02. Oktober 2023
In den letzten Jahren fanden in fast jeder Weltregion große Massenproteste statt. Doch soziale Revolutionen, wie wir sie im 20. Jahrhundert kannten, gibt es nirgends. Warum eigentlich?
Mehr als 1 Million Menschen versammelten sich in der Kairoer Innenstadt am 18. Februar 2011, um den Rücktritt des Präsidenten Hosni Mubarak zu feiern.
In der Weltpolitik des 21. Jahrhunderts gibt es einen merkwürdigen Widerspruch. Der Traum von einer sozialen Revolution scheint heute weiter von seiner Realisierung entfernt zu sein als jemals zuvor seit dem 18. Jahrhundert. Gleichzeitig gab es jedoch zahlreiche Massenaufstände gegen Regierungen. Selbst eine unvollständige Liste dieser Proteste ist beachtlich: Algerien, Brasilien, Chile, Ecuador, Ägypten, Frankreich, Hongkong, Irak, Kasachstan, Kirgistan, Libanon, Puerto Rico, Russland, Serbien, Südafrika, Sudan, Ukraine und viele mehr. Wenn die Geschichte der Welt der 2010er-Jahre geschrieben wird, werden Bewegungen wie der Arabische Frühling, Black Lives Matter und Occupy Wall Street darin mit Sicherheit genannt.
Jede dieser Protestbewegungen brachte große Menschenmassen auf die Straßen. Manchmal stürzten sie sogar eine Regierung oder trieben einen Diktator ins Exil. Doch ihre langfristige Bilanz ist allenfalls durchwachsen. Die erfolgreichsten Proteste hatten lediglich begrenzten Erfolg, Demokratie oder Gleichheit durchzusetzen, während die am wenigsten erfolgreichen Proteste sich brutalen Konterrevolutionen geschlagen geben mussten.
Mark Beissingers jüngstes Buch The Revolutionary City: Urbanization and the Global Transformation Rebellion hilft uns beim Verständnis dessen, was er als »urbane Bürgerrevolutionen« bezeichnet, und warum diese Revolutionen nahezu alle wieder so schnell von der internationalen Bildfläche verschwinden, wie sie entstehen.
Beissinger sprach mit JACOBIN-Redakteur Chris Maisano über sein Buch sowie die Frage, warum soziale Revolutionen, wie wir sie einst kannten, nicht mehr auftreten – und wie zukünftige Revolutionen aussehen könnten.
Was ist eine Revolution?
Ich verwende eine recht simple Definition. Sie stützt sich darauf, wie der Begriff heute in der Literatur über soziale Bewegungen und in Studien über Revolutionen verwendet wird: Eine Revolution ist eine Massenblockade eines amtierenden Regimes durch die eigene Bevölkerung mit dem Ziel, einen Regimewechsel herbeizuführen und in der Folge substanzielle politische oder soziale Veränderungen zu bewirken. Leo Trotzki drückte es so aus: Bei einer Revolution ist das Ziel, dass die Bürgerinnen und Bürger durch eine Massenmobilisierung von unten die Kontrolle über ein Regierungssystem zurückerobern.
»Wenn wir von Revolutionen in der Neuzeit sprechen, dann geht es einerseits um das Handeln einer sehr großen Anzahl von Menschen und andererseits um den modernen Nationalstaat mit seinen territorialen Grenzen und Ansprüchen, seinen wirtschaftlichen Zielen und der politischen Massenorganisation.«
Revolutionen sind ein sich stets veränderndes und entwickelndes Phänomen seit dem 17. und 18. Jahrhundert, als die ersten modernen Revolutionen entstanden. Es ist umstritten, ob es bereits in der Antike Revolutionen gab. Wenn es sie gab, dann waren sie von einer gänzlich anderen Art und kamen in einem sehr begrenzten Umfang vor. Manche sind zum Beispiel der Meinung, dass es im antiken Athen Revolutionen gegeben hat. Allerdings war die Gesamtbevölkerung des damaligen Athens, zumindest gemessen an den freien Bürgern, klein (höchstens etwa 100.000 Menschen). Athen war ein Stadtstaat, also ein Gebilde in einer ganz anderen Größenordnung als der heutige Nationalstaat. Wenn wir von Revolutionen in der Neuzeit sprechen, dann geht es einerseits um das Handeln einer sehr großen Anzahl von Menschen und andererseits um den modernen Nationalstaat mit seinen territorialen Grenzen und Ansprüchen, seinen wirtschaftlichen Zielen und der politischen Massenorganisation.
Revolutionen haben in der Geschichte unterschiedliche Ziele verfolgt. Zu Beginn waren sie vor allem eine Möglichkeit für die Gesellschaft, Willkür und Übergriffe der Monarchen einzudämmen. Im 19. Jahrhundert entwickelten sie sich weiter und erhielten eine soziale Komponente, die auf die Veränderung der Klassenstruktur der Gesellschaft abzielte. Dieses soziale Element dominierte lange Zeit. Es gab in dieser Zeit aber auch immer wieder rein politische Revolutionen; und die politische Revolution geht der sozialen Revolution zeitlich voraus.
Neben antimonarchischen Revolutionen gab es auch Revolutionen mit dem Ziel, Demokratie zu erlangen, Revolutionen für die Unabhängigkeit von einer Kolonialmacht oder von einem bestehenden Staat, Revolutionen, um eine im Staat bestehende ethnische Hierarchie umzukehren, sowie islamistische Revolutionen mit dem Ziel, einen säkularen Staat in einen religiösen umzuwandeln. Natürlich gibt es noch mehr Ziele und Zwecke, für die in der Geschichte Revolutionen gestartet wurden.
In meinem Buch geht es im Wesentlichen darum, wie sich Revolutionen im Laufe der Zeit entwickelt haben. Ich gehe dabei nicht auf alle besagten unterschiedlichen Arten von Revolutionen im Detail ein. Ich interessiere mich besonders für den Niedergang und die Randständigkeit der sozialen Revolution und den Aufstieg dessen, was ich als urbane Bürgerrevolutionen bezeichne.
