21. Dezember 2020
Das bedingungslose Grundeinkommen ist so populär wie verschrien. Was die einen als menschenwürdigen und existenzsichernden Gegenentwurf zum jetzigen Sozialstaat erachten, halten die anderen für privatistisch und neoliberal. Doch diese Frontstellung ist nicht nur unproduktiv, sie ist auch unnötig.
Weltrekord fürs Grundeinkommen: das größte Poster der Welt zur Abstimmung in der Schweiz 2016.
Die Missverständnisse zum bedingungslosen Grundeinkommen (BGE) beginnen bereits damit, dass sich die öffentlichkeitswirksame Debatte viel zu oft auf dieselben Personen reduziert. Wer kennt nicht etwa Götz Werner oder Richard David Precht? Ute Fischer, Barbara Prainsack, Ina Praetorius, Antje Schrupp oder Ronald Blaschke sind in der medialen Berichterstattung hingegen kaum präsent. Letztere befassen sich schon sehr lange mit dem BGE, was sich in verschiedenen Artikeln und Büchern nachlesen lässt. Besonders die Publikationen von Roland Blaschke sind hier hervorzuheben, finden sich doch dort informative Übersichten zu den über zwanzig Modellen, die in Deutschland diskutiert werden und die sich teils erheblich unterscheiden. Statt nun aber entsprechend zu differenzieren, ist in den Medien und seitens der Kritikerinnen und Kritiker oft nur von »dem« BGE zu lesen.
Bei näherem Blick auf die fachliche Auseinandersetzung mit den BGE-Ideen dürfte jedenfalls vielen Gegenargumenten die Luft ausgehen. Exemplarisch dafür sei der Vorwurf herausgegriffen, dass das BGE »neoliberal« sei. Richtig ist, dass es »neoliberale« BGE-Modelle gibt, wie etwa das von Milton Friedman. Diese laufen auf einen Abbau des Sozialstaats hinaus. Allerdings sind das nicht die einzigen BGE-Konzepte, da man sich dieser Problematik durchaus bewusst ist. Die meisten der im deutschsprachigen Raum diskutierten BGE-Modelle sind mit dem Anspruch einer echten Existenzsicherung verbunden. »Neoliberale« BGE-Konzepte werden daher mehrheitlich abgelehnt. So betonen etwa Werner Rätz und Hardy Krampertz: »Ein bedingungsloses Grundeinkommen muss Menschen besser stellen und nicht schlechter. Der Einsatz für ein Grundeinkommen und für umfassende und gute Sozialsysteme gehört zusammen.«
Viele dieser existenzsichernden BGEs sind zudem gerade aus der Kritik am Neoliberalismus heraus entstanden. Der Vorwurf, dass die BGE-Befürwortung automatisch dem Neoliberalismus zum Sieg verhelfen möchte, erscheint vor diesem Hintergrund mehr als anmaßend. Wer das behauptet, kennt die BGE-Debatten nicht oder will die BGE-Ideen bewusst diskreditieren.
Die Unkenntnis über die BGE-Modelle treibt dann teils absurde Blüten. Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, lehnte ein BGE noch 2017 als Irrweg ab, schlug aber einen »Lebenschancenkredit« vor: Unabhängig der sozialen Herkunft und der Lebenssituation sollten Menschen ab 18 Jahren 20.000 Euro zur Verfügung stehen. Diese könnten für Bildung oder zur Absicherung sozialer Risiken aufgewendet werden. Ähnliches sieht die Idee eines »Erwerbstätigenkontos« vor, für das sich 2017 die damals amtierende Arbeitsministerin Andrea Nahles stark machte. Auch sie lehnte BGE-Konzepte ab. Tatsächlich handelt es sich jedoch sowohl beim Lebenschancenkredit als auch beim Erwerbstätigenkonto um Formen eines BGEs. In Fachkreisen würde von partiellen Grundeinkommensmodellen – also ohne Ziel der Existenzsicherung – gesprochen werden.
