03. September 2024
Nach dem Attentat in Solingen hat die Ampel über Katar einen Abschiebe-Deal mit den Taliban geschlossen. Das wird die Gefahr nicht bändigen. Denn Islamismus ist kein Migrationsproblem.
Militärparade der Taliban, Kabul, 14. August 2024.
Der Anschlag in Solingen, bei dem ein syrischstämmiger Mann drei Menschen tötete, hat die Debatte in Deutschland um Migration, Flüchtlinge und Islamismus neu entfacht. CDU-Chef Friedrich Merz rief nach dem Anschlag die »nationale Notlage« aus. Für weite Teile der Politik, von Regierung bis Opposition, scheint die Schuldige schnell gefunden: die ungeregelte Migration. Issa A. reiste 2022 über die Balkanroute nach Deutschland ein und hätte eigentlich per Dublin-Verfahren nach Bulgarien abgeschoben werden sollen. Daraus wird nun geschlussfolgert, dass die Flüchtlinge uns den Islamismus ins Haus holen. Merz legt noch einen drauf und verlangt einen kompletten Aufnahmestopp von Menschen aus Syrien und Afghanistan.
Auch die Ampelregierung stimmt in den Chor ein. Finanzminister Christian Lindner fordert rigorose Kürzungen für Asylsuchende, und Bundesinnenministerin Nancy Faeser kündigt die ersten Abschiebungen nach Afghanistan seit der Machtübernahme der Taliban an. Bereits im ersten Halbjahr hat die Bundesregierung 9.465 Abschiebungen vollzogen. Das Kabinett Scholz hält sein Versprechen im »großen Stil abzuschieben«. Wird uns das vor weiteren Anschlägen und islamistischer Radikalisierung schützen? Wohl kaum. Keine dieser Maßnahmen stoppt islamistische Radikalisierung. Islamismus ist sowohl ein globales als auch ein heimisches Problem. Es ist aber kein Migrationsproblem.
Die Mehrheit der in Deutschland aktiven, als gefährlich eingestuften Islamistinnen und Islamisten haben einen deutschen Pass. Das geht aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der AfD-Fraktion aus dem Mai dieses Jahres hervor. Islamismus ist also kein »Import« und er verschwindet auch nicht, indem man versucht, ihn in ein anderes Land abzuschieben – wohin soll man auch Leute wie Pierre Vogel abschieben? Der Fokus muss auf den Ursachen der Radikalisierung liegen. Man wird nicht allein durch eine andere kulturelle Prägung zum Gewalttäter. Die Ursachen islamistischer Radikalisierung sind vor allem psychosozialer Natur.
Der britische Sozialwissenschaftler Tahir Abbas sieht in einem Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Identität einen zentralen Katalysator der Radikalisierung. Dieses Bedürfnis wird durch ein Gefühl der sozialen Ausgrenzung ausgelöst, beispielsweise infolge rassistischer Erfahrungen. Diese Menschen empfinden ein Gefühl der Sinnlosigkeit, das durch äußere Einflüsse wie wirtschaftliche Probleme verstärkt werden kann. Viele fühlen sich machtlos, was sie wiederum mit Gewalt kompensieren.
Den Sozialpädagoginnen und Extremismusforscherinnen Winnie Plha und Rebecca Friedmann zufolge »helfen« reaktionäre Gruppierungen bei der Bewältigung innerer Konflikte. Die Ideologie liefert simple Antworten auf die unverständliche Umwelt und steigert das eigene Selbstwertgefühl. Wirklich überwunden werden diese inneren Konflikte jedoch nicht. Die betroffene Person bleibt weiterhin von der Gruppe abhängig, um Halt und Stabilität zu finden.
Menschen, die von reaktionären Ideologien beeinflusst werden, leiden, so Plha und Friedmann, häufiger unter Frustration, Schuld- und Schamgefühlen. In Reaktion darauf, würden einige gewalttätig. Viele junge Islamistinnen und Islamisten zeigten bereits vor ihrer Radikalisierung antisoziale Merkmale. Die islamistische Ideologie biete für dieses Gewaltpotenzial eine Feindgruppe. Die Projektion der inneren Konflikte auf eine äußere Feindgruppe würde wiederum mit Anerkennung und Zugehörigkeit »belohnt«.
»Ehrliche Bedenken, ein islamistisches Regime indirekt über Verhandlungen zu legitimieren, gab es nie. Solange die Kataris in unserem Namen verhandeln, scheint es keine Vorbehalte mehr zu geben.«
Wichtig ist hierbei zu betonen, dass diese Aspekte nicht ausschließlich bei einer islamistischen Radikalisierung zu beobachten sind. Welche Ideologie man letztlich wählt, hängt in erster Linie vom »Angebot« und der persönlichen Biografie ab. Da islamistische Gruppierungen vor allem die Lebensrealität junger, migrantischer Muslime ansprechen, ist das ihre primäre Zielgruppe.
Spätestens seit 2015 wird auch ein potenzieller Zusammenhang zwischen sozialökonomischer Ungleichheit und islamistischer Radikalisierung diskutiert. Viele der europäischen Dschihadistinnen und Dschihadisten, die 2015 nach Syrien ausreisten, um sich dem sogenannten IS anzuschließen, stammen aus sozial und wirtschaftlich benachteiligten Milieus. Namentlich geht es um die Pariser Banlieues, den Brüsseler Stadtteil Molenbeek oder Dinslaken in Nordrhein-Westfalen. Kann soziale Ungleichheit Auslöser für die genannten inneren Konflikte sein? Der Politikwissenschaftler Heiner Vogel warnt vor voreiligen Schlüssen. Die Unzufriedenheit und Frustration junger Islamistinnen und Islamisten basieren in der Regel eher auf einer subjektiven Wahrnehmung von Ungleichheit, so Vogel. Zwischen Werteerwartungen und Wertansprüchen klaffe eine Lücke. Sozioökonomische Benachteiligung könne diese Wahrnehmung durchaus verstärken.
