25. November 2024
Sofia Orr hat in Israel den Kriegsdienst verweigert. Dafür wurde sie diffamiert, bedroht und verhaftet. Warum sie trotzdem nie an ihrer Entscheidung gezweifelt hat und was sie von der deutschen Regierung fordert, erzählt sie im Gespräch mit JACOBIN.
Sofia Orr war die zweite Person, die seit dem 7. Oktober 2024 den Kriegsdienst verweigert hat.
Seit dem Beginn des Krieges zwischen Israel und Palästina und nun auch dem Libanon befindet sich die israelische Gesellschaft in einem nationalistischen Taumel. Das Massaker am 7. Oktober verstärkte die bereits vorherrschenden rechtsradikalen Strömungen in der Gesellschaft und band auch Kritikerinnen und Kritiker Netanjahus in die patriotische Gemeinschaft der Angegriffenen ein. Bis heute steht eine überwiegende Mehrheit der Gesellschaft hinter der Kriegsführung, auch nachdem der Internationale Gerichtshof den Vorwurf des Genozids formell erhoben hat.
Doch einige wenige stehen dem entgegen. Seit Kriegsanfang haben elf junge Israelis offen den Kriegsdienst verweigert. Sie wollen nicht Teil der Maschinerie dieses Konflikts werden und rufen ihre Landsleute dazu auf, die Kriegspropaganda ihrer Regierung zu hinterfragen. Die jungen Friedensaktivisten, die sich im Netzwerk »Mesarvot« organisieren, werden regelmäßig bedroht, diffamiert und monatelang im Militärgefängnis gefangen gehalten.
Eine von diesen mutigen jungen Menschen ist Sofia Orr, die kürzlich für eine Veranstaltung der Organisation Israelis für Frieden in Berlin war. Sie sprach mit Patrick Lempges für JACOBIN über die Kriegslust in ihrer Heimat, Wege zum Frieden in der Region und warum sie ihre Entscheidung, den Kriegsdienst zu verweigern, nie bereuen wird.
Kannst Du uns zunächst ein wenig über Dich erzählen?
Mein Name ist Sofia Orr. Ich bin 19 Jahre alt und eine israelische Kriegsdienstverweigerin aus Gewissensgründen. Am 25. Februar 2024 verweigerte ich die Einberufung in die IDF und verbrachte anschließend 85 Tage im Militärgefängnis.
Ich habe die Entscheidung zur Verweigerung getroffen, als ich etwa 15 Jahre alt war, denn schon damals sah ich, dass die andauernde Besatzung und die Apartheid Grund genug für eine Verweigerung waren und auch immer noch sind. Seit dem Krieg und dem Beginn des Massakers in Gaza, wurde es für mich noch wichtiger. Es ist notwendig, unsere Stimme gegen den Krieg zu erheben, das Bewusstsein dafür zu schärfen und die palästinensische Perspektive auch in Israel ins Gespräch zu bringen.
Ich habe beschlossen, meine Verweigerung öffentlich zu machen, Interviews zu geben und mich in den sozialen Medien zu äußern, um zu erklären, warum ich den Kriegsdienst verweigert habe und warum ich mich für eine friedliche und gerechte Lösung für alle Menschen zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer einsetze. Deshalb bin ich auch Teil von Mesarvot, einem feministischen Netzwerk von Verweigerinnen und Verweigerern aus Gewissensgründen, das sich für ein Ende der Besatzung einsetzt.
Wir versuchen zwar, Israel von innen heraus zu verändern, aber ich weiß nicht, ob das in einer Gesellschaft möglich ist, die so militaristisch und rassistisch ist. Deshalb ist es mir wichtig, ein internationales Publikum zu erreichen und die Menschen aufzufordern, Druck auf ihre Regierungen auszuüben, damit diese ihre bedingungslose diplomatische, finanzielle und militärische Unterstützung Israels einstellen und selbst Druck auf Israel ausüben, damit sich diese schreckliche Katastrophe nicht weiter vollzieht.
Gab es ein bestimmtes Ereignis, das Deine Entscheidung beeinflusst hat?
Ich hatte das Glück, dass ich in einer nicht-zionistischen, linksgerichteten Familie aufgewachsen bin, die mir Werte wie kritisches Denken, Empathie und Gleichberechtigung vermittelte. Das hat eine große Rolle gespielt.