Natürlich gibt es auch ernst zu nehmende Kritik an den BGE-Konzepten, wie sie etwa kürzlich von Ole Nymoen und Wolfgang M. Schmitt in ihrem Podcast »Wohlstand für alle« (Ep. 67) vorgebracht wurde. Dazu gehören die Auswirkungen eines BGEs auf die Preise (Inflation) und Preisstruktur oder die Bedeutung eines gemeinsamen Währungsraums (Euro) bei der Umsetzung. Weiter ließe sich fragen, wie anfällig BGE-Modelle für eine Vereinnahmung durch rechte oder neurechte Strömungen sind. Wie ließe sich vermeiden, dass ein BGE »Etabliertenvorrechte« begünstigt, mit denen Migrantinnen, Migranten und Zugezogene diskriminiert würden?
Daneben gibt es aber auch ernshafte konzeptionelle Probleme. Zu Recht weist etwa Christoph Butterwegge darauf hin, dass ein BGE mit einem Pauschalbetrag nicht bedarfsgerecht sein kann. Alte Menschen, Menschen mit körperlichen Einschränkungen oder Schwangere haben besondere Bedarfe. Wer hier nur einen Pauschalbetrag auszahlen möchte, schafft Ungerechtigkeiten. Nun gibt es BGE-Modelle, die durchaus Sonder- oder Mehrbedarfe kennen. Denjenigen, die sich mit den BGE-Ideen befassen, ist diese Problematik daher nicht völlig fremd.
Allerdings steuert die Berücksichtigung unterschiedlicher Bedarfe auf einen Widerspruch zu: Um einen Mehrbedarf zur Kenntnis zu nehmen, wird eine Bedürftigkeitsprüfung notwendig. Aber genau die darf es mit dem BGE gar nicht geben. Schließlich soll ein Grundeinkommen bedingungslos ausgezahlt werden. Man muss sich dabei vor Augen halten, dass bereits Unterschiede in der Mietsituation für solche Mehrbedarfe sorgen können. Die Beantragung eines Mehrbedarfs dürfte damit zum Normalfall werden. Insofern besteht das Problem, dass die Bedingungslosigkeit des Grundeinkommens der Bedarfsgerechtigkeit im Weg steht, und Bedarfsgerechtigkeit nicht ohne Bedürftigkeitsprüfung zu haben sein wird. Dieser Widerspruch lässt sich nicht lösen. Allerdings ist er auch nicht unüberbrückbar. So werden sich Befürworter eines BGEs vermutlich mit niedrigschwelligen, nicht diskriminierenden Bedürftigkeitsprüfungen arrangieren können.
Der konzeptionelle Bruch zwischen Bedingungslosigkeit und Bedarfsgerechtigkeit wirft die Frage auf, warum die BGE-Ideen dann aber unverzichtbar für die Weiterentwicklung des Sozialstaats sein sollen. Dazu lässt sich im Wesentlichen ein Punkt hervorheben.
Derzeit gibt es nämlich keine sozialpolitische Vision, die der Sicherung der soziokulturellen Existenz, des guten Lebens und der Menschenwürde solch eine hohe Priorität beimisst wie die BGE-Ideen. Das heißt nicht, dass den Gegnern des BGEs die Menschenwürde und der Anspruch auf Selbsterhaltung egal seien, nur spielen derlei Kriterien dort eine weniger zentrale Rolle, während diese bei den BGE-Ideen den Dreh- und Angelpunkt der Argumentation bilden. Letzteres ist in den Debatten um den Sozialstaat leider keine Selbstverständlichkeit.
An der ernsthaften Auseinandersetzung mit den BGE-Konzepten führt auch deshalb kein Weg vorbei, weil alle anderen Gegenvorschläge teils erhebliche Glaubwürdigkeitsprobleme aufweisen.