Die soziale Revolution hatte ihre Blütezeit in der Mitte des 20. Jahrhunderts. In den vergangenen Jahrzehnten sind soziale Revolutionen aber in den Hintergrund getreten und stattdessen haben sich politische Revolutionen vervielfacht, die auf den Kampf gegen korrupte und repressive Diktaturen abzielen. Gleichzeitig haben sich die Schauplätze von Revolutionen verlagert. Sie haben sich vom Land in die Städte verschoben. Im 19. Jahrhundert waren soziale Revolutionen ebenfalls ein eher städtisches Phänomen. Mitte des 20. Jahrhunderts verlagerten sie sich jedoch auf das Land. Nun schwingt das Pendel wieder zurück.
Was ist eine urbane Bürgerrevolution?
Urbane Bürgerrevolutionen sind heute zur vorherrschenden Form der Revolution auf der ganzen Welt geworden. Eine urbane Bürgerrevolution zielt darauf ab, so viele Menschen wie möglich in zentralen städtischen Räumen zu mobilisieren, um einen Regimewechsel durch eine, wie ich es nenne, zahlenmäßige Stärke und nicht durch Waffenstärke herbeizuführen. Diese Bewegungen versuchen, möglichst große Menschenmassen zu mobilisieren, um die Regierung zu stürzen oder zu reformieren. Daher sind sie in ihren Zusammensetzungen sehr unterschiedlich und vielschichtig. Dass sie zur vorherrschenden Form der Revolution auf der ganzen Welt geworden sind, hat unter anderem damit zu tun, dass im vergangenen Jahrhundert Millionen von Menschen in die Städte gezogen sind. Diese massive Urbanisierung hat unsere Welt verändert.
Tatsächlich ist diese Form der Revolution erst im späten 20. Jahrhundert zu beobachten, als sich eine sehr große Zahl von Menschen bereits in den Städten konzentrierte. Im Jahr 1900 gab es vielleicht zwölf, dreizehn Städte auf der ganzen Welt mit einer Million Einwohnern oder mehr. Heute haben wir 548 solcher Städte. Es ist also heute viel einfacher, sehr große Menschenmengen zu mobilisieren und diese Massen als Grundlage für einen Regimewechsel zu nehmen, als dies noch vor einem Jahrhundert der Fall war.
Davor war die Revolution ein traditionell bewaffnetes Phänomen. Allerdings waren bewaffnete Revolutionen in Städten in der Regel ein aussichtsloses Unterfangen, da der Staat in den Metropolen über eine erdrückende Übermacht verfügt: Der Staat hat eine größere Anzahl bewaffneter Kämpfer, und diese finden sich vor allem in Städten, in denen auch die Regierung ihre Nervenzentren hat. Revolutionäre des 19. Jahrhunderts haben das erkannt.
»Im frühen 20. Jahrhunderts war es sechsmal wahrscheinlicher, in einer unbewaffneten Massendemonstration ums Leben zu kommen als heute.«
Zum Beispiel schrieb Friedrich Engels, bewaffnete Revolutionäre seien in den Städten dem Staat gegenüber stark im Nachteil, weil letzterer über eine überwältigende Feuerkraft verfüge. Dies war der Hauptgrund dafür, dass bewaffnete Revolutionäre Mitte des 20. Jahrhunderts von der Stadt aufs Land zogen. Dabei entdeckten die Sozialrevolutionärinnen und Sozialrevolutionäre das revolutionäre Potenzial der Bäuerinnen und Bauern, die bis dahin als reaktionär gegolten hatten. So ging es in diesen Revolutionen meist um Zugang zu Land und nicht darum, die Klassenstrukturen zu verändern.
Neben der Urbanisierung gab es noch andere Gründe, die urbane Bürgerrevolutionen im späten 20. Jahrhundert ermöglichten. Im späten 19. und auch noch im frühen 20. Jahrhundert gingen die Regierungen sehr brutal mit unbewaffneten Menschenmengen um. Im frühen 20. Jahrhunderts war es sechsmal wahrscheinlicher, in einer unbewaffneten Massendemonstration ums Leben zu kommen als heute. Damals war es schlichtweg schneller der Fall, dass die Staatsmacht das Feuer eröffnet. Im Gegenzug sahen die Revolutionärinnen und Revolutionäre die Notwendigkeit, sich allein schon zum eigenen Schutz bewaffnen zu müssen.
Heute hingegen, mit der Erfindung »nicht-tödlicher« Methoden zur Kontrolle von Menschenmengen, ist die unbewaffnete Revolution viel weniger gefährlich für Leib und Leben geworden. Sie ist natürlich immer noch mit einem erheblichen Risiko verbunden; auch heute noch werden Personen in revolutionären Menschenmengen beschossen und getötet. Doch die Wahrscheinlichkeit, dass dies geschieht, ist viel geringer als in der Vergangenheit.
Es gibt außerdem technologische Gründe dafür, dass urbane Bürgerrevolutionen erst im späten 20. Jahrhundert auftauchten. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts konnte man beispielsweise einzelne Menschen in einer großen Masse aus der Ferne nicht hören, da es keine Lautsprecheranlagen gab. Erst in den 1930er Jahren, als die Nazis bei großen Demonstrationen und Straßenumzügen erstmals Schallverstärker einsetzten, konnte man Rednerinnen und Redner vor großen Menschenmengen aus mehr als zehn Metern weit hören. In früheren Zeiten verließen sich die Revolutionärinnen und Revolutionäre des Weiteren weitgehend auf stark lokale Netzwerke in der Nachbarschaft und in den Fabriken, um Menschen zu mobilisieren. Dadurch blieb auch die Zahl der Menschen, die man erreichte, begrenzt.
Im späten 20. Jahrhundert änderten sich all diese Dinge noch tiefgreifender. Mit dem Aufkommen des Fernsehens und des Internets veränderte sich das technologische Umfeld grundlegend und ermöglichte, eine größere Zahl von Menschen zu mobilisieren. Die digitalen Technologien haben den Prozess der Revolution verändert, indem sie Visualität und Gleichzeitigkeit betonen und sowohl geografische als auch politische Grenzen mit großer Geschwindigkeit überwinden.
