, die zwar von ihrer Sünde wissen, sie aber willkommen heißen, anstatt sie zu verurteilen. Der Strudel der Ereignisse hat alles verändert: »Statt der nichtssagenden Unterhaltungen, zu welchen sonst die Welt an den Teetischen den Stoff hergegeben hatte, erzählte man jetzt Beispiele von ungeheuern Taten.«
Erleichtert folgt das Paar den Massen in die einzige Kathedrale, die das Erdbeben überstanden hat. Voller Schrecken müssen sie dort mitanhören, wie der Priester gegen ihre Sünden wettert. Auf dem Höhepunkt der Predigt, erkennt die Menge die beiden als Schuldige und schlägt sie tot. Die neue Welt verschwindet so schnell, wie sie gekommen ist.
Mit der Ausbreitung von Covid-19 in China, Westeuropa und den USA erlebten wir unsere eigene Version des Erdbebens. Die Lockdowns und die Unsicherheit über wirtschaftliches Wachstum führen zu fallenden Ölpreisen und einem beispiellosen Anstieg der Arbeitslosenzahlen.
Seit dem Ausbruch der Pandemie hören wir häufig ein Gerücht, das in Zeiten solcher Erschütterungen – von der Asienkrise 1997 über die globale Finanzkrise 2008 bis zum Sieg der »Leave«-Kampagne und zur Wahl Donald Trumps im Jahr 2016 – routinemäßig laut wird: Der Neoliberalismus, heißt es in Kommentaren, Analysen und Tweets, sei tot. Länder mit starken Sozialstaaten und gut ausgebauten Sicherungsnetzen – Deutschland, Südkorea, Taiwan – haben das Virus unter Kontrolle, während in Staaten, die eine libertäre Richtung eingeschlagen haben – wie die USA und das Vereinigte Königreich – die Staatsoberhäupter zögerten und zuließen, dass Teile des Landes sich in Bieterwettkämpfen um lebensrettende Beatmungsgeräte, Tests und Gesichtsmasken Konkurrenz machten. Wie könnte da noch irgendjemand behaupten, der Markt sei die Lösung aller sozialen Probleme?
»Plötzlich bietet sich der Menschheit eine eigentlich unverdiente Chance auf Erlösung.«
Der tägliche Applaus für das systemrelevante Gesundheitspersonal soll diesen Akteuren der sozialen Reproduktion neuen Wert verleihen. Großzügige Trinkgelder für Lieferantinnen und Lieferanten sowie Gesten der Solidarität mit den Arbeitenden in Amazons Logistik- und Auslieferungszentren könnte eine neue Sicht auf die unterbezahlte Arbeit bedeuten, die unser modernes Leben so reibungsfrei funktionieren lässt. Blauer Himmel über Delhi und Beijing, Luftverschmutzungslevel weit unter allen Alarmstufen in Los Angeles, Unternehmen, die dafür bezahlen, Ölfässer loszuwerden, die sie nicht länger wollen … Natürlich würden wir nach der Pandemie erkennen, dass wir bisher in einer verfluchten Welt gelebt haben, und dass diese hier die richtige sei. Plötzlich bietet sich der Menschheit eine eigentlich unverdiente Chance auf Erlösung.
Doch wenn wir das Paar sind, das bei Kleist Zuflucht im Wald suchte, dann sind wir jetzt schon auf dem Weg in die Kathedrale, zu unserem schicksalhaften Gottesdienst. Der US-Kongress ratifizierte in den letzten Wochen ein Rettungspaket mit einem Volumen von zwei Billionen Dollar, von dem in erster Linie große Unternehmen und Superreiche profitieren werden – nicht jedoch normale Arbeiterinnen und Arbeiter. Spekulationen über einen Rettungsschirm für die US-amerikanische Ölindustrie deuten darauf hin, dass der kohlenstoffgetriebene Kapitalismus auch weiterhin am Laufen gehalten werden wird – insbesondere, nachdem die Environmental Protection Agency für die Zeiten der Pandemie einige Regulierungen aufgehoben hat. Der Premierminister der kanadischen Provinz Alberta hat sieben Milliarden Dollar für sein geliebtes Pipeline-Projekt versprochen. Pflegerinnen, Pfleger und andere Beschäftigte des Gesundheitssektors erfuhren zwar Anerkennung, doch das gilt nur insofern, als diese Berufssparte eine der wenigen ist, die von der per präsidentiellen Verfügung erlassenen grundsätzlichen Immigrationssperre des Landes ausgenommen sind.
»Die Kirche des Neoliberalismus wird wiederaufgebaut, und das im Ausnahmezustand aufblitzende Paradies wird im Keim erstickt.«
Die Vereinigten Staaten haben ihr eigenes sündiges Paar gefunden, das sie attackieren können. »China angreifen«, drängt ein jüngst aufgetauchtes Strategiepapier die Kandidaten der Republikanischen Partei. Mehr als die Hälfte aller US-Amerikanerinnen und -Amerikaner befürworten virusbedingte Reparationsforderungen an China; die USA haben ihre Zahlungen an die Weltgesundheitsorganisation aus Protest gegen deren angebliche Unterwürfigkeit gegenüber der Volksrepublik eingestellt; und der Bundesstaat Missouri hat China (sowie eine Reihe nahestehender Institutionen) vor einem US-Gericht angeklagt. Ein vom Präsidenten geliebter Fox-News-Kommentator schrie im Fernsehen herum, Politikerinnen und Politiker müssten endlich »herausfinden, wie man China bestrafen, ausgrenzen, abschrecken und finanziell sanktionieren kann. Sie müssen China zur Verantwortung ziehen für das, was sie uns und dem Rest der Welt angetan haben.« Die zerbrechliche Einigkeit wird – wie so oft – wiederhergestellt, indem Außenstehende, Fremde, nichtweiße Personen ins Visier genommen werden.