Das gilt besonders für den Sozialstaat, der bisweilen als Alternative zu den BGE-Ideen angeführt wird. Dabei zielt der Verweis auf den Sozialstaat auf einen Vorwurf, der so gar nicht zutrifft. Denn viele Befürworterinnen eines BGEs sind ohnehin auch für einen starken Sozialstaat. Davon abgesehen haben die kleingerechneten Regelsätze im ALG II, die existenzgefährdenden Sanktionen und vieles Weitere das Vertrauen in »den« Sozialstaat gemindert. Man muss sich an dieser Stelle vor Augen führen, dass das aktuelle Interesse am BGE teilweise auch aus den negativen Erfahrungen mit dem bisherigen Sozialstaat erwächst.
Vereinzelt mag den BGE-Konzepten die Idee des Mindestlohns als Alternative entgegengehalten werden. Demnach müsse das Ziel sein, die Menschen in Arbeit zu bringen, statt sie ruhigzustellen. Ein echter Mindestlohn hätte dann aber drei Ansprüche zu erfüllen. Erstens müsste er das soziokulturelle Existenzminimum sichern. Zweitens wären auch Einschränkungen durch das Arbeitsverhältnis, wie etwa Anfahrtswege, zu kompensieren. Und drittens müsste ein fairer Anteil an der gemeinsam geschaffenen realen Wertschöpfung garantiert werden. Doch das, was in Deutschland »Mindestlohn« genannt wird, erfüllt keine dieser Funktionen. Allein die Existenzsicherung ist zum Beispiel gar nicht im Mindestlohngesetz als Ziel erwähnt. Hinzu kommt, dass sich die Sozialdemokratie und die Gewerkschaften mit ihren positiven Äußerungen zu der jüngsten Anhebung dieser Lohnuntergrenze unglaubwürdig gemacht haben: von 9,35 Euro (2020) soll der Mindestlohn auf 10,45 Euro im Jahr 2022 steigen. Dabei forderte der Paritätische Wohlfahrtsverband bereits 2018 einen armutsfesten Mindestlohn von 12,63 Euro. Angesichts dieser Realitäten erscheint auch die Idee eines existenzsichernden Mindestlohns utopisch. Mehr noch, bisweilen kommen Zweifel auf, wie ernst diese Forderung überhaupt gemeint ist.
Auch die Jobgarantie, die in jüngster Zeit diskutiert wird, hat Glaubwürdigkeitsprobleme. Oftmals wirkt die Jobgarantie wie ein eilig aus dem Hut gezaubertes Schlagwort, das dem BGE entgegengestellt wird. Dann steht die unerbittliche Opposition zu den BGE-Ideen im Vordergrund. Bezeichnend ist jedoch, worüber geschwiegen wird: Zumutbarkeitsregeln im Hartz-IV-System – also den real existierenden Arbeitszwang –, die Erfahrungen mit Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und nicht existenzsichernde Mindestlöhne. Allenfalls auf Nachfrage wird noch angefügt, die Jobgarantie solle sich nach den Bedürfnissen der Menschen richten, Qualifikationen und Interessen berücksichtigen sowie natürlich menschengerecht entlohnt sein. Doch was nützen diese Bekenntnisse, wenn man etwa bedenkt, dass jährlich zur Winterzeit darüber diskutiert wird, Erwerbslose zum Schneeschippen abzukommandieren? Auch sei daran erinnert, dass die Wirtschaftsweisen im Jahre 2010 einen Arbeitszwang unter dem Begriff »Bürgerarbeit« vorschlugen. Die Gefahr, dass eine Jobgarantie zur Zwangsarbeit mutiert, ist durchaus real. Und hierzu bedarf es einer bewussten Distanzierung und Klarstellung. Doch genau diese fehlt häufig in der öffentlichen Debatte.
