26. Februar 2024
Alp Altınörs hat den kurdischen Kampf gegen den Islamischen Staat unterstützt. Dafür sitzt er in der Türkei seit Jahren im Gefängnis. Wer hinter diesem Kampf steht, sollte sich auch mit Palästina solidarisch zeigen, argumentiert er in seinem Gastkommentar.
Protestschild mit Portraits der ehemaligen HDP-Vorsitzenden Selahattin Demirta und Figen Yüksekda und weiteren HDP-Parteifunktionären, darunter auch Alp Altınörs, Ankara, 17. Mai 2024.
IMAGO / ZUMA Press WireIch schreibe diese Worte aus meiner Zelle in einem Hochsicherheitsgefängnis in einem abgelegenen Stadtbezirk von Ankara. Die Sonne knallt auf unseren Hof. Ich bin in Gedanken bei unseren Freundinnen und Genossen auf der ganzen Welt, deren Herzen wie unsere schlagen.
Wir, die Mitglieder der HDP (Demokratische Volkspartei), hatten vor zehn Jahren einen Aufruf zum Handeln gegen den vom Islamischen Staat geplanten Völkermord in Kobanê veröffentlicht. Diesen Aufruf haben wir in den vergangenen vier Jahren mit Untersuchungshaft im Gefängnis bezahlt. Und das alles wegen eines Tweets. Am 16. Mai gab das Gericht seine Entscheidung bekannt: Alle Angeklagten aus unserer Gruppe wurden zu 20 bis 24 Jahren Haft verurteilt. Unser demokratischer Aufruf zum Protest gegen das Massaker des Islamischen Staats führte also zur Verurteilung aufgrund schwerer »Terror«-Anschuldigungen.
Der Kobanê-Prozess ist ein weiteres Beispiel dafür, wie die politischen Machthaber in der Türkei die hiesigen Anti-Terror-Gesetze als repressives Instrument nutzen, um demokratische Politik und Meinungsfreiheit zu unterdrücken. Ich selbst habe eine Haftstrafe von 22,5 Jahren erhalten.
Ich erinnere mich an den 1. November 2014, den »World Kobani Day«: Demokratinnen und Demokraten, Freunde des Friedens, Verteidigerinnen der Menschenrechte, Gewerkschaften, Sozialistinnen und Sozialisten auf der ganzen Welt erhoben sich, um gegen die Barbarei des IS in Kobanê zu protestieren.
Der Islamische Staat hat am 3. August 2014 einen Völkermord an den Jesiden in Sindschar begangen und zuvor einen Genozid an den Turkmenen von Tel Afar. In Kobanê konnte der IS dies nicht wiederholen. Die Stadt ließ nicht zu, dass sie als weiteres Genozid-Opfer in die Geschichte eingeht – und wurde stattdessen als die Stadt bekannt, die den IS stoppte.
Heute wird die Welt Zeuge eines weiteren Völkermordes; dieser wird vom israelischen Staat an der palästinensischen Bevölkerung in Gaza verübt. Die israelische Regierung will Gaza offenbar annektieren und die palästinensische Bevölkerung vertreiben (wie es ähnlich schon während der Nakba 1948 geschehen ist).
Erinnern wir uns daran, was Naomi Klein über den Katastrophen-Kapitalismus geschrieben hat: Erneut wird ein Teil der palästinensischen Erde von Besatzungstruppen eingenommen und neue Siedlungen dürften gebaut werden. Der Schmerz und das Leid der Palästinenserinnen und Palästinenser wird dabei in Profite für israelische Monopolisten umgewandelt werden.
Diejenigen, die gestern die demokratischen Proteste und den Widerstand gegen den Völkermord des IS in Kobanê unterstützt haben, sprechen sich heute gegen den Völkermord in Gaza aus. An den Universitäten der Vereinigten Staaten erheben beispielsweise die Studierenden ihre Stimme gegen diese Barbarei.
