20. Juni 2024
Das Leben ist hart und es wird noch härter: Mächtige Kapitalinteressen und ihre politischen Verbündeten torpedieren unseren Sozialstaat.
»Dass die Konjunktur in Deutschland schwächelt, spielt den Sozialstaatswendern in die Karten.«
Mitte April veröffentlichte die FDP ein Papier mit dem Titel »12 Punkte zur Beschleunigung der Wirtschaftswende«. Mitte Mai folgten »Fünf Punkte für eine generationengerechte Haushaltspolitik«, die eine »Haushaltswende« vorantreiben sollen. Mit beiden Papieren knüpfen die Liberalen ersichtlich an Olaf Scholz’ Rede von einer »Zeitenwende« an. Das Wenden scheint zur politischen Dauertätigkeit zu werden – Verlust des Gleichgewichts nicht ausgeschlossen. Für die Zukunft des Sozialstaats verspricht das nichts Gutes.
Der gerne mal links blinkende Ökonom und DIW-Chef Marcel Fratzscher schrieb am 26. April in seiner Kolumne auf Zeit Online, die FDP ziele mit ihrem 12-Punkte-Papier vorrangig auf einen »Abriss des Sozialstaats« – auf eine »Sozialstaatswende«. FDP-Chef und Finanzminister Christian Lindner benutzt letzteren Begriff auch selbst. Tatsächlich enthalten beide Papiere zahlreiche Vorschläge, die mit Wirtschaft wenig, mit Sozialabbau aber viel zu tun haben: Leistungen des Bürgergelds zu reduzieren, ein Moratorium für Sozialleistungen einzuführen, Überstunden steuerlich zu fördern, den Solidaritätszuschlag für Reiche zu streichen, die gesetzliche Rente zu verschlechtern und eine kapitalmarktgedeckte Rente einzuführen.
Was die FDP hier unterbreitet, hat eine Vorgeschichte. Vom Kapital applaudiert, führt die Partei ihre grünen und roten Koalitionspartnerinnen seit Beginn der Ampel-Koalition am Nasenring durch die Manege. Beim Wohnen beispielsweise setzt sie Vereinbarungen im Koalitionsvertrag schlicht nicht um. Die Kindergrundsicherung hungert sie finanziell aus. Und gegen das Bürgergeld fahren FDP, CDU/CSU, Arbeitgeber- und Unternehmenslobby schon seit Längerem eine scharfe Kampagne. Wahrheitswidrig behaupten sie etwa, dessen Regelsätze seien stärker gestiegen als die Löhne. Die Arbeitgeber des Reinigungs- und des Gastgewerbes schwurbelten sogar von Eigenkündigungen zahlreicher Beschäftigter, die lieber Bürgergeld bezögen. Davon ist zwar bis heute in den Statistiken nichts zu sehen, die Behauptung selbst aber fand Aufmerksamkeit in Gazetten und sozialen Medien.
Dass die Konjunktur in Deutschland schwächelt, spielt den Sozialstaatswendern in die Karten. Mit Schwarzmalerei erhöhen sie die scheinbare Dringlichkeit ihrer Vorschläge: Deutschland sei auf dem absteigenden Ast, es drohe der Absturz in die Zweite Liga – weshalb es eine radikale Umkehr brauche, eine Wende eben. Nun sind die Ursachen der konjunkturellen Holprigkeiten zwar andere, als sie behaupten – die Wirtschaft schwächelt wegen höherer Leitzinsen, einer abgekühlten Weltkonjunktur, Reallohnverlusten und Haushaltskürzungen. Das ficht FDP und Co. allerdings nicht an. Beharrlich führen sie Deutschlands vermeintlichen Abstieg auf Bürokratie, Steuern und einen überbordenden Sozialstaat zurück. Und geflissentlich ignorieren sie, dass die jüngsten Konjunkturdaten und -prognosen wieder nach oben zeigen.
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Patrick Schreiner ist Politikwissenschaftler, Gewerkschafter und Autor. Sein neuestes Buch Nichts für alle – Wie Politik und Wirtschaft uns den Sozialstaat kündigen ist kürzlich beim Brumaire Verlag erschienen.