Ein zentrales Problem in der Auseinandersetzung mit dem BGE ist die Wirkmächtigkeit des marktfundamentalistischen Erwerbsmythos: Menschen sollen dazu gezwungen sein, sich durch den Verkauf ihrer Arbeitskraft am Leben zu halten. Überleben durch Lohnarbeit, das ist die Devise. Deshalb erscheint jedes Maß an Emanzipation von diesem Erwerbszwang als suspekt.
Dieses marktfundamentalistische Erwerbsparadigma ist offenbar auch unter vielen Gegnern des BGEs verbreitet. Einzelne scheinen das zu ahnen und betonen deshalb den sozialen Aspekt der Erwerbsarbeit. Der ist auch nicht von der Hand zu weisen: In einer Gesellschaft, in der die Menschen sich so sehr über Erwerbsarbeit definieren, hat die Erwerbsarbeit natürlich auch eine sozial-integrative Funktion. Ohne Erwerbsarbeit sind die Menschen dann tatsächlich isoliert und drohen zu vereinsamen. Nur macht das die real existierende Lohnarbeit noch lange nicht zum »social happening«. Im Gegenteil, die Betonung des sozialen Charakters von Erwerbsarbeit wirkt zynisch gegenüber Fällen, in denen die realen Arbeitsbedingungen – niedrige Entlohnung, unbezahlte Überstunden, Befristungen – als belastend empfunden werden.
Den Vertretern von existenzsichernden BGE-Modellen geht es um die Emanzipation vom Zwang, solch prekäre Arbeitsverhältnisse dulden zu müssen. Es ist deshalb ein grundlegendes Missverständnis, den BGE-Konzepten zu unterstellen, sie würden Lohnarbeit abschaffen wollen. Das ist nicht der Fall.
Genauso wenig verfolgen die Ideen existenzsichernder BGEs das Ziel, die Erwerbslosen lediglich zu sedieren. Dieser Vorwurf ist haltlos, denn diese BGE-Konzepte zielen gerade darauf ab, Menschen die Möglichkeit zu eröffnen, eigenständig tätig zu werden und sich weiterzuentwickeln. Eine Ruhigstellung wäre dagegen auch eine Form der Fremdbestimmung, die Vertreterinnen der BGE-Konzepte ablehnen würden. Die BGE-Konzepte dürfen also nicht fälschlicherweise auf die reine Auszahlung von Sozialtransfers reduziert werden. Tatsächlich gehört ein starker Sozialstaat, der verschiedene öffentliche Dienstleistungen anbietet und dazu befähigt, das Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen, dazu.
Ein Aspekt des BGEs, der in den öffentlichen Diskussionen kaum zur Sprache kommt, ist der Bereich der Sorgearbeit. Das betrifft die überwiegend an Frauen »delegierte« und unbezahlte Arbeit wie Pflegetätigkeiten, Essenszubereitung sowie die Erziehung und Betreuung von Kindern. In ihrem Essay über Care-Politik als Zeit-Politik hält Teresa Bücker dazu fest: »Care-Arbeit ist buchstäblich überlebensnotwendig. Sie ist die Grundlage des Lebens, und alles andere baut auf ihr auf.«
Es gibt viele Probleme, die sich hierzu diskutieren lassen. Zum Beispiel, dass diese Tätigkeiten wenig Anerkennung erfahren und teils völlig ausgeblendet werden. Als einen wichtigen Punkt stellt Teresa Bücker heraus, »dass der zeitliche Aufwand von privater Care-Arbeit es schon jetzt erfordert, den zeitlichen Umfang von Erwerbsarbeit so neu zu verteilen, dass eine Vollzeiterwerbstätigkeit deutlich weniger als 40 Stunden umfasst.«
Kritisiert wird damit nicht nur, dass die bestehenden Löhne fehlkalkuliert sind, sondern dass ebenso ein falsches Verständnis von Arbeitszeit und Arbeitsschutz vorliegt. Denn um der privaten Care-Arbeit angemessen nachgehen zu können, müsste bei gleichem Lohn weniger gearbeitet werden. Es bräuchte, so Teresa Bücker, eine »neue Zeitkultur«. Dem steht aber der dominante marktfundamentalistische Erwerbsmythos entgegen. Damit beleuchtet die Care-Perspektive einen weiteren Aspekt der Emanzipation vom Erwerbsmythos, auf den die BGE-Konzepte abzielen. Die bedingungslose Existenzsicherung des BGEs schafft in dem Kontext die Voraussetzungen dafür, Erwerbsarbeit und Sorgearbeit anders zu verteilen. Das BGE zielt auf die Möglichkeit ab, selbstbestimmt die Arbeitszeit zu reduzieren, um ausreichend Zeit für private Care-Arbeit zu haben.