Wenn gemordet wird, ist es ebenso ein Verbrechen, schweigend zuzusehen. Wir, die wir vor zehn Jahren versucht haben, einen Völkermord zu verhindern, der sich vor unseren Augen abspielte, werden heute in einem politischen Prozess mit Gefängnisstrafen bestraft. Das zuständige türkische Gericht verstieß damit gegen die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der festgestellt hatte, dass unser Aufruf »innerhalb der Grenzen der politischen Meinungsäußerung blieb und daher kein Verbrechen darstellte«. Genauso wenig wurde die Einschätzung des EGMR anerkannt, mit der die Freilassung von Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ (die damaligen HDP-Vorsitzenden) gefordert wurde. Dies verstößt sogar gegen die Verfassung des türkischen Staates selbst, denn laut Artikel 90 sind alle Gerichte an die Entscheidungen des EGMR gebunden.
Lenin sagte einst, in imperialistischen Kriegen werde »der Unterschied zwischen Republik und Monarchie verwischt«. In der Welt von heute gibt es mehrere offene imperialistische Rivalitäten und Kriege. Das Recht auf freie Meinungsäußerung wird mit Füßen getreten, selbst in Ländern wie den USA oder dem Vereinigten Königreich, wo dieses Recht angeblich sakrosankt ist. Die Türkei ist einer der Staaten, die bei der Unterdrückung dieser Freiheit am weitesten gehen. Aufrufe, auf die Straße zu gehen, werden dabei besonders hart verfolgt. Zwei wichtige »Paradebeispiele« sind in diesem Zusammenhang die Gezi- und die Kobanê-Verfahren. Das in Artikel 34 verfassungsmäßig geschützte Recht auf demokratischen Protest wird so zum größten Verbrechen erklärt. Gleichzeitig wird der arbeitenden Bevölkerung mit dem vom Internationalen Währungsfonds unterstützten Austeritätsprogramm ein soziales Desaster aufgebürdet. In dieser Präsidialregierung werden Unternehmensprofite durch das häufige Verbot von Streiks der Arbeiterschaft geschützt. Ein endlos ausgedehnter und immer wieder verlängerter Ausnahmezustand lähmt unser Land nach wie vor.
Unsere vier Jahre Untersuchungshaft wegen eines Tweets und die anschließenden 20- bis 24-jährigen Gefängnisstrafen sind Symbol und Verkörperung dieser politischen Zustände. Die türkische Politik wurde auf Basis des Kobanê-Prozesses umgestaltet. Es wurde ein Parteiverbotsverfahren gegen die HDP eröffnet. Die Wählerinnen und Wähler wurden bei den Wahlen 2023 manipuliert.
Das Ergebnis ist, dass wir, der Zentralvorstand der HDP aus der besagten Zeit, zusammen mit unseren Co-Vorsitzenden immer noch im Gefängnis sitzen. Nochmals: Die Begründung dafür ist ein Tweet, der gemäß zwei unterschiedlicher Einschätzungen des EGMR im Rahmen der freien Meinungsäußerung liegt. Wir sind »schuldig«, unsere internationale Solidarität mit dem unterdrückten kurdischen Volk gezeigt zu haben, das damals von den IS-Terroristen in Kobanê umzingelt war und abgeschlachtet werden sollte!
Als internationalistischer Sozialist werde ich niemals einem Volk den Rücken zukehren, das Opfer von Genozid und Mord wird, egal ob es sich um das kurdische, das turkmenische oder das palästinensische Volk handelt. Ich kann solchen Grausamkeiten nicht tatenlos zusehen.
Ich möchte allen unseren Freundinnen und Genossen auf der ganzen Welt im Voraus dafür danken, dass sie zu dieser Repression und Unterdrückung, die uns angetan wird, nicht schweigen. Ich möchte ihnen dafür danken, dass sie Solidarität mit uns entwickeln.
Frei nach Che [Guevara]: »Solidarität ist die Zärtlichkeit der Unterdrückten.«
Hoch die internationale Solidarität!
Alp Altınörs ist ein inhaftierter sozialistischer Autor, Übersetzer und ehemaliger stellvertretender Co-Vorsitzender der HDP.