22. März 2024
In Europa gewinnt immer die Seite mit dem großen Geld. Wir kennen es nicht anders. Doch in den 1970ern hätten beinahe Sozialisten und Gewerkschafter die Regeln gemacht.
»Die EU, wie wir sie heute kennen, ist erst nach der Niederlage des Sozialen Europa entstanden.«
Im vergangenen Jahr sorgte eine Gruppe prominenter französischer Intellektueller, darunter Thomas Piketty und Julia Cagé, mit einem Manifest für Aufsehen. Darin behaupteten sie, es entstehe eine neue politische Dynamik für eine progressive soziale und ökologische Umgestaltung »Europas« (womit sie die Europäische Union meinten). Es sei wichtig, dass die politischen Parteien und die Zivilgesellschaft diese Chance nun ergreifen und die EU endlich auf den Weg zu einer gerechteren und demokratischeren Union der Mitgliedsstaaten bringen.
Dies erscheint in vielerlei Hinsicht überraschend. Schließlich ist es erst neun Jahre her, dass die europäischen Institutionen mit dem Versuch der griechischen Partei Syriza, einen solchen Wandel einzuleiten, kurzen Prozess machten. Seitdem haben es die linken Parteien in Europa schwer. In den vergangenen Monaten kam es nicht nur in Griechenland, sondern auch in Frankreich, Deutschland und Spanien zu Streits und Abspaltungen, die sich vermutlich negativ auf die Chancen der Linken bei den EU-Parlamentswahlen im Juni auswirken werden.
Andererseits stimmt es, dass die Krisen der vergangenen Jahre die EU dazu gezwungen haben, die Regeln des sogenannten Maastricht-Konsenses zu brechen oder zumindest zu beugen. Ab 2020 wurde zunächst der Stabilitäts- und Wachstumspakt ausgesetzt, dann mit dem 750 Milliarden Euro schweren Paket Next Generation EU ein noch nie dagewesener Solidaritätsmechanismus geschaffen sowie eine neue Sozialversicherungspolitik eingeführt. Alle drei Maßnahmen zeigen, dass das Fundament der EU-Politik seit den 1990er Jahren – der von den Institutionen auferlegte Sparzwang – doch nicht so unumstößlich ist, wie man uns lange glauben machen wollte.
Fiskalregeln in Ausnahmezeiten zu umgehen, ist eine Sache. Die Architektur eines unwahrscheinlich komplexen technokratischen Überbaus, der sich über Jahrzehnte gebildet und gefestigt hat, zu restrukturieren, ist eine ganz andere. Schließlich ist die EU, wie wir sie heute kennen, erst nach der Niederlage des Sozialen Europa entstanden – einer von sozialistischen und sozialdemokratischen Parteien geteilten Vision von einer europäischen Gemeinschaft aus stark regulierten, gut geplanten und demokratisierten Volkswirtschaften, die auf widerstandsfähigen Wohlfahrtsstaaten basieren.
Ein Blick auf dieses oft übersehene Kapitel in der Geschichte des europäischen Sozialismus kann uns helfen, ein halbes Jahrhundert später unsere eigenen politischen Ambitionen zu überdenken – und vielleicht anzupassen.
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Aurélie Dianara ist Postdoc in Paris und forscht im Bereich europäische Sozial- und Politikgeschichte. Sie ist Autorin von Social Europe, The Road Not Taken: The Left and European Integration in the Long 1970s (Oxford University Press, 2022).