Natürlich braucht es nicht die BGE-Ideen, um über Arbeitszeitverkürzung und Care nachzudenken. Der springende Punkt ist aber, dass das Thema Sorgearbeit seinen festen Platz in der Auseinandersetzung mit dem BGE hat. Wer sich ernsthaft mit den BGE-Ideen auseinandersetzt, kommt also an der Sorgearbeit nicht vorbei. Bei den »Alternativen«, die »dem« BGE entgegengehalten werden, wird der Aspekt der Sorgearbeit aber meist ausgeklammert. Dort steht dem Nachdenken über Zeitsouveränität und privater Sorgearbeit meist ein tief verinnerlichter Erwerbsmythos im Weg.
Vermutlich ist es auch dieser Erwerbsmythos, der für die Vehemenz und den blinden Eifer sorgt, mit dem bisweilen gegen das BGE argumentiert wird. Problematisch sind dabei nicht nur die eingangs erwähnten verzerrten Vorstellung vom BGE, sondern vielmehr, dass die kategorische Ablehnung des BGEs die Debatte um soziale Sicherungssysteme abwürgt. Dann kann es passieren, dass Vorschläge zum sozialen Sicherungssystem automatisch mit einem BGE assoziiert und deshalb ausgeschlagen werden.
Da die BGE-Konzepte eine Emanzipation vom existenziellen Zwang zur Erwerbsarbeit anstreben, trifft das im Grunde auf alle Vorschläge zu, die diesen Erwerbszwang etwas lockern sollen – zum Beispiel durch die Erhöhung von Regelsätzen oder die Abschaffung von Sanktionen, die Sozialtransfers in existenzbedrohlichem Maße kürzen. So wird dann etwa die Abschaffung von solchen Sanktionen im Hartz-IV-System allein deswegen ausgeschlagen, weil Hartz IV ohne Sanktionen einem BGE gleichkäme. Diesen Einwand hat zum Beispiel der Ökonom Peter Bofinger vorgebracht, als er nach den Sanktionen gefragt wurde, mit denen sich 2019 das Bundesverfassungsgericht befasste.
Natürlich ist es richtig, dass die Lockerung des Erwerbszwangs einen Schritt in Richtung BGE bedeutet. Das geschieht zwangsläufig, wenn ein durch den Erwerbsmythos geprägtes Sozialsystem humanisiert werden soll. Das heißt aber weder, dass mit solchen Lockerungen ein BGE eingeführt wird, noch dass solche Lockerungen falsch sind. Reformen, die das Ziel haben, das Sozialsystem menschenwürdiger zu gestalten, stehen dann nur quer zum Erwerbsmythos. Und der wirkt als Schere im Kopf.