Aber im Allgemeinen ist die Verweigerung des Kriegsdienstes nicht das Ergebnis eines einzelnen Moments, sondern eines Prozesses. Ein Ereignis, an das ich mich sehr lebhaft erinnere, ist die Teilnahme an den Gedenkfeiern für die Opfer des Holocaust und die gefallenen israelischen Soldaten und ihre sehr militaristischen und einseitigen Darstellungen. Irgendwann ergab das für mich einfach keinen Sinn mehr. Warum muss man noch mehr Menschen umbringen, um gefallene Soldaten oder Menschen, die im Holocaust gestorben sind, zu ehren? Und warum sollten wir Soldaten verherrlichen, die in diesem Kreislauf des Blutvergießens gestorben sind?
»Ich denke, dass die Wehrdienstverweigerung der beste Weg ist, um zu versuchen, diesen Ort für die Menschen um mich herum sicherer zu machen. Meinen Körper in einen Kreislauf des Blutvergießens zu werfen, wird uns niemals sicherer machen.«
Ein weiteres wichtiges Ereignis war, ins Westjordanland zu fahren und dort Palästinenserinnen und Palästinenser zu treffen. Plötzlich hat alles einen Sinn ergeben. Persönliche Kontakte zu knüpfen, ist ein wirklich wichtiger Schritt im Kampf gegen die Entmenschlichung der palästinensischen Bevölkerung in der israelischen Gesellschaft, und ich denke, genau das muss unser Weg sein.
Ich hätte nie gedacht, dass ich zum Militärdienst antreten würde, aber es ist eine Sache zu sagen »Ich lasse mich nicht zum Kriegsdienst verpflichten«, und eine ganz andere zu sagen »Ich verweigere mich!«, und dann tatsächlich ins Militärgefängnis zu gehen und all das öffentlich zu machen. Das meine ich damit, wenn ich sage, dass die Kriegsdienstverweigerung ein Prozess ist: vom Verstehen der Situation über »Ich kann da nicht mitmachen« bis hin zu »Ich muss dagegen aufstehen«.
Wie haben Deine Familie, Freundinnen und Freunde und dein Umfeld auf Deine Entscheidung reagiert?
Ich habe das Glück, eine sehr solidarische Familie zu haben, und meine Freunde haben mich größtenteils auch unterstützt, aber die israelische Gesellschaft sieht meine Entscheidung als äußerst inakzeptabel und verwirrend an. Jedes Mal, wenn ich Inhalte auf Hebräisch veröffentliche, bekomme ich viele Kommentare, in denen ich als Verräterin und selbsthassende Jüdin bezeichnet werde, dass man mich töten oder vergewaltigen oder nach Gaza schicken und bombardieren sollte. In meinem näheren Umfeld sind die beiden häufigsten negativen Reaktionen, dass ich naiv oder undankbar sei. Schließlich kämpfen meine Freundinnen, Freunde und mein Land, um mich zu beschützen, und dazu sollte ich auch meinen Teil beitragen. Ich denke, das ist falsch. Ich denke, dass die Wehrdienstverweigerung der beste Weg ist, um zu versuchen, diesen Ort für die Menschen um mich herum besser und sicherer zu machen. Meinen Körper in einen Kreislauf des Blutvergießens zu werfen, wird uns niemals sicherer machen. Es ist extrem unmoralisch und extrem unproduktiv.
Sie nennen mich naiv, weil ich glaube, dass man mit den Palästinenserinnen und Palästinensern – dem Feind – reden könne. Sie sagen, dass der Konflikt niemals auf diplomatischem Weg gelöst werden wird. Meiner Meinung nach ist genau das Gegenteil der Fall: Wir haben 75 Jahre lang versucht, den Konflikt mit Gewalt zu lösen. Es gibt keine militärische Lösung für ein politisches Problem.
Die gewaltsame Haltung, die in der israelischen Gesellschaft vorherrscht, existiert auch in der palästinensischen Gesellschaft und wird durch die Gewalt, die vor Ort stattfindet, angetrieben. Die Unterstützung für die Hamas oder den bewaffneten Widerstand im Allgemeinen wächst nur aufgrund der extremen Gewalt und der schrecklichen Lebensbedingungen, mit denen die palästinensische Bevölkerung konfrontiert sind. Die israelische Armee lehrt sie, dass die einzige Sprache, die sie sprechen, Gewalt ist. Wir müssen den Tonfall und das ganze Narrativ ändern, um den Palästinenserinnen und Palästinensern eine Alternative zu bieten. Dies kann nur durch Diplomatie geschehen.