Darüber hinaus hat sich das politische und internationale Umfeld in einer Weise verändert, die den Aufstieg der urbanen Bürgerrevolutionen begünstigt hat. Die demografische Konzentration der Menschen in den Städten ermöglichte revolutionäre Kämpfe, die eher auf die zahlenmäßige Stärke als auf Waffenstärke setzten. Daher unterscheiden sich Revolutionen heute deutlich von denen in der Vergangenheit – nicht nur, weil sie sich in die Städte verlagern, sondern auch in der gesamten Art und Weise, wie sie stattfinden.
Auch die Städte selbst haben sich stark verändert. Ich lebe in New York und bin vierzig Jahre alt. Die Stadt ist heute sehr anders als damals, als ich ein Kind war. Die Stadtumgebung hat sich gewandelt. Das lässt sich in vielen Städten weltweit beobachten. Wie haben sich solche Veränderungen in der neoliberalen Ära darauf ausgewirkt, wie sich urbane Bürgerrevolutionen entwickelten?
Stimmt, das Aussehen, die soziale Struktur und der Charakter der Städte haben sich in den vergangenen zwei Jahrhunderten mehrfach gewandelt, was sich im Gegenzug auch auf die Art der revolutionären Entwicklungen in den Städten ausgewirkt hat. Denken wir an das neunzehnte Jahrhundert und die Industrialisierung zurück: Damals war die klassische Situation, beispielsweise in Paris, dass es in der Nähe der Machtzentren in den Metropolen sehr dicht besiedelte Arbeiterviertel gab. Diese engen Viertel mit verwinkelten Gassen boten ein günstiges räumliches Umfeld für den Barrikadenkampf.
Um Rebellionen zu bekämpfen, lösten Regierungen diese Viertel allmählich auf. Die Viertel wurden geräumt, und an ihrer Stelle wurden große, offene Räume geschaffen. In Paris wird dies mit dem Stadtplaner Georges-Eugène Haussmann in Verbindung gebracht. Diese Art der Stadtplanung wurde später in anderen Teilen der Welt nachgeahmt. Da sich zeitgleich die Macht der Nationalstaaten vergrößerte, legten diese Staaten auch große Plätze in den Städten an, auf denen man Stärke zur Schau stellen und Siege feiern konnte. Hinzu kommt außerdem, dass größere Straßen und Boulevards allein schon dadurch notwendig wurden, da man die stetig wachsende Zahl an Menschen in der Stadt mobil halten musste. Diese großen Boulevards und Plätze waren nicht besonders gut für bewaffnete Rebellionen geeignet, aber heute sind sie genau die Orte, an denen sich große Menschenmassen zu revolutionären Aktionen versammeln.
»Die Armen in den Städten beteiligen sich im Allgemeinen nicht an urbanen Bürgerrevolutionen – zumindest, wenn man ihren Anteil an der Bevölkerung als Maßstab nimmt. Viel stärker und überproportionaler beteiligt sich die gebildete obere Mittelschicht.«
Kurz gesagt, die Öffnung von neuen Räumen und Flächen in den Städten schuf das räumliche Umfeld für urbane Bürgerrevolutionen, die auf zahlenmäßige Stärke bauen.
Der von Dir angesprochene Neoliberalismus hatte ebenfalls Effekte auf die Städte. Zum einen hat die Gentrifizierung in vielen Städten weltweit arme Menschen beziehungsweise Menschen aus der Arbeiterklasse in die Randbezirke gedrängt. Die Armen in den Städten beteiligen sich im Allgemeinen nicht an urbanen Bürgerrevolutionen – zumindest, wenn man ihren Anteil an der Bevölkerung als Maßstab nimmt. Viel stärker und überproportionaler beteiligt sich die gebildete obere Mittelschicht. Ich spreche nicht von der Bourgeoisie, der kapitalistischen Klasse. Kapitalisten beteiligen sich im Allgemeinen nicht an Revolutionen, da es für sie keinen guten Grund dafür gibt, dies zu tun. Sie sind in der Regel sehr gut in das herrschende Regime eingebunden.
In meinem Buch untersuche ich anhand von repräsentativen Umfragen zu vier verschiedenen urbanen Bürgerrevolutionen – zwei in der Ukraine, eine in Ägypten und eine in Tunesien – wer sich an solchen Revolutionen beteiligt. Die Umfragen zeigen, dass in all diesen Fällen die Gebildeten und Bessergestellten im Verhältnis zu ihrem Anteil an der Gesamtgesellschaft überproportional oft teilnahmen. Sie zeigen aber auch, dass die Menschenmengen insgesamt sehr vielschichtig waren, nicht nur in Bezug auf ihr Klassenprofil, sondern auch in Bezug auf ihre politischen Ansichten. Urbane Bürgerrevolutionen setzen auf recht unterschiedlichen Koalitionen. Das ist auch notwendig. Mit Menschen aus der oberen Mittelschicht allein würde man niemals die riesige Menschenmenge zusammenbekommen, die nötig ist, um ein Regime zu stürzen.
Diese Vielfalt spiegelt sich dann aber auch in den Zielen und Forderungen wider. Es handelt sich um sogenannte negative Koalitionen, die sich darauf konzentrieren, ein korruptes und repressives Regimes zu vertreiben – und nicht auf konkret ausformulierte Veränderungen, ein gemeinsames Ziel oder eine Vision. Wenn wir an die urbanen Revolutionen der vergangenen Jahre und Jahrzehnte denken, wurden diese oft als demokratische Revolutionen bezeichnet. Die Umfragen zeigen aber, dass die meisten Teilnehmenden oft nur ein schwaches Bekenntnis zu demokratischen Werten hegen. Stattdessen sind die Themen, die die meisten Teilnehmenden motivieren, eher Korruption und wirtschaftliche Fragen, während politische und bürgerliche Freiheiten nur für eine Minderheit der Teilnehmenden – in der Regel etwa ein Drittel oder ein Viertel – ein motivierender Faktor sind.