Die Islamistische Indoktrinierung thematisiert soziale Ungleichheit hingegen nicht. Schließlich lenkt jeder Verweis auf den Klassenkampf und die Lebensrealitäten anderer migrantischer oder marginalisierter Gruppen den Fokus weg von der muslimischen Identität. Linke Politik könnte hier ansetzen. Alternative Erklärungsmodelle, eine klassenbezogene Identifikation und neue Gemeinschaften, die Halt bieten, können hier einen Unterschied machen. Kontraproduktiv sind hingegen Maßnahmen, die eine soziale Ausgrenzung und Isolierung bestimmter Gruppen weiter verstärken. Ein Beispiel hierfür sind etwa radikale Leistungskürzungen für Flüchtlinge nach einem »Bett-Brot-Seife-Prinzip«.
Issa A. hätte eigentlich per Dublin-Verfahren nach Bulgarien abgeschoben werden sollen. Die Entrüstung über die gescheiterte Abschiebung ist groß, hätte sie doch ein Attentat in Solingen verhindern können. Aber wie wäre es in Sofia oder irgendeiner anderen bulgarischen Stadt gewesen? Die Bereitschaft zu solch einer Bluttat hängt nicht vom Ort ab. Diese Empörung verdeutlicht jedoch die Devise hinter der Abschiebelogik: »Aus den Augen, aus dem Sinn«. Hauptsache nicht bei uns. Kurz nach dem Attentat in Solingen hat die Ampel-Regierung voller Stolz verkündet, wieder nach Afghanistan abzuschieben. Am vergangenen Freitag wurden 28 Menschen nach Afghanistan ausgeflogen. Es sind die ersten Abschiebungen in das Land seit der Machtergreifung der islamistischen Taliban vor drei Jahren.
»›Islamismus tötet‹, schrieb Baerbock nach dem Anschlag in Solingen auf Instagram. Aber es scheint letztlich davon abzuhängen, wen genau er tötet und wo. Solange es in Afghanistan, Syrien oder möglicherweise in Bulgarien passiert, ist das nicht unser Problem, so die Devise.«
Bis vor kurzem war das noch undenkbar. Die Bundesregierung wollte unter keinen Umständen mit den Taliban verhandeln. Dieses Tabu ist nun gefallen, wenn auch über Katar als Vermittler. In der Praxis läuft das zwar auf dasselbe Ergebnis hinaus, aber man kann sich einreden, das Gesicht gewahrt zu haben. Schließlich hat man nicht direkt mit ihnen geredet oder sich gar mit ihnen ablichten lassen. Und nur darum ging es letztlich.
Ehrliche Bedenken, ein islamistisches Regime indirekt über Verhandlungen zu legitimieren, gab es nie. Auch völkerrechtliche Bedenken hinsichtlich der Abschiebungen nach Afghanistan waren nie ein echtes Hindernis. Es ging vielmehr darum, dass es nicht in das PR-Konzept der »feministischen Außenpolitik« passte, an einem Tisch mit Talibanführern zu sitzen. Solange die Kataris in unserem Namen verhandeln, scheint es keine Vorbehalte mehr zu geben. Man ist sich nicht zu schade, »mit dem Teufel zu reden«, wie Friedrich Merz es formulierte. Und was für ein Teufel das ist.
Amnesty International hat die Abschiebungen nach Afghanistan scharf kritisiert. Die Menschenrechtsorganisation wirft der Bundesregierung vor, gegen ihre »völkerrechtlichen Verpflichtungen« zu verstoßen. Afghanistan und Syrien sind nach wie vor keine sicheren Herkunftsländer. Zum Taliban-Regime schreibt Amnesty, dass »außergerichtliche Hinrichtungen, Verschwindenlassen und Folter an der Tagesordnung« sind. In ein solches Terrorregime abzuschieben, ist auch eine Form der Legitimierung eben jenes Regimes. Erst vergangene Woche verhängte die Taliban ein neues »Tugend-Gesetz«, das Frauen untersagt, ihre Stimme in der Öffentlichkeit zu erheben. Dass Außenministerin Annalena Baerbock diese Gesetze erst letzte Woche lautstark verurteilte, wirkt heute zynisch.
»Islamismus tötet«, schrieb Baerbock nach dem Anschlag in Solingen auf Instagram. Aber es scheint letztlich davon abzuhängen, wen genau er tötet und wo. Solange es in Afghanistan, Syrien oder möglicherweise sogar in Bulgarien passiert, ist das nicht unser Problem, so die Devise. Doch der Islamismus ist sowohl ein globales als auch ein deutsches Problem. Nur Maßnahmen, die die Radikalisierung in Deutschland selbst vorbeugen, können nachhaltig helfen. Ein Generalverdacht gegen ganze Herkunftsgruppen und zwielichtige Deals mit islamistischen Regimen sind der falsche Weg.
Ilyas Ibn Karim ist Religions- und Kulturwissenschaftler mit muslimischem Hintergrund.