Wie hat die Entscheidung, sich zu verweigern, Deine Identität und Dein Selbstverständnis geprägt? Hast Du jemals an Deiner Entscheidung gezweifelt?
Es gab Momente, in denen ich daran gezweifelt habe, ob ich es tatsächlich tun könne und ob ich es gut mache. Ich hatte aber keine Zweifel daran, ob das, was ich tue, richtig ist. Je mehr Zeit verging, desto sicherer wurde ich. In zehn, zwanzig oder fünfzig Jahren werde ich vielleicht einmal alles andere bereuen, was ich in meinem Leben getan habe, aber die Kriegsdienstverweigerung werde ich nie bereuen.
Ich glaube jedoch nicht, dass es meine Identität geprägt hat, denn die Weigerung, in der IDF zu dienen, war lediglich die Konsequenz meiner bereits vorhandenen Überzeugungen. Ich habe das Gefühl, dass meine Entscheidung eine Herzensangelegenheit ist, und ich bin stolz und glücklich, dass ich sie getroffen habe.
Was bedeutet es, den Wehrdienst in Israel zu verweigern, sowohl politisch als auch gesellschaftlich?
An meinem Einberufungstermin, dem 25. Februar 2024, bin ich zum Einberufungszentrum gegangen und habe gesagt, dass ich die Einberufung verweigere. Die waren dann erst einmal sehr verwirrt, weil das sehr selten vorkommt, und sie haben kein Protokoll für den Umgang mit Verweigerung. Also wird man einfach von einem Offizier zum anderen geschickt, bis man zu jemandem kommt, der hoch genug im Rang ist, um einen in eine Arrestzelle zu stecken. Dort wartet man ein paar Stunden, manchmal sogar einen Tag, und dann kommt es zur Verhandlung und man wird zu einer beliebigen Anzahl von Tagen im Militärgefängnis verurteilt.
Bei meinem ersten Prozess wurde ich zu zwanzig Tagen verurteilt. Als ich aus dem Gefängnis entlassen wurde, erhielt ich einen Einberufungsbescheid, in dem es hieß: »Sie haben Ihre Strafe abgesessen, in 24 Stunden müssen Sie sich melden.« Ich weigerte mich erneut, und der Kreislauf ging weiter. Sie können das ewig machen, das ist Teil ihrer Einschüchterung.
»Israel ist nicht ein Land mit einem Militär, sondern ein Militär mit einem Land.«
Sie wollen nicht, dass wir vorher wissen, wie lange wir im Gefängnis bleiben werden, weil es so beängstigender ist, und sie wollen die Leute davon abhalten, sich zu weigern. Sie wollen, dass wir still sind. Das merkt man auch im Gefängnis. Wenn wir über Politik sprechen, werden wir angeschrien und bekommen Strafen angedroht. In der Armee gibt es die Regel, dass man nicht über Politik sprechen darf, aber sie wird nur bei Verweigerinnen und Verweigerern durchgesetzt. Das Ganze geht so lange, bis man entweder einknickt oder man eine Ausnahmegenehmigung erhält, was bei mir nach 85 Tagen der Fall war. Ich war die zweite Kriegsdienstverweigerin seit Kriegsbeginn. Der erste Verweigerer, Tal Mitnick, verbrachte 185 Tage im Gefängnis.
Der größte Teil des Preises, den man zahlt, ist jedoch sozialer Natur. Die meisten Menschen widersprechen nicht, weil sie Angst haben, ihre Freundinnen, Freunde und Familie zu verlieren. Deshalb versuchen wir vom Mesarvot-Netzwerk so etwas wie ein soziales Rückgrat für Menschen zu sein, die aus Gewissensgründen verweigern. Man kann auch nach einer Verweigerung noch an der Universität angenommen werden und einen Job bekommen, aber ich kenne viele Leute, die Angst haben, dass ihr Chef von ihren politischen Überzeugungen erfährt und sie dann wahrscheinlich feuern würde.