Um nochmals auf den Neoliberalismus zurückzukommen: Es gab eine ganze Reihe von Revolutionen, die durch Krisen ausgelöst wurden, die sich aus neoliberalen Reformen für die Stadtbevölkerung ergaben. Das können Veränderungen wie die Kürzung öffentlicher Versorgungsleistungen oder Preiserhöhungen sein, die der Gesellschaft aufgezwungen wurden. Nicht alle urbanen Bürgerrevolutionen entstehen als Reaktion auf den Neoliberalismus, aber es gibt eine Untergruppe, in der Aufstände genau aus solchen Gründen entstanden sind. Hinzu kommt, dass die neoliberale Globalisierung die Städte auf neue Weise miteinander verbunden hat und die globale Verbreitung von Revolutionen zu einem schnelleren und umfassenderen Phänomen gemacht hat. Durch die Globalisierung breiten sich Revolutionen über Ländergrenzen hinweg deutlich stärker aus.
Das Konzept der »revolutionären Situation« ist bedeutsam, wenn man Revolutionen studieren und verstehen möchte. Für Lenin lag eine revolutionäre Situation vor, wenn drei Merkmale erfüllt waren: Die Unmöglichkeit für die herrschenden Klassen, ihre Herrschaft in unveränderter Form aufrechtzuerhalten; eine Verschärfung der Not und des Elends der unterdrückten Klassen; und aus diesen beiden Bedingungen folgend eine beträchtliche Steigerung der Aktivität der Massen. Was hältst Du von diesem Konzept?
Heutige Akademikerinnen und Akademiker haben sich im Allgemeinen von der leninistischen Auffassung entfernt. Revolution ist nicht nur eine Frage des Ausmaßes des Unmuts oder der Unterdrückung. Solche Faktoren haben noch nie ausgereicht, um eine Revolution genau vorherzusagen. Studien zeigen, dass die meisten Menschen bei Missständen eher schweigend leiden. Sicherlich spielen Missstände eine Rolle, aber sie reichen bei Weitem nicht aus, um eine Revolution zu erklären. Es kommt unter anderem auf die Führungspersönlichkeiten an, wie Lenin bestimmt selbst auch argumentiert hätte. Ressourcen und die richtigen Gelegenheiten sind wichtig. Doch selbst diese Faktoren erklären nicht vollständig den Ausbruch von Revolutionen, die notorisch unvorhersehbar sind.
Bei der Frage, was eine revolutionäre Situation ist, orientieren sich Forschende heute eher an Leo Trotzki. Der argumentierte, dass eine revolutionäre Situation entsteht, wenn es zu einer doppelten Souveränität kommt, also konkurrierende Ansprüche auf Souveränität über ein und denselben Staat entstehen. Trotzki schrieb offensichtlich über die Russische Revolution und die Monate im Jahr 1917, in denen zwei konkurrierende Machtzentren – die Provisorische Regierung und die Sowjets – um die Vorherrschaft kämpften. Es ist allerdings nicht immer der Fall, dass zwei formale Machtzentren die Souveränität über ein und denselben Staat beanspruchen. Gerade in den aktuellen Revolutionen bleibt die Führung der revolutionären Bewegung oft diffus und die Menschen lehnen lediglich die Souveränität des aktuellen Regimes ab. Die Alternative zum amtierenden Regime ist also eher implizit.
»Eine Revolution ist in hohem Maße unvorhersehbar, weil Regierungen und Oppositionen aufeinander reagieren.«
Die leninistische Sichtweise ist stark strukturbezogen. Revolutionäre Situationen sind aber nicht ausschließlich eine Frage der strukturellen Bedingungen. Sie entstehen aus den Wechselwirkungen zwischen Regierungen und Oppositionen. Durch diese Wechselwirkungen können Phasen der Reform oder der Unterdrückung in eine offene Revolte umschlagen. Innerhalb dieser Konstellationen gibt es eine Vielzahl von Möglichkeiten für den weiteren Verlauf der Geschichte. Eine Revolution ist in hohem Maße unvorhersehbar, weil Regierungen und Oppositionen aufeinander reagieren.
Das bedeutet nicht, dass einer Revolution nicht auch eine strukturelle Dimension zugrunde liegt. Wie ich in meinem Buch zeige, gibt es eine Reihe von strukturellen Bedingungen, die das Entstehen von etwa 80 Prozent der urbanen Bürgerrevolutionen, die stattgefunden haben, genau vorhersagen. Dazu gehören ein hohes Maß an Korruption, ein mittleres Maß an Unterdrückung, Regierende, die schon lange an der Macht sind, ein Mangel an Ölressourcen und ein unteres bis mittleres Entwicklungsniveau.
Wenn man lediglich diese Bedingungen zugrunde legt, wird die Wahrscheinlichkeit einer Revolution aber stark überschätzt. Wenn man diese Bedingungen als alleinige Faktoren ansieht, müsste man mit viel mehr Revolutionen rechnen, als tatsächlich stattfinden. Das gilt sogar, wenn noch bestimmte Auslöser einbezogen werden, von denen bekannt ist, dass sie Revolutionen bewirken können, wie Preissteigerungen, eine Finanzkrise oder internationale Kriege.
Die strukturellen Bedingungen, die Revolutionen begünstigen, überzeichnen die Wahrscheinlichkeit von Revolutionen, wenn nicht die Rolle des Zusammenspiels zwischen Regierung und Opposition bei der Entstehung von Revolutionen berücksichtigt wird. Zum Beispiel: Auf eine Bedrohung können Regierungen mit Einbeziehung reagieren und somit diese Bedrohung entschärfen. Alternativ können sie mit eigenen Reformen oder Repressionen antworten. Dadurch können revolutionäre Entwicklungen manchmal schon zunichtegemacht werden, bevor sie an Dynamik gewinnen.