Die hier geäußerten Kritikpunkte an den »Alternativen« zu den Ideen des BGEs sollten nicht als deren kategorische Ablehnung missverstanden werden. Diese weisen zwar Probleme auf, so zum Beispiel die mangelnde Glaubwürdigkeit oder die zum Teil beharrliche Glorifizierung der Erwerbsarbeit. Doch auch die BGE-Konzepte wissen nicht auf alle Fragen eine Antwort. Zielführender wäre es, die verschiedenen Vorschläge zusammenzudenken: Warum nicht ein soziales Sicherungsnetz aus BGE und Jobgarantie fordern, das durch einen echten Mindestlohn flankiert wird? Denn BGE und Jobgarantie schließen sich nicht grundsätzlich aus. Außerdem sehen sich die unterschiedlichen Vorschläge zur Verbesserung des Sozialstaats ähnlichen Problemen und Kritiken gegenübergestellt. Das trifft zum Beispiel auf den Vorwurf zu, dass ein BGE zu teuer und nicht finanzierbar wäre. Genau dieses Argument bekommen auch jene zu hören, die eine Anhebung des Regelsatzes für Bezieherinnen und Bezieher des Arbeitslosengeldes II fordern.
Eine ernsthafte Auseinandersetzung zwischen den BGE-Ideen und seinen Alternativen würde vermutlich viel mehr Anknüpfungspunkte ans Licht bringen, als die polarisierende Debatte vermuten lässt – gerade auch deshalb, weil die BGE-Ideen und ihre Gegenvorschläge noch in der Entwicklung sind und Blindflecken aufweisen. Nüchtern betrachtet müssen deshalb wohl alle Beteiligten die einen oder anderen Abstriche von ihren ursprünglichen Konzepten hinnehmen. Dabei wäre es klug, nicht in Kategorien wie »Überlegenheit« oder »Unterlegenheit« zu denken. Denn darum geht es nicht, sondern um praktische Lösungen für reale Probleme von echten Menschen.
Dennoch lässt sich festhalten, dass die existenzsichernden BGE-Ideen dafür eine sozialreformerische Orientierung bieten, an der kein Weg vorbeiführt. Das hat im Wesentlichen drei Gründe: Erstens steht bei diesen BGE-Ideen der universelle und absolute Anspruch auf ein menschenwürdiges Dasein so stark im Zentrum wie bei keinen der anderen Konzepte. Zweitens sind die Alternativen – Sozialstaat, Mindestlohn, Jobgarantie – mit erheblichen Glaubwürdigkeits- und Akzeptanzproblemen behaftet. Und drittens ist in den BGE-Debatten eine Emanzipation vom marktfundamentalistischen Erwerbsmythos anvisiert, die ein Leben in Zeitsouveränität und selbstbestimmter privater Sorgearbeit ermöglichen will.
Am Ende einer konstruktiven Auseinandersetzung wird es dann wohl nicht auf ein reines BGE hinauslaufen. Vermutlich würde es in einem Ausbau des Sozialstaats münden, der sich an BGE-Ideen orientiert. Dieser Punkt ist zentral. Es braucht diese sozialreformerischen BGE-Ideen als Leitbilder, um den Sozialstaat, der in der Vergangenheit erheblich an Vertrauen und Glaubwürdigkeit eingebüßt hat, neu zu erfinden. Dann ist ein Sozialstaat denkbar, der ohne existenzbedrohliche Sanktionen auskommt und sich durch eine Bedürftigkeitsprüfung auszeichnet, die niedrigschwellig und nicht stigmatisierend ist. Dieser könnte dann mit einer Jobgarantie, echten Mindestlöhnen und einem zweiten Arbeitsmarkt flankiert sein. Zusammengenommen würde das vielen Menschen in prekären Lebenssituationen tatsächlich helfen.
Sebastian Thieme ist promovierter Diplom-Volkswirt. Seine Arbeitsschwerpunkte in Forschung und Lehre sind Subsistenz als Wirtschaftsmotiv, Wirtschaftsethik, Plurale Ökonomik, Sozialökonomik und ökonomische Misanthropie.
Sebastian Thieme ist promovierter Diplom-Volkswirt. Seine Arbeitsschwerpunkte in Forschung und Lehre sind Subsistenz als Wirtschaftsmotiv, Wirtschaftsethik, Plurale Ökonomik, Sozialökonomik und ökonomische Misanthropie.