Am meisten zum Schweigen gebracht werden jedoch Palästinenserinnen und Palästinenser mit israelischer Staatsbürgerschaft. Sie werden bereits ins Gefängnis gesteckt, wenn sie auf Instagram einen Beitrag veröffentlichen, der den Behörden nicht gefällt.
Wie verliefen Dein Gerichtsverfahren und Deine Inhaftierung?
Die Verhandlung dauerte fünf Minuten, sie war sehr kurz. Beim zweiten Mal dauerte es etwa 30 Sekunden, bis sie mich ins Gefängnis schickten. Der Richter hat mich nur gefragt: »Hat sich etwas geändert? Glauben Sie immer noch an das, was Sie glauben?« Und als ich mit »Ja« geantwortet hatte, schickte er mich zurück ins Gefängnis. Das ist ein typisches Kriegsgericht, kein ziviler Gerichtssaal.
Meine Zeit im Gefängnis war natürlich kein schönes Erlebnis, aber sie hat mir einen besseren Einblick in die Arbeitsweise des Militärs verschafft. Ich habe die Entmenschlichung aus nächster Nähe erlebt. Sie setzen Zwang und Gewalt ein, um jedes Problem zu lösen. Das ist kein Zufall: Es ist konzipiert, dass es so läuft.
Die meisten Gefangenen sind Deserteure oder Menschen, die versuchen, den Kriegsdienst zu umgehen. Sie kommen entweder aus armen Verhältnissen und wollen nicht ins Militär, weil der Militärdienst nicht hoch genug vergütet wird und sie arbeiten müssen, um ihre Familien zu unterstützen, oder sie haben medizinische oder psychische Probleme oder wurden auf der Militärbasis sexuell belästigt. Ich habe viele junge Frauen getroffen, die sich über sexuelle Belästigungen beschwert haben. Aber das hat keine Folgen. Vom Militär erhalten sie keine Unterstützung, stattdessen werden sie ins Gefängnis gesteckt.
Die meiste Zeit im Gefängnis habe ich versucht, den Gefangenen zu zeigen, wie die Armee sie entmenschlicht und wie das mit der Entmenschlichung der Palästinenserinnen und Palästinenser zusammenhängt. Das hat keinen Spaß gemacht, aber es war in vielerlei Hinsicht sinnvoll, und ich werde es nie bereuen. Nur so kann ich mit einem reinen Gewissen leben.
Kannst Du die Rolle des Militärs in der israelischen Gesellschaft beschreiben?
Israel war schon immer eine sehr militarisierte Gesellschaft. Wir sagen häufig, dass Israel nicht ein Land mit einem Militär, sondern ein Militär mit einem Land ist. Als Israeli wächst man schon als Kind damit auf, die Propaganda sickert in dich hinein. Mit fünfzehn Jahren besucht man fünf Tage lang einen Militärstützpunkt und lernt, wie man mit einem Gewehr schießt und wie toll das alles ist. Soldaten kommen in deine Schule und erzählen dir von ihrer Rolle in der Armee. Je kämpferischer die Rolle ist, desto mehr Ansehen genießt sie in der Gesellschaft. Das ist auch eine der ersten Fragen, die einem beim Smalltalk gestellt werden: »Was war deine Rolle in der Armee? Was wirst du in der Armee machen?«
Israelis sind von einem sehr einseitigen Narrativ besessen, das besagt, dass wir immer Opfer und nichts als Opfer sein werden, weshalb wir die größte und stärkste Armee der Welt brauchen, um uns zu schützen. Das Soldatentum und die Ehre des Kämpfens sind in diesem Land sehr verherrlicht worden. Ich denke, dass Israel schon immer so war, aber es ändert sich jetzt, es wird schlimmer und wir bewegen uns auf eine offen faschistische, militaristische Gesellschaft zu. Die Straßen sind voll mit Bildern von Soldaten und Slogans wie »Gemeinsam werden wir siegen« oder »Sie werden uns den Sieg bringen«.
Hat die verstärkte Präsenz religiöser Zionisten in der IDF die Stimmung in der Armee im Allgemeinen beeinflusst?