Es gibt auch Probleme innerhalb von Oppositionen, wenn diese derart unterschiedliche Ansichten haben, dass sie nicht kooperieren können oder wollen. Im Buch zeige ich mehrere Beispiele auf, bei denen das Risiko einer Revolution basierend auf den strukturellen Bedingungen, die anderswo eine Rolle spielten, überdurchschnittlich hoch war, die Revolution aber ausblieb. Ich wollte wissen, warum dies trotz des erhöhten Revolutionsrisikos so war. Dabei stelle ich fest, dass Handlungsfähigkeit und Wahlmöglichkeiten in diesen Situationen durchaus einen entscheidenden Unterschied machen können.
Insgesamt lässt sich sagen: Revolutionen sind ein auf strukturellen Gegebenheiten aufbauendes Phänomen. Sie findet in der Regel schon dort statt, wo wir sie erwarten würden, und unter bestimmten strukturellen Bedingungen. Dennoch hängen Revolutionen stark von den Entscheidungen ab, die die Menschen treffen, und diese Wechselwirkungen führen nicht selten zu unvorhersehbaren Ergebnissen, beispielsweise einem kompletten Ausbleiben revolutionärer Bewegung. Aus diesen Gründen überraschen uns Revolutionen immer wieder. Sie bleiben schwer vorhersehbar.
Dann sprechen wir nach den Ursprüngen doch über das Ende von Revolutionen. Sind Revolutionen mehr – oder eher weniger – erfolgreich bei der Erreichung ihrer Ziele im Vergleich zu routinemäßigen Formen der politischen Auseinandersetzung?
Das lässt sich schwer sagen. Wir haben keinen wirklichen Einblick in all die routinemäßigen Formen von politischen Auseinandersetzungen und Reformbewegungen, so wie wir es bei Revolutionen haben, die ja weitaus seltener vorkommen. Ich kann daher nicht sagen, ob Reformbewegungen mehr oder weniger erfolgreich sind als Revolutionen, wenn es darum geht, ihre inhaltlichen Ziele zu erreichen. Veränderung ist immer schwer.
»Möglicherweise ist die Revolution ein weniger nützliches Mittel geworden, um die soziale Struktur der Gesellschaft zu verändern.«
Ich denke aber, wir können festhalten, dass es bei bestimmten Zielen eine Abkehr von der Revolution als Mittel gegeben hat, um Veränderungen durchzusetzen. So gab es beispielsweise seit den späten 1970er oder frühen 1980er Jahren keine erfolgreichen sozialen Revolutionen mehr, in denen es gelang, die Macht zu erlangen. Und seit Mitte der 1990er Jahre sind relativ wenige neue revolutionäre Episoden entstanden, die zum Ziel hatten, die Klassenverhältnisse in der Gesellschaft umzugestalten. Wir wissen jedoch von nicht-revolutionären Bewegungen, die das Ziel hatten, die Klassenstruktur der Gesellschaft zu verändern, und die an den Wahlurnen an die Macht gekommen sind oder die Regierung auf andere Weise beeinflussen konnten. Möglicherweise ist die Revolution ein weniger nützliches Mittel geworden, um die soziale Struktur der Gesellschaft zu verändern. Das liegt unter anderem daran, dass eine solche Veränderung der sozialen Struktur dazu neigt, die Gesellschaft zu spalten und beachtlichen gewaltsamen Widerstands hervorzurufen. Das macht soziale Revolutionen insgesamt gewalttätiger – und schwieriger zu verwirklichen.
Die Ukraine ist eine Deiner detaillierten Fallstudien im Buch. Inwiefern veranschaulichen die beiden großen urbanen Bürgerrevolutionen im Land – die Orangene Revolution 2004 und der Euromaidan 2013–14 – einige der Hauptthemen und Argumente Deines Buches?
Für mich ist die Orangene Revolution der Archetyp einer urbanen Bürgerrevolution. Sie fand statt, weil eine korrupte und repressive Regierung versuchte, sich durch Wahlbetrug an der Macht zu halten, was in weiten Teilen der Gesellschaft erheblichen Widerstand hervorrief. Es wurde daher versucht, so viele Menschen wie möglich in zentralen städtischen Räumen, auf großen Freiflächen, zu mobilisieren, um einen Regierungswechsel herbeizuführen. Die orangene Bewegung war spektakulär erfolgreich, eine große Zahl von Menschen zu mobilisieren. Im Zentrum von Kiew versammelten sich bis zu eine Million Menschen.
»Eine mangelnde Ausdauer und Beharrlichkeit ist typisch für urbane Bürgerrevolutionen. Sie bringen Regierungen hervor, die in sich selbst sehr zersplittert sind.«
Doch schon bald nach dem Machtwechsel spaltete sich diese Oppositionskoalition, die die Revolution vorangetrieben hatte. Sie war so vielfältig, dass sie offenbar nicht zusammengehalten werden konnte. Sie hat den Staat, den sie übernommen hatte, auch nicht beseitigt oder radikal umgestaltet, und die Korruption blühte weiter auf. Dies führte dazu, dass Viktor Janukowitsch – der Kandidat bei der Wahl, die die revolutionäre Krise überhaupt erst ausgelöst hatte – sechs Jahre später zum Präsidenten gewählt wurde. Also kamen genau die Leute, die die Revolution von der Macht vertrieben hatte, über die Wahlurnen zurück an die Macht, und das nur kurze Zeit später. Das lag an den Schwächen und Misserfolgen der neuen Regierungskoalition, die aus der Revolution hervorgegangen war.
Diese mangelnde Ausdauer und Beharrlichkeit ist typisch für urbane Bürgerrevolutionen. Sie bringen Regierungen hervor, die in sich selbst sehr zersplittert sind. Das liegt vor allem daran, dass sie sehr minimalistische, ablehnende Ziele haben, die so viele Menschen wie möglich vereinen sollen: Es geht weitgehend darum, eine repressive und korrupte Regierung zu vertreiben. Wichtiger ist, wogegen die Menschen mobilisiert werden, als für was. Wenn man sich beim Stellen und Vorantreiben von Forderungen auf die besagte zahlenmäßige Stärke verlässt, muss man eben Forderungen aufstellen, die bei einer großen Zahl von Menschen Anklang finden. Wer mit der zahlenmäßigen Stärke siegt, wird aber höchstwahrscheinlich auch an ihr scheitern.
