27. September 2021
Nach einer Bundestagswahl ohne echte Sieger steht fest: Wenn die politische Linke deutschlandweit Wahlen gewinnen will, muss sie mit ihren Gewohnheiten brechen.
Die misslungene Öffentlichkeitsarbeit hat ihren Teil zur Wahlschlappe beitragen.
Sicher, es gab schon schlimmere Wahlnächte in Deutschland. Zum ersten Mal seit langem hat das linksliberale Lager hinzugewonnen: SPD und Grüne legten zusammen mehr als 10 Prozent zu. Berlin sendet mit dem klaren Votum für den Volksentscheid »Deutsche Wohnen und Co Enteignen« ein eindeutiges Signal an die ganze Republik: Die Exzesse eines privatisierten Wohnungswesens und eines aus der Kontrolle geratenen Immobilienmarkts sind für die breite Mehrheit unerträglich.
Und doch kann in der gesellschaftlichen Linken niemand mit dem Wahlergebnis zufrieden sein. Die Chance auf eine linke Regierung war nicht ausgeschlossen. Am Ende fehlten Rot-Grün-Rot gerade einmal fünf Mandate im Bundestag. Zwar lief der Abend auch für die Grünen enttäuschend, doch für das numerische Scheitern von Rot-Grün-Rot ist in erster Linie das desaströse Abschneiden der Linkspartei verantwortlich.
Man darf hier nichts beschönigen: DIE LINKE hat ihr Ergebnis halbiert und ist unter die Fünf-Prozent-Hürde gerutscht. Dass sie überhaupt noch im Bundestag in Fraktionsstärke vertreten sein wird, verdankt sie einigen tausend Stimmen in Berlin-Lichtenberg, Treptow-Köpenick und Leipzig – wobei die Partei in keinem der drei Wahlkreise, die sie gewinnen konnte, bei den Zweitstimmen vorne lag. Mit anderen Worten: Es waren die drei lokal bekannten und respektierten Persönlichkeiten Gregor Gysi, Gesine Lötzsch und Sören Pellmann, welche die dysfunktionale Partei am Ende noch ins Parlament hievten.
Von den Spitzenpolitikerinnen der Partei hört man bislang nur die üblichen Phrasen. Man wolle das Ergebnis »genau auswerten«. Dabei ist schon jetzt offensichtlich: Die Strategie der LINKEN ist auf ganzer Linie gescheitert. »Verbindende Klassenpolitik« als wackeliger ideologischer Pfeiler, auf dem die verschiedensten aktivistischen Partikularinteressen lasten, trägt nicht. Wählerinnen schallt ein wildes Stimmengewirr entgegen. Anstatt eine Wahlkampagne mit klaren Kernbotschaften zu führen, wirkte die Außenpräsentation chaotisch und das Wahlkampfmaterial gestrig, langweilig und introvertiert.
Aber beweist der Erfolg von »Deutsche Wohnen und Co Enteignen« nicht, dass der aktivistischen »Bewegungspolitik« die Zukunft gehört? Mitnichten. Das Gegenteil ist der Fall.
Am Erfolg des Volksentscheids lässt sich ablesen, dass linke Politik – auch mit radikalen Forderungen – mehrheitsfähig und beliebt ist. Dieses Potenzial schlägt sich jedoch in keiner Weise in der Beliebtheit linker Parteien nieder. Mehr als 1 Million Wählerinnen stimmten in Berlin für die Vergesellschaftung von Wohnungen in Konzernbesitz. Grüne und LINKE, die einzigen großen Parteien, welche den Volksentscheid nicht offen ablehnten, kamen zusammen auf nicht einmal 600.000 Stimmen.
Mit anderen Worten: Ähnlich wie viele Menschen im ganzen Land wollen auch die Berlinerinnen eine linke Politik, doch sie misstrauen linken Parteien und Politikerinnen zutiefst. Der Volksentscheid muss nun von einem Senat umgesetzt werden, der ihm feindselig gegenübersteht. Dabei wird sich schnell zeigen, dass Transformationen von dieser Tragweite nicht möglich sind, wenn man auf staatlicher Ebene keinen Einfluss hat. Wer voll auf eine aktivistische Avantgarde setzt und die Parteiarbeit schmäht, wird schnell lernen müssen, dass parteipolitisch besetzte Institutionen in einem Land wie unserem am längeren Hebel sitzen.
