28. März 2024
Die AfD hat ein Programm, das Reiche stark begünstigt, und wird doch von vielen Armen gewählt. Denn die Enttäuschung über die Politik ist bei ihnen am größten. Will die Demokratie bestehen, muss sie für soziale Gerechtigkeit sorgen.
Es gäbe einen Weg, die AfD zu schrumpfen.
Das AfD-Programm fordert: Sozialleistungen streichen, Mieterschutz abschaffen, Steuern für Reiche und Großkonzerne senken, Erbschaftsteuer und Solidaritätszuschlag abschaffen. Noch absurder ist, dass die AfD den Bauern die Hälfte ihres Einkommens wegnehmen will – durch Streichung der EU-Subventionen. Sie will Deutschland von der EU und vom Weltmarkt abschotten und würde damit Millionen von Arbeitsplätzen zerstören. Ausgerechnet den neuen Bundesländern, in denen sie stärker ist als im Westen, will die AfD die Einnahmen radikal kürzen, indem der Länderfinanzausgleich reduziert wird.
Es ist also mehr als verwunderlich, dass Menschen mit geringeren Einkommen und aus den neuen Bundesländern deutlich überproportional AfD wählen. Wer etwas daran ändern will, muss verstehen, was die Ursachen sind. Ist die Einwanderung der Hauptgrund? Tatsächlich neigen Menschen in kritischen Zeiten zu Revierverhalten – zur Ablehnung von Fremden.
Doch die Wahl rechtschauvinistischer Politikerinnen und Politiker und die Ausgrenzung von Minderheiten findet weltweit statt – auch in Indien und Argentinien, in Russland und Ungarn, in Polen und Italien. Nach rechts driften auch Staaten, in denen die Menschen eher wegziehen als einwandern. Immigration ist also nicht die Ursache, wohl aber eine Projektionsfläche für die Fremdenfeindlichkeit. Das bedeutet aber: Weniger Einwanderung löst das Problem nicht.
Viele Menschen glauben, dass es bergab geht. Sie wählen die AfD trotz ihrer Verfassungsfeindlichkeit, trotz ihrer Menschenverachtung, trotz ihres unsinnigen Programms. Der Grund – so scheint es – ist die Wut im Bauch. Wut auf die Intellektuellen, die Grünen, die Besserwisser, die Woken. Aber woher kommt diese Wut?
Tatsächlich stehen wir vor der größten Veränderung unserer Gesellschaft seit der Industrialisierung. Rund 250 Jahre war unser Leitbild das »Wachstum«, das Versprechen, dass es wenigstens den Kindern besser gehen werde. Und das stimmte ja auch. Ein Sozialhilfeempfänger hat heute mehr Komfort und Wärme in der Wohnung als der König von Frankreich zur Zeit der Französischen Revolution.
Doch so geht es nicht weiter. Der Planet ist endlich. Wir befinden uns im Übergang von einer Wachstums- zu einer Gleichgewichtsgesellschaft. Das muss nicht schlimm sein. Aber solche Übergänge sind mit erheblichen Verwerfungen verbunden: Weltfinanzkrise und Euro-Krise, Klimawandel, Corona-Krise und dann noch der Ukraine-Krieg. Kaum ein Mensch glaubt heute noch, dass es den Kindern besser gehen wird als uns. Die Wut im Bauch wächst. Das Vertrauen in die Demokratie nimmt ab.
»Die Gutverdiener sind zu zwei Dritteln mit der Demokratie zufrieden. Bei den Geringverdienern dagegen meinen zwei Drittel, dass die Demokratie nicht gut funktioniert.«
Laut Umfrage des NDR vom Oktober 2023 sind nur noch 54 Prozent der Bürgerinnen und Bürger damit zufrieden, wie in Deutschland die Demokratie funktioniert – in Mecklenburg-Vorpommern nur noch 32 Prozent. Schaut man genauer hin, dann hängt die Antwort vor allem von der sozialen Lage der Menschen ab. Denn die Gutverdiener sind zu zwei Dritteln mit der Demokratie zufrieden. Bei den Geringverdienern dagegen meinen zwei Drittel, dass die Demokratie nicht gut funktioniert. Das ist ein signifikanter Unterschied. Wohlhabende finden diese Demokratie gut, Arme zweifeln an ihr.