Bekanntlich gab es in der Ukraine dann eine zweite Revolution, weil die erste nicht die Korruption und Unterdrückung beendet hatte, die die erste Revolution überhaupt erst ausgelöst hatten. Diese zweite Revolution, der sogenannte Euromaidan, war bei der Umgestaltung des Staates etwas erfolgreicher. Doch auch sie hat sich dabei ziemlich schwergetan, vor allem, weil sie den korrupten Staat erbte, den Janukowitsch aufgebaut hatte. Sicherlich ist ein Teil der Probleme, vor denen die heutige Ukraine steht, auf den Krieg zurückzuführen. Doch in gewisser Weise haben die russische Annexion der Krim kurz nach dem Maidan 2014 und die Invasion 2022 die ukrainische Gesellschaft derart geeint, wie es sonst nach der Revolution wahrscheinlich nicht der Fall gewesen wäre. Dadurch konnte sich eine neue Koalition um Präsident Selenskyj bilden, die erstmals die Korruption ernsthaft angegangen ist.
In Ägypten, wo es einer außerordentlich breiten Gegenkoalition gelang, Mubarak zu stürzen, fehlte dieses geopolitische Element.
Ganz genau. Die revolutionäre Allianz in Ägypten konnte sich infolge des Machtwechsels nicht halten und spaltete sich. Das ging schließlich so weit, dass die Liberalen, die sich zuvor mit der Muslimbruderschaft verbündet hatten, um die Mubarak-Regierung zu stürzen, sich nun mit den Resten von Mubaraks Militär zusammenschlossen, um die Muslimbruderschaft von der Macht zu verdrängen. Das ist die Tragödie der ägyptischen Revolution. Wir sehen die Folgen in Form der enormen Unterdrückung, die dort heute herrscht.
Damit urbane Bürgerrevolutionen erfolgreich sind, bedarf es oft einer Bedrohung von außen, um revolutionäre Koalitionen zusammenzuhalten. Ihre natürliche Tendenz ist offenbar, auseinanderzubrechen, nachdem sie selbst an die Macht gekommen sind.
Einer der wichtigsten Aspekte in Deinem Buch ist die Beziehung zwischen Gewalt und Revolution und wie sich diese im Laufe der Zeit verändert hat. Wie Du im Buch dokumentierst, ging Gewalt in revolutionären Bewegungen lange Zeit zurück, vor allem in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Du beobachtest aber auch, dass die Revolutionen in den vergangenen Jahren wieder gewalttätiger geworden sind.
Die Situation in der Ukraine nach dem Maidan scheint das widerzuspiegeln, mit dem brutalen Krieg, der dort gerade tobt. Ist die Ukraine aufgrund der geopolitischen Dimension einzigartig – oder glaubst Du, dass sie eher ein Vorbote für die Zukunft ist, vor allem weil wir beobachten, wie Rivalitäten zwischen Großmächten auf der internationalen Bühne wiederaufleben?
Insgesamt hat die Gewalt in Revolutionen langfristig abgenommen. Revolutionäre Bürgerkriege sind im Vergleich zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts oder der Zeit des Kalten Krieges seltener geworden. Auch im weniger wahrscheinlichen Fall eines Krieges gibt es weniger Todesopfer. Und selbst bei unbewaffneten Revolutionen ist die Zahl der tödlichen Gewaltakte zurückgegangen.
»Während das Modell der urbanen Bürgerbewegungen für sich genommen recht erfolgreich war, ist es für sie in den vergangenen Jahren deutlich schwieriger geworden, ihre Gegner zu stürzen.«
Die ukrainische Situation ist einzigartig, aufgrund der Beziehungen des Landes zu Russland und der Art und Weise, wie dies den Krieg ausgelöst hat. Um auf Deine Frage zurückzukommen: Ja, nach einem langen Rückgang der Gewalt in Revolutionen scheinen Revolutionen heute wieder etwas gewalttätiger zu werden, wenn auch auf eine andere Art und Weise. Wir haben weniger Bürgerkriege, aber dafür härtere Auseinandersetzungen und Aufstände, insbesondere in den Städten. Auch hier dient der Euromaidan als gutes Beispiel. Was als typische, weitgehend gewaltlose Bürgerrevolte in der Großstadt begann, wo sehr viele Menschen als Reaktion auf die Repressionen der Regierung mobilisiert wurden, entwickelte sich zu sehr gewalttätigen Auseinandersetzungen. Die urbane Bürgerschaft allein war offenbar nicht in der Lage, die Janukowitsch-Regierung zu entmachten.
Während das Modell der urbanen Bürgerbewegungen für sich genommen recht erfolgreich war, ist es für sie in den vergangenen Jahren deutlich schwieriger geworden, ihre Gegner zu stürzen. Die Demonstrierenden sehen sich heute repressiveren Regierungen gegenüber, die sich nicht mehr so leicht durch die zahlenmäßige Stärke beeindrucken lassen. Diese Regierungen haben gelernt, wie man mit urbanen Bürgerprotesten umgeht, wie man sie räumlich kontrolliert und wie man sie aussitzen kann, bis sie sich selbst aufreiben und erschöpfen. Das sieht man beispielsweise in Belarus. Dieses Scheitern der zahlenmäßigen Machtausübung hat dazu geführt, dass es in einigen Fällen zu größeren Ausschreitungen kommt. Deswegen: Ja, revolutionäre Bewegungen werden gewalttätiger, aber eher im Sinne von Straßenschlachten als von Bürgerkrieg.
Du bist der Meinung, dass die Zeit der sozialen Revolutionen, zumindest so wie wir sie bisher kannten, vorbei ist. Ist das ein Nebenprodukt des Endes des Kalten Krieges und des Zusammenbruchs des Sowjetblocks? Oder sind noch andere Dynamiken im Spiel?