Der Rechtsruck in Israel betrifft alle Bereiche der Gesellschaft, nicht nur die Armee. Eine der größten Veränderungen ist die Art und Weise, wie offen die jetzt über ihre Pläne sprechen. Früher war das eher verdeckt, so nach dem Motto: »Wir begehen Kriegsverbrechen und tun schreckliche Dinge, aber wir wollen es nicht der ganzen Welt oder gar dem ganzen Land mitteilen.« Jetzt wird es mehr und mehr zum Mainstream und weniger apologetisch. Sie sagen ganz offen, dass wir mehr Palästinenserinnen und Palästinenser töten müssen, dass wir Gaza annektieren müssen, dass wir eine stärkere jüdische Vorherrschaft brauchen.
»Wenn Deutschland wirklich will, dass Jüdinnen und Juden in Frieden und Sicherheit leben, dann muss Deutschland einen gerechten, diplomatischen Weg unterstützen.«
Natürlich denkt nicht jeder in Israel so, aber wenn man sich anschaut, wie die Armee die Leute rechter macht und wie Ben-Gvir seine eigenen bewaffneten Siedlereinheiten aufstellt und loyale Polizeibeamte ernennt, ist das Abdriften in Richtung Militarismus und sogar echten Faschismus offensichtlich. Der Weg, diese Entwicklung zu bekämpfen, besteht darin, im Alltag der Menschen vor Ort echte Veränderungen herbeizuführen, um ihnen zu zeigen, dass eine andere Realität möglich ist. Hierfür brauchen wir internationalen Druck
Du bist derzeit auf einer Vortragsreise durch Deutschland, um auf Mesarvot aufmerksam zu machen und Unterstützung für den Widerstand gegen den Krieg in Gaza zu gewinnen. Wie empfindest Du die deutsche Unterstützung für Israel?
Generell halte ich jede Unterstützung Israels und dessen Handeln für unmoralisch und unproduktiv. Sie führt uns in die falsche Richtung und lässt die Situation nur weiter eskalieren. Aber gerade die deutsche Unterstützung ist offensichtlich von Schuldgefühlen wegen des Holocausts getrieben, der auch in der israelischen Gesellschaft politisch benutzt wird. »Seht, was es uns gekostet hat, hierher zu kommen! Wir müssen dafür sorgen, dass so etwas nie wieder passiert.«
In der israelischen Gesellschaft bedeutet das: »Sorgt dafür, dass es nie wieder jüdischen Menschen passiert.« Ich glaube nicht, dass das die richtige Lehre aus dem Holocaust ist. Die einzige Möglichkeit, sich mit dem Holocaust auf wirklich respektvolle und produktive Weise auseinanderzusetzen, besteht darin, dafür zu sorgen, dass so etwas niemandem wieder angetan wird – egal wem. Deshalb möchte ich die deutsche Gesellschaft und die Politiker auffordern, die israelische Regierung nicht länger zu unterstützen und den Holocaust nicht länger als eine Art Rechtfertigung für das zu benutzen, was heute geschieht. Ein Verbrechen rechtfertigt nicht das andere.
Die deutsche Unterstützung schadet offensichtlich primär den Palästinenserinnen und Palästinensern, aber sie schadet langfristig auch Israel. Wenn Deutschland wirklich will, dass Jüdinnen und Juden in Frieden und Sicherheit leben, dann muss Deutschland einen gerechten, diplomatischen Weg unterstützen und nicht diesen Kreislauf des Blutvergießens. Im Krieg verlieren wir alle. Im Frieden gewinnen wir alle. Und die Unterstützung dieses Krieges steht dem Frieden entgegen.
Welche Lehren hast Du aus Deiner Erfahrung als Kriegsdienstverweigerer gezogen, und was würdest Du anderen mit auf den Weg geben wollen?
Ich muss sagen, dass es in Israel nicht legal ist, zur Verweigerung aufzurufen, aber ich würde dazu ermutigen, Fragen zu stellen. Ich habe gelernt, besser zuzuhören und zu kommunizieren. Es ist wichtig zu wissen, zu wem man spricht, um eine Botschaft zu übermitteln, die auch verdaut werden kann. Das hängt auch mit der Verwendung des Wortes »Völkermord« zusammen. Worte haben eine Bedeutung, und per Definition ist Völkermord der richtige Begriff, um das Geschehen in Gaza zu beschreiben. Aber wenn man in manchen Gesprächen die Worte »Völkermord« oder »Apartheid« verwendet, hören manche Leute einfach nicht mehr zu. Ich verwende diese Worte also nicht immer, aber nicht, weil ich sie nicht für zutreffend halte, sondern weil ich alle möglichen Leute erreichen möchte und versuchen will, ihre Meinung zu ändern.