Ohne gesellschaftliche und politische Intervention wird die Gemeinschaft nach dem Erdbeben genau so aussehen wie zuvor. Es wird sich nur etwas von der neuen Ordnung retten lassen, wenn soziale Bewegungen dafür kämpfen. Doch die Straßen sind leer, die potenziellen Demonstrantinnen und Demonstranten üben sich in Selbstisolation und versorgen ihre Kinder.
Der führende oppositionelle Gegenspieler Trumps ist eine älterer Herr, der in Delaware in seinem Keller sitzt und die Angewohnheit hat, immer mal wieder für längere Zeit aus der Öffentlichkeit zu verschwinden. Joe Biden war der ungefährlichere Kandidat gegenüber dem Rebellen Bernie Sanders. Jetzt hockt er ohne eigene Vision in seinem Bunker.
Wir haben eine Welt gesehen, in der der Kapitalismus zum Stillstand gekommen ist. Doch er wird wieder anlaufen. Wenn die Vereinigten Staaten wieder »aufmachen«, werden sie den alten USA sehr ähneln. Große Unternehmen werden noch größer sein und mehr als je zuvor zu dem Präsidenten halten, der sie gerettet hat. Nie dagewesene Ausgaben werden die Argumente pro Austeritätspolitik wiederbeleben.
Die »Vordenker« der vor Kurzem von Trump angekündigten »Great American Economic Revival Industry Groups« stammen allesamt aus den »Freihandels«-Thinktanks, die die Republikanische Partei schon seit Ronald Reagan beraten – Heritage Foundation, Cato Institute, Hoover Institution, American Legislative Exchange Council. Priester, die herbeiströmen, um ihre Predigten zu halten. Die Kirche des Neoliberalismus wird wiederaufgebaut, und das im Ausnahmezustand aufblitzende Paradies wird im Keim erstickt.
Man muss den Blick nur nach oben richten, um die eigentliche Geschichte zu erkennen. Über dem Kirchturm kreisen bereits die Geier. Das Wall Street Journal prophezeit eine Reihe von Kreditausfällen, Pleiten und Umstrukturierungen. Gefährdete Unternehmen werden dabei zusehen müssen, wie ihre wertlos gewordenen Aktien von Spezialisten für sogenannte »notleidende Kredite« aufgekauft werden, besser bekannt als »Geierkapitalisten« (vulture capitalists). Sie werden die Spielräume nutzen, die ihnen Kapitel 11 des US-amerikanischen Insolvenzrechts bietet, indem sie Angestellten Sozialleistungen kürzen oder diese dem Staat aufbürden, bevor sie die Unternehmen weiterverkaufen und so Profite einfahren.
»Gnadenlos wird den Unternehmen Profit abgerungen, während die menschlichen und sozialen Kosten ignoriert werden.«
Wilbur Ross, ein Pionier solcher Geschäftsmodelle und inzwischen Handelsminister der Vereinigten Staaten, pries Insolvenzen 2003 als »unternehmerische Form des Darwinismus«. Noch unverblümter drückte sich Howard Marks, der (Mit-)Gründer der Investmentgesellschaft Oaktree Capital Management, in einem vom Wall Street Journal zitierten Brief an die Investorinnen und Investoren aus: »Kapitalismus ohne Insolvenz ist wie Katholizismus ohne Hölle«, schrieb er und deutete an, dass Rettungsschirme die Marktakteure nicht vor einer »gesunden Verlustangst« schützen sollten. Dabei unterschlug er, dass Leute wie er gelernt haben, vom Höllenfeuer zu profitieren: Der Oaktree Capital Fund bringt Berichten zufolge 15 Milliarden US-Dollar für den bisher größten Überschuldungsfonds auf.
Nächstes Jahr werden wir die Litanei von »Sanierungsmaßnahmen und Umstrukturierungen« erleben, für die die Insolvenzbranche bekannt ist. Gnadenlos wird den Unternehmen Profit abgerungen, während die menschlichen und sozialen Kosten ignoriert werden. Überschuldungsfonds sind die Kredithaie der Geschäftswelt und werden keine Gewissensbisse haben, den Reingewinn als oberstes Mantra durchzusetzen. Eine Vorahnung dieser kalten Wirtschaftlichkeit konnten wir schon in den letzten Monaten erlangen, als die Aktienkurse ebenso nach oben schnellten wie die Zahl der Arbeitslosen und Toten. Einigen erschien dieser Zusammenhang schockierend, gar skandalös. »Der Aktienmarkt interessiert sich nicht für deine Gefühle«, war die Antwort eines Business-Journalisten der Los Angeles Times, »und er sollte es auch nicht.«
Die Wirtschaft liegt durch Covid-19 in Trümmern, und wir haben eine kleine Chance, sie neu zu strukturieren. Doch um den Geiern zu entkommen, müssen wir kreativ sein und zusammenarbeiten. Nach der Befreiung aus der Quarantäne, könnten wir die Überbleibsel der alten Gesellschaft nutzen, um neue Gebäude, Gärten, Spielplätze und – wenn notwendig – Barrikaden zu errichten.
Dieser Beitrag erschien zuerst bei The Nation.
Quinn Slobodian ist Professor für Geschichte am Wellesley College. Seine jüngste Veröffentlichung auf Deutsch ist »Globalisten: Das Ende der Imperien und die Geburt des Neoliberalismus« (Suhrkamp, 2019).