Der Zusammenbruch des Sowjetblocks war sicherlich ein Faktor, der dazu beigetragen hat, aber da steckt mehr dahinter. Ich verweise auf Theda Skocpols Klassiker über soziale Revolutionen, der allgemein als das Standardwerk zu diesem Thema gilt. Skocpol sieht die Wurzeln sozialer Revolutionen in einer bestimmten Art von Gesellschaftsformation, die sie als agrarisch-bürokratische Gesellschaft bezeichnet. Agrarisch-bürokratische Gesellschaften sind Gesellschaften, in denen der von den Bauern und Bäuerinnen produzierte Überschuss im Wesentlichen zwischen einer Regierung und einer aristokratischen oder landbesitzenden Elite – die mit der Regierung im Bunde steht – aufgeteilt wird. Dies ist der klassische Gesellschaftstyp, der im 19. und 20. Jahrhundert besonders anfällig für soziale Revolutionen war.
Dementsprechend waren soziale Revolutionen in der Vergangenheit eng mit der Landfrage beziehungsweise dem fehlenden Zugang zu Land verbunden: Sie fanden typischerweise in bäuerlichen Gesellschaften statt. Selbst wenn die Mobilisierung in sozialen Revolutionen in den Städten stattfand und überwiegend von städtischen Schichten angeführt wurde, war das bäuerliche Element immer noch präsent. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts begann diese agrarisch-bürokratische Gesellschaft jedoch zu verblassen.
Was war geschehen? Nun, ein Drittel der Welt erlebte kommunistische Revolutionen, die die aristokratische Grundbesitzerklasse völlig auslöschten. Dann gab es an anderen Orten Landreformen, die ebenfalls auf die wahrgenommene Bedrohung durch eine soziale Revolution zurückzuführen waren und die darauf abzielten, das Potenzial einer solchen Revolution zu untergraben. Heute ist die Ungleichheit auf dem Land weltweit immer noch sehr groß, aber vielerorts wurde viel Land an die Bevölkerung umverteilt, was den sozialrevolutionären Impuls dort deutlich abgeschwächt hat.
Hinzu kam und kommt die enorme Migration von Menschen in die Städte. Wer sind die Personen, die in die Städte ziehen? In der Regel sind es junge Männer – also diejenigen, die sich auch am ehesten an einer bewaffneten Rebellion beteiligen. Wenn sie in die Städte abwandern, lassen sie eine überproportional ältere und weibliche Bevölkerung auf dem Land zurück, die oft von den in den Städten verdienten Löhnen und den Überweisungen ins Dorf abhängig ist. Der Zugang zu Land ist also nicht mehr so wichtig, um den Lebensunterhalt zu sichern. Oft ist der Zugang zu Löhnen in den Städten an seine Stelle getreten. Hinzu kommen Entwicklungen wie die Agrarrevolution auf dem Land, die in einigen Ländern die Produktivität sehr stark erhöht hat, sodass weniger Menschen mehr produzieren können.
Darüber hinaus ist die Demokratisierung eines der wichtigsten Mittel gegen die aristokratische Klasse. Studien zeigen, dass die Macht der aristokratischen Landelite durch demokratische Reformen tendenziell untergraben wurde.
All diese Faktoren zusammengenommen haben die agrarisch-bürokratische Gesellschaft ausgehöhlt. Soziale Revolutionen, wie wir sie traditionell kannten, finden heute also nicht nur wegen des Endes des Kalten Krieges und der Sowjetunion nicht mehr statt. Die Sowjetunion selbst hat keine sozialen Revolutionen ausgelöst. Die Rolle der Sowjetunion bestand im Wesentlichen darin, Waffen an Revolutionärinnen und Revolutionäre in anderen Ländern zu liefern. Gerade auf dem Land haben sich im Laufe der Zeit die Bedingungen aber eher verschlechtert, und viele Menschen sind in die Städte gezogen. Diese Bewegung einer großen Zahl von Menschen in die Metropolen schuf dann ein günstiges Umfeld für etwas Neues, nämlich das Modell der urbanen Bürgerrevolution.
»Das Verschwinden der agrarisch-bürokratischen Gesellschaft hat dieses Modell der sozialen Revolution geschwächt und an den Rand gedrängt. Das heißt aber nicht, dass nicht ein anderes Modell der sozialen Revolution erfunden werden könnte.«
Kannst Du Dir aktuell eine Situation vorstellen, in der eine soziale Revolution im urbanen Kontext eine Realität oder zumindest eine Möglichkeit werden könnte? Und müssten wir unser Verständnis von sozialen Revolutionen unter diesen Umständen komplett überdenken?
Überdenken müssten wir das Konzept auf jeden Fall. Das agrarisch-bürokratische Modell der sozialen Revolution würde einfach nicht mehr funktionieren. Soziale Ungleichheit ist aber immer noch ausgeprägt und hat sich im Laufe der Zeit sogar verschlimmert. Es ist also nicht so, dass die Probleme, die der sozialen Revolution zugrunde liegen, in den urbanisierten Gesellschaften verschwunden wären. Deswegen würde ich sagen: Das Verschwinden der agrarisch-bürokratischen Gesellschaft hat dieses Modell der sozialen Revolution geschwächt und an den Rand gedrängt. Das heißt aber nicht, dass nicht ein anderes Modell der sozialen Revolution erfunden werden könnte.
In Gesellschaften urbanen Charakters wird ein neues Modell wahrscheinlich auf zahlenmäßige Stärke bauen müssen, nicht auf Waffen. Die Revolution wäre also nicht so stark ideologisiert und umfassend sein wie das frühere Modell, das im Allgemeinen auf eine vollständige Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse abzielte. Auch hier gilt, wenn Du dich auf die zahlenmäßige Stärke verlässt, musst Du Dir überlegen, wie Du eine sehr große Zahl von Menschen ansprechen kannst. Und das wird Deine Forderungen zwangsläufig verwässern. Da die staatlichen Sicherheitskräfte gerade im urbanen Raum schnell zusammengezogen werden können, ist eine bewaffnete Revolution in den Städten ein aussichtsloses Unterfangen. Sie wird einfach nicht funktionieren, oder zumindest nicht in einer großen Zahl von Fällen. Ein neues Modell der sozialen Revolution, das Klassenungleichheiten angreift, muss anders aussehen.