Eine Partei, besonders eine sozialistische Partei, muss mehr sein als ein Sammelbecken für soziale Bewegungen. Sie muss die Stimmen der diversen arbeitenden Klasse in Stadt und Land, Fabrik, Krankenhaus und Kita, weibliche und männliche, migrantische und nicht-migrantische bündeln und als gemeinsames Interesse artikulieren. Genau diesen Anspruch hat die Linkspartei insgeheim längst aufgegeben. Die Quittung dafür hat sie gestern bekommen.
Das Wahlergebnis der LINKEN ist für die Zukunft der Partei vielleicht das denkbar schlechteste. Die Partei ist so geschwächt, dass sie im parlamentarischen System nicht mehr als soziales Korrektiv dienen kann. Voraussetzung dafür wäre, dass die herrschende Klasse vor einem möglichen Erstarken der Partei zumindest einen wenig beunruhigt wäre.
Der Präsenz der Linkspartei im Bundestag ist es zu verdanken, dass sich Tempo und Intensität des Sozialabbaus in Deutschland nach 2005 verlangsamten und in einzelnen Bereichen, wie etwa dem Mindestlohn, Schritte in die richtige Richtung erfolgten.
Doch seit gestern ist die Gefahr gebannt. Niemand nimmt DIE LINKE mehr ernst, die Eliten schon mal gar nicht. Auf Deutschland kommen rauere Zeiten zu. Umso bitterer ist es, dass es SPD und Grüne mit oberflächlichen Bekenntnissen zu sozialer Gerechtigkeit gelungen ist, so viele Enttäuschte zurückzugewinnen – nur um damit womöglich einen Finanzminister Lindner oder einen Bundeskanzler Laschet oder beides zu ermöglichen.
Das Ergebnis der Linkspartei ist gleichzeitig nicht schlecht genug, um eine wirkliche personelle und inhaltliche Erneuerung zu erzwingen. Weder Dietmar Bartsch noch Janine Wissler haben sich in den letzten Monaten besonders schlecht geschlagen – aber ein paar starke Auftritte in Polit-Talk-Shows reichen nicht aus, um jahrelange amateurhafte Öffentlichkeitsarbeit und misslungene politische Kommunikation auszubügeln. Die Partei braucht ein neues Image, und das wiederum bedeutet – mindestens – einen Personalwechsel.
Doch durch den Erhalt des Fraktionsstatus werden die Hauptverantwortlichen für das Desaster in Zentrale, Fraktion und Parteistiftung wohl ihre Posten behalten können. Damit verstreicht die vermutlich letzte Gelegenheit, die Partei vor der Bedeutungslosigkeit zu retten.
Will man sich nicht auf zufällig günstig zugeschnittenene studentisch geprägte Wahlkreise in ostdeutschen Großstädten verlassen, um im Bundestag präsent zu bleiben, muss man eine politische Vision entwickeln, die bei einem relevanten Teil der Mehrheitsgesellschaft anschlussfähig ist. All jene, welche dies in den letzten Jahren innerhalb der Partei anmahnten, wurden niedergeschrien und als ewiggestrige Reaktionäre verunglimpft.
Deutschland braucht dringend eine Partei im Parlament, die links von der SPD steht: als soziales Korrektiv, als Sprachrohr der Ausgeschlossenen, als außenpolitisches Gewissen, als Stimme für den Frieden. Die SPD-Linke hat mit ihrer Unterwerfung unter den Scholz-Konsens bewiesen, dass sie dieser Aufgabe nicht gerecht werden kann oder will. Die Grünen haben sich schon seit langer Zeit anderen Milieus zugewandt.
Nur 6,6 Prozent der Gewerkschaftsmitglieder wählten bei dieser Bundestagswahl DIE LINKE, 2009 waren es noch 17 Prozent. Damit schnitt die Partei in dieser Wählergruppe noch schlechter ab als die FDP: Für eine Partei, die sich lange als die einzig verbliebene Stimme der Lohnabhängigen verstand, ist das ein beispielloses Armutszeugnis. Es ist nicht nur höchste Zeit, sondern auch die letzte Gelegenheit, die sich der Linkspartei noch bietet, um sich auf ihre Kernaufgabe zu besinnen und wieder zur Stimme der unteren Hälfte der Gesellschaft – den verkannten, wahren Leistungsträgerinnen – zu werden.
Alexander Brentler ist Journalist und Übersetzer.