Das Gleiche gilt für den Vorwurf des Antisemitismus: Er ist eine sehr nützliche Taktik, um Kritik zu unterdrücken. In Israel wird jede Art von Kritik als Antisemitismus angeprangert – insbesondere natürlich palästinensische Kritik. Wie ich bereits sagte, bin ich selbst auch schon als selbsthassende Jüdin und sogar als Antisemitin bezeichnet worden. Wenn man die Leute erst einmal dazu gebracht hat, zu glauben, dass wir für das kritisiert werden, was wir sind, nämlich Jüdinnen und Juden, und nicht für das, was Israel tut, kann man die Kritik einfach ausblenden und sich um die Flagge scharen, nach dem Motto: »Alle hassen uns, wir haben nur uns selbst.«
Antisemitismus und Islamophobie sind weltweit auf dem Vormarsch, aber die überwiegende Mehrheit der Kritik an Israel ist nicht antisemitisch – es ist die Kritik, die ein Land nun mal erhält, wenn es Kriegsverbrechen begeht. Ich freue mich, dass Menschen auf der ganzen Welt ein Ende der Apartheid und einen Waffenstillstand fordern. Ich bin mir sicher, dass für einige Menschen die Kritik an Israel aus ihrem Antisemitismus resultiert, aber andererseits denke ich, dass viele Menschen, die Israel unterstützen, auch Antisemiten sind! Die Korrelation zwischen Antisemitismus und Israelkritik ist viel geringer, als oft behauptet wird.
Was ist mit den Menschen auf der anderen Seite des Spektrums, die die Hamas sozusagen als eine Art dekoloniale oder antiimperialistische Kraft sehen?
Ich denke, das ist sowohl falsch als auch unproduktiv. Es ist, als ob sich der Kreis geschlossen hätte und sie nun die Denkweise der israelischen Rechten teilen, nur mit einer anderen Rhetorik. Ich habe am 7. Oktober persönlich jemanden verloren, nichts kann rechtfertigen, was an diesem Tag geschah. Aber es geschah eben nicht in einem Vakuum. Zu verstehen, warum es passiert ist, ist der einzige Weg nach vorne.
Menschen, die unter ständiger Gewalt leben und jede Hoffnung verlieren, werden irgendwann selbst zu Gewalt greifen. Ich glaube jedoch nicht, dass gewaltsamer Widerstand produktiv sein wird. Israelische Zivilisten zu töten oder die Jüdinnen und Juden aufzufordern, nach Europa zurückzukehren, ist unmoralisch und unproduktiv, und es ist verrückt zu glauben, dass es funktionieren würde. Es ist einfach unmöglich. Ähnlich spricht auch die israelische Rechte über die Palästinenserinnen und Palästinenser: Die einen sagen, es gäbe keine unschuldigen Palästinenser, die anderen sagen, es gäbe keine unschuldigen Israelis.
Auch hier müssen wir also verstehen, wie die palästinensische Bevölkerung lebt und welche Rolle Israel bei der Schaffung dieser Bedingungen spielt. Es ist ein Kreislauf des Blutvergießens und der Gewalt, in dem die israelische Gewalt die treibende Kraft ist. Die einzige Möglichkeit, die Unterstützung für den gewaltsamen Widerstand zu schwächen, besteht also darin, dass Israel diesen Kreislauf durchbricht. Israel hat sowohl die Verantwortung als auch die Macht, dies zu tun.
Ich fordere jeden auf, sich die Situation genau anzusehen und zu versuchen, sich einen Weg nach vorn vorzustellen. Fragt Euch, ob Massentötungen wirklich eine Lösung sind. Lasst Euch nicht von Rachegefühlen leiten. Man kann das Paradies nicht mit Blut erkaufen.
Sofia Orr ist israelische Kriegsdienstverweigerin und Aktivistin bei Mesarvot, einem Netzwerk von Kriegsdienstverweigerern, die sich gegen die israelische Besatzung und den Krieg in Gaza einsetzen.