Der Soziologe Andreas Reckwitz analysiert, dass die Mittelstandsgesellschaft der Nachkriegszeit auseinandergebrochen ist. Eine neue Klassengesellschaft sei entstanden. Reckwitz identifiziert vier Klassen. Die neue Mittelklasse der akademisch Gebildeten, die mittlerweile 30 Prozent der Bevölkerung umfasst. Die alte Mittelklasse der beruflich Gebildeten – Facharbeiterinnen, Handwerker, Bauern und Angestellte. Sie haben die Bundesrepublik und auch die DDR nach dem Krieg aufgebaut. Drittens die prekäre Klasse, die aus Gelegenheitsarbeitern und aus Service-Personal besteht: Paketzusteller, Sicherheitsdienste, Reinigungskräfte. Und schließlich das eine Prozent, die Oberklasse, bestehend aus den Reichen und der neuen Nadelspitze obendrauf, der Liga der hyperreichen Milliardäre.
Entscheidend für die aktuellen Verwerfungen der Politik ist aber, dass die neue akademische Mittelklasse die Politik dominiert – auch in den früheren Arbeiterparteien wie der Linken und der SPD. Nicht nur im Parlament, auch in den Medien, den Verbänden und sogar in den Bürgerinitiativen dominieren die Akademikerinnen und Akademiker – übrigens auch in der AfD. In den Betrieben wird man ohne Hochschulabschluss kaum noch Gruppenleiter, während früher dem kompetenten Fachpersonal der Weg über den Meister, den Hallenmeister bis ins mittlere Management offenstand.
Der Philosoph Michael Sandel hat das Phänomen Trump damit erklärt, dass die Demokraten den Menschen weismachen wollten, dass mehr Bildung die Lösung der neuen sozialen Probleme sei. Obama fuhr von Hochschule zu Hochschule und predigte, dass jeder nur fleißig studieren muss und dann eine Chance hat. Im Ergebnis führte das aber in einen gnadenlosen Wettbewerb um die Qualifikationen.
Und die zwei Drittel, die keinen Hochschulabschluss haben, fühlen sich abgewertet und abgehängt. Das erklärt, warum die intellektuellenfeindlichen Ausfälle von Trump so gut ankommen. Warum viele Menschen den »Experten« im Fernsehen nicht mehr glauben. Warum ein Bauer neulich sagte, schlimmer als die Grünen seien die studierten Ökobauern. Warum Verschwörungstheorien geglaubt werden. Wer in Deutschland nicht aufs Gymnasium kommt, ist schon mit zehn Jahren ein Mensch zweiter Klasse.
Was folgt daraus? Menschen wollen und müssen ernst genommen werden. Arbeiterinnen, Bauern, Pflegekräfte und Erzieherinnen, Postboten und Reinigungskräfte sind tragende Säulen unserer Gesellschaft. Sie brauchen die materielle und ideelle Anerkennung, die sie verdienen. Sie müssen mehr gehört werden. Gerechtigkeit ist also, wie so oft, das Zentralthema.
Zur Gerechtigkeit gehört auch: raus aus dem permanenten Krisenmodus. Eine Regierung, die erfolgreich sein will, muss eine positive Vision malen. Die Politik, aber auch die NGOs, die Klimabewegung und schließlich die Medien sollten aufhören, Zukunftspessimismus zu verbreiten, und stattdessen Wege zu einem solidarischen Zusammenleben beschreiten. Wir können den Klimawandel stoppen, wir können die Ungleichheit abbauen.
Zugleich muss alles getan werden, um die Einwanderung gut zu managen. Die »Neuen« müssen so schnell wie möglich Deutsch lernen und Arbeit aufnehmen. Und wir brauchen ausreichend günstige Wohnungen – und zwar für alle. Aber die wichtigste Botschaft lautet: Auch ohne Wachstum von Bevölkerung und Ressourcenverbrauch können wir die Lebensqualität durch unseren Erfindungsreichtum weiter steigern.
Karl-Martin Hentschel ist Diplom-Mathematiker und Autor, Vorstand von Mehr Demokratie e.V. und Netzwerk Steuergerechtigkeit und Ex-Fraktionsvorsitzender der Grünen in Schleswig-Holstein. Zu seinen Veröffentlichungen zählen Steuer-Revolution (VSA-Verlag, 2024), das Handbuch Klimaschutz (Oekom Verlag, 2020) und Demokratie für morgen (UVK-Verlag, 2018).