17. August 2021
Die Prioritäten beim Rückzug aus Kabul machen offensichtlich, was jeder ahnen konnte: Bei der Militärintervention ging es nie um die Rechte der Menschen in Afghanistan. Der Westen hat seine Verbündeten verraten.
Menschen versammeln sich am 16. August 2021 am Flughafen von Kabul
Verzweifelte Menschen klammern sich an Flugzeuge und Hubschrauber, werden in die Luft gerissen und fallen in den Tod: Die Geschehnisse am Flughafen von Kabul sind selbsterklärend, die Schande des Westens offensichtlich. Lokale Verbündete sind den westlichen Regierungen und Militärs in diesem Moment vollkommen egal – es gilt auch heute, was die letzten Jahrzehnte immer galt: Menschliches Leben in Afghanistan ist für sie wertlos und entbehrlich.
Wer unter diesen Umständen versucht, aus dem Land zu fliehen, tut dies nicht aus Kalkül und nicht aus vielschichtigen Motiven: Die Ortskräfte, die es jetzt nicht aus dem Land schaffen, erwarten Folter und Tod, weil ihre Assoziation mit den westlichen Besatzern entweder allgemein bekannt ist oder schnell auffliegen wird. Auch jene Menschen, die nicht aktiv mit dem Westen kooperiert, sondern sich lediglich offen dem Islamismus entgegengestellt haben, etwa Feministinnen, müssen um ihr Leben fürchten. Es gibt für sie kein Versteck und keine Anonymität.
Wenn diesen politisch Verfolgten in Deutschland und Europa kein Recht auf Asyl gewährt wird, kann man sich das Feigenblatt des Asylrechts auch ganz sparen. Der Krieg in Afghanistan war von Anfang an ein Fehler, eine Intervention des Westens hätte niemals stattfinden dürfen. Doch ob der Krieg nun richtig oder falsch war, die moralische Schuld des Westens gegenüber seinen lokalen Verbündeten besteht: Sie nun im Stich zu lassen, während Asylverfahren verschleppt, verhindert oder offen abgelehnt werden, ist jenseits jeder politischen Bewertung der Intervention menschlich widerwärtig und verbrecherisch.
Den westlichen Regierungen waren diese Menschen schon immer egal. Sie waren lediglich Mittel zu einem Zweck, der aber selbst zu keinem Zeitpunkt klar definiert wurde. Zu Anfang ging es den USA vorgeblich darum, Al-Qaida auszulöschen und die Anschläge vom 11. September zu rächen. Doch Afghanistan war stets mehr als nur ein Schlachtfeld im sogenannten Krieg gegen den Terror: ein potentielles Transitland für Ölleitungen, ein wichtiger Opiumproduzent, eine Lagerstätte für seltene Erden und andere Rohstoffe und ein Nachbarland sowohl des Hauptrivalen China als auch des Erzfeinds Iran. Die strategischen Interessen des Westens in Afghanistan wandelten sich ständig, das Wohl der Menschen im Land zählte aber nie dazu.
Einige naive Glaubenssätze des liberalen Interventionismus wurden eine Zeit lang auch von den weniger kaltblütigen Mitgliedern des Establishments in Washington hochgehalten. Es war aber vorgezeichnet, dass solche Bemühungen schnell mit anderen strategischen Zielen in Konflikt geraten und an der Lebensrealität in Land scheitern würden. Afghanistan im Jahr 2002 war keine Gesellschaft, in der man mit viel Geld und guten Worten eine Demokratie hätte aufbauen können. In einer post-revolutionären Situation wie in Rojava kann dies unter Umständen gelingen, nicht aber Jahre nachdem der sowjetisch unterstützte afghanische Zentralstaat mit Unterstützung des Westens zerschlagen wurde.
Über die Zeit der langen Besatzung kam man in Washington zu dem Schluss, dass eine Militärpräsenz in Afghanistan nicht mehr notwendig sei. Luftschläge gegen Terrorgruppen, die in den Verdacht geraten, der westlichen Welt gefährlich zu werden, lassen sich heute per Drohne und Fernüberwachung aus tausenden Kilometern Distanz durchführen. Davon abgesehen sei es die Sache einfach nicht mehr wert: Öl und seltene Erden findet man anderswo billiger.
Niemand weiß, was ohne die Destabilisierungskampagne der USA in den 1980er Jahren aus Afghanistan geworden wäre. Doch der Westen entschied sich zur Einmischung und trägt nun die Verantwortung für die vielen Opfer der Terrorgruppen, die das Land seither beherrschen. Und er trägt sie auch noch in Zukunft, nachdem er sich nun unter so schändlichen Umständen aus dem Staub gemacht hat und das Land wieder der Herrschaft reaktionärer Islamisten überlässt.
In der Praxis war die Doktrin der humanitären Intervention von jeher ohne jede Substanz: Die Drohnenmorde, Bombenangriffe und Entführungen im Kampf gegen vermeintliche und echte Terroristen zermürbten die afghanische Bevölkerung, bis es vielen Menschen irgendwann gleich war, ob sie nun unter der Willkür des Westens oder der Taliban lebten. Entsprechend wenig Widerstand erfuhren diese bei der Rückeroberung des Landes. Dass es bei der Militärintervention nie um das Wohl der Menschen ging, hat Joe Biden nun ganz offiziell in seiner Rede zum Abzug bestätigt, und auch Angela Merkel hat es auf ihre Art durchblicken lassen. Diese Aussagen müssen wir uns ins Gedächtnis rufen, wenn das nächste Mal eine »humanitäre« Intervention in Wort und Tat vorbereitet wird.
Die einzige Hoffnung für Afghanistan selbst besteht jetzt darin, dass die Menschen dort der Taliban irgendwann so überdrüssig werden, dass sie sich revolutionär gegen sie erheben. Aber das ist eine reine Wunschvorstellung – es gibt keinerlei Anzeichen dafür, dass dies in noch so ferner Zukunft passieren könnte. Wahrscheinlicher wird dieses Wunder nur durch Internationalismus und Solidarität, nicht durch die Präsenz westlicher Truppen.
Doch es gibt noch eine weitere Möglichkeit, wie wir den Menschen in Afghanistan jetzt noch helfen können: indem wir jenen, die im Zweifel lieber außerhalb des Landes als unter den Taliban leben möchten, einen Zufluchtsort und angesichts der zu erwartenden jahrzehntelangen Herrschaft der Islamisten vor allem eine langfristige Bleibeperspektive bieten. Dies ist zugleich auch die entscheidende Variable für eine erfolgreiche Integration in die Aufnahmegesellschaft.
Wir sollten nicht der Versuchung des liberalen Interventionismus erliegen und die eine moralisch korrekte Antwort auf alle Probleme Afghanistans suchen. Eine solche Lösung gibt es nicht. Afghanistan war nicht von vornherein dazu verdammt, von islamistischen Terrorgruppen regiert zu werden. Die Politik des Westens hat nun aber zu einer Situation geführt, in der es außer unserer Macht steht, dies zu verhindern. Doch den fliehenden Menschen können wir helfen und für Afghanistan endlich das offensichtlich Richtige tun und dabei das offensichtlich Falsche lassen. Es wäre ein bescheidener Anfang.
Alexander Brentler ist Journalist und Übersetzer.