19. Juli 2023
Wie es gelingen kann, ein unmenschliches System zu überwinden, in das man Menschen integrieren soll.
»Die Soziale Arbeit ist eine Menschenrechtsprofession.«
Illustration: Zane ZlemešaIch bin Sozialarbeiterin. Ich bin Sozialarbeiterin aus Überzeugung, weil ich nicht wegschauen möchte, wenn es Menschen schlecht geht. Ich möchte nicht wegschauen, wenn Menschen ausgegrenzt werden. Es geht mir um Menschen und ihre Geschichten. Es geht mir um den Raum, den wir ihnen geben können. Es geht mir darum, ihnen zuzuhören und mit ihnen an den Ungerechtigkeiten in ihrem Leben zu arbeiten.
Ich muss aber auch erzählen, dass es zu wenige Sozialwohnungen gibt und in Deutschland eben doch Menschen auf der Straße leben müssen. Es ist meine Pflicht als Sozialarbeiterin, davon zu berichten, dass ich in meiner Zeit als Heimleiterin einer Notunterkunft selbst für die Menschen zur Tafel gefahren bin, weil einige kein Geld für die Fahrkarte hatten, um es selbst zu tun. Ich muss erzählen, dass ich Suizide in der Unterkunft erlebt habe, weil Menschen keine Perspektiven und Ziele mehr hatten. Ich muss erzählen, dass ich in der ambulanten Jugendhilfe gesehen habe, wie Kinder in Armut aufwachsen, und dass ausschließlich Toast und Nudeln auf dem Speiseplan standen.
Ich muss das alles tun, um aufzuzeigen, dass die von wechselnden Regierungen beschlossenen sozialpolitischen Maßnahmen in der Realität nicht ausreichen. Wenn ich es nicht tue, nur dabei zusehe und nur unterstützender Tätigkeit nachgehe, verrate ich die Idee der Sozialen Arbeit. Die Soziale Arbeit ist eine Menschenrechtsprofession. Sie kann nicht einfach nur dabei helfen, mit Missständen umzugehen, sondern muss die Missstände, die wir alltäglich erleben, auch laut und deutlich benennen, um von der nur unterstützenden in die politische Arbeit zu kommen. Nach all den Jahren in der Sozialen Arbeit sehe ich sehr deutlich: Die Ursachen sozialer Probleme liegen nicht bei Einzelpersonen und ihrer Verfassung, sondern in den politischen und ökonomischen Verhältnissen.
Aus Sicht des Profits ist Soziale Arbeit nötig, um die Arbeitsfähigkeit zu sichern. Hier geht es nicht um Geschichten, um Verständnis, um Sorgen – hier geht es um wirtschaftliche Interessen. Ich balanciere täglich zwischen Systemkritik und der Hilfe, die ich als Sozialarbeiterin anbiete. Ich verstehe die Menschen, die diesem System den Rücken gekehrt haben. Ich verstehe Menschen, die aufgegeben haben und am gesellschaftlichen Geschehen nicht mehr interessiert sind. Nach all den Rückschlägen, den Ausgrenzungen, den Hürden und der Verantwortung, die sie übernehmen müssen, für die Zustände, für die sie nichts können, verstehe ich das.
Im Alltag ist es kaum möglich, als Sozialarbeiterin angemessen zu handeln, wenn man ein soziales Problem erkennt, weil Sozialarbeiter lohnabhängig von öffentlichen oder privaten Trägern arbeiten und deren Aufträge erfüllen müssen. Auf der einen Seite stehen die Bedürfnisse der hilfesuchenden Menschen und auf der anderen Seite die Interessen der Auftraggeber, die möglichst schnell die Klientinnen und Bedürftigen versorgen und wieder »erfolgreich« in die Gesellschaft integrieren wollen. Das ist die Aufgabe der Träger, auch wenn das in der Realität oft bedeutet, den Ist-Zustand bloß zu verwalten.
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