Im Moment werden die meisten dieser Probleme an den Wahlurnen gelöst. Im Allgemeinen ist die Demokratie das große Gegenmittel zur Revolution, denn es gibt keinen Grund, sein Leben auf der Straße zu riskieren, wenn man in ein paar Jahren die Möglichkeit hat, die Regierung per Wahlzettel zu ändern.
In Deinem Buch gibt es eine Grafik, die mir sehr im Gedächtnis geblieben ist. Es ist ein Kurvendiagramm, das zeigt, dass das Auftreten von sozialen revolutionären Momenten quasi gegen null geht, wenn ein gewisses Maß an Bruttoinlandsprodukt (BIP) und Demokratisierung erreicht wird.
Ja, das gilt allerdings für alle Arten von Revolution. In der Regel gibt es keine Revolution, wenn ein bestimmter Grad an Demokratie erreicht ist. Gelegentlich gibt es Revolutionen in Demokratien, aber sie sind sehr, sehr selten. Der geeignetste Punkt für eine Revolution ist meiner Ansicht nach ein mittlerer Grad an Unterdrückung. Das passiert also nicht in den offensten Systemen und auch kaum in den repressivsten. Im Vergleich erleben aber selbst die repressivsten Regime häufiger revolutionäre Momente als Demokratien.
Hier könnte das aktuelle Aufweichen der Demokratie interessant werden. Wir wissen nicht, wie die Zukunft der Demokratie aussieht. Sie ist durchaus in Frage gestellt und bedroht. Wir haben beobachtet, dass Demokratien auf der ganzen Welt Rückschritte machen und sich autoritären Regimen annähern. Wenn sich demokratische Systeme wieder autoritären Regierungsformen zuwenden, könnte das eine Revolution zumindest attraktiver machen.
Meinst Du mit diesem Aufweichen eine Situation, in der die Wahl-Demokratie nicht komplett ausgelöscht wird, aber derart manipuliert ist, dass es im Grunde unmöglich ist, die Regierung oder ihre Politik zu ändern, egal wie die Menschen wählen?
Ja, zum Beispiel – mehr aber noch eine Zunahme an quasi-diktatorischer Macht, die sich über alle bestehenden Einschränkungen für eine Exekutive hinwegsetzt. Es hat schon Fälle gegeben, in denen es unter solchen Umständen zu Revolutionen gekommen ist. Die eigentliche Frage ist, wie viel Einfluss die Menschen an der Wahlurne haben, damit solche Tendenzen eingedämmt werden. Oder anders gesagt: Können sie ihre Regierung per Wahl ändern oder austauschen, wenn der Wille dazu vorhanden ist?
In der Moderne wurde das Konzept der Revolution nahezu immer mit linken, demokratischen und progressiven Strömungen in Verbindung gebracht. Heute scheint es aber, als wenn es hier in gewisser Weise einen Rechtsruck gibt. In den USA gab es den sogenannten Sturm auf das Kapitol am 6. Januar 2021. Bolsonaros Anhängerinnen und Anhänger in Brasilien haben nach seiner Wahlniederlage etwas Ähnliches versucht. Siehst du eine Verschiebung in der politischen Ausprägung bei revolutionären Auseinandersetzungen?
Historisch gesehen gab es natürlich auch die eine oder andere rechte Revolution. Es wäre also kein komplett neues Phänomen. Man könnte Mussolinis Marsch auf Rom als Revolution interpretieren – tatsächlich werte ich ihn in meinem Buch als eine revolutionäre Episode. Grundsätzlich ist das also absolut möglich.
Ich würde aber gerade den 6. Januar nicht als revolutionäres Moment sehen, denn es wurde angeführt von jemandem, der bereits an der Macht war und diese behalten wollte. Zum anderen fehlte es an der echten revolutionären Überzeugung. Dieser sogenannte Sturm war ein einmaliges, kurzlebiges Ereignis. Ich würde sagen, es war eher Randale als eine Revolution. Eine echte, revolutionäre Belagerung des Bestehenden bedeutet, dass man sich verpflichtet, raus auf die Straße zu gehen und dort zu bleiben, egal was passiert, um einen Regimewechsel zu erreichen.
Am 6. Januar sind diese Leute hingegen in den Kongress eingedrungen, haben dort Sachen zerschlagen und sind danach nach Hause gegangen. Andere Autorinnen und Autoren haben den 6. Januar – ich glaube, zu Recht – als Selbstputsch bezeichnet, als autogolpe, wie es in Lateinamerika heißt. Das bedeutet, dass ein Staatsoberhaupt versucht, sich durch einen Putsch oder Aufstand gegen die eigene Regierung an der Macht zu halten und die eigene Macht und Kontrolle dadurch zu konsolidieren und zu verstetigen.
Glücklicherweise ist dieser Versuch in den USA am 6. Januar gescheitert, ebenso wie Bolsonaros Versuch in Brasilien. Letzterem fehlte ebenfalls die Entschlossenheit und die unbedingte Überzeugung, um eine Art Massenbelagerung der politischen Instanzen und Institutionen durchzuziehen. Auch die Situation in Brasilia ähnelte eher einer Straßenschlacht als einer Revolution. Und es war vielmehr ein Selbstputsch, der darauf abzielte, Bolsonaro an der Macht zu halten, als eine Massenrevolte gegen das Regime.
Bleibt zu hoffen, dass derartige Gruppen in Zukunft nicht radikal und revolutionär genug werden, um auf »Belagerung« zu setzen, wie Du es genannt hast, oder?
Das kann aber passieren. Die Revolution ist ein Phänomen, das von allen gesellschaftlichen Kräften genutzt werden kann – sie ist nicht das alleinige Erbe und Eigentum der Linken oder der Liberalen. Also ist es durchaus im Bereich des Möglichen.
Mark Beissinger ist Henry W. Putnam Professor für Politik an der Princeton University und Autor von The Revolutionary City: Urbanization and the Global Transformation of Rebellion (Princeton University Press, 2022).