21. Juli 2022
Spanien hat kürzlich das Abtreibungsrecht liberalisiert und plant, ein Recht auf Krankentage bei Regelschmerzen einzuführen. Wie man feministische Ziele gegen Kapitalinteressen durchsetzt, erklärt Podemos-Ministerin Irene Montero im JACOBIN-Interview.
Spaniens Gleichstellungsministerin Irene Montero in Madrid, 21. Juli 2021.
Zu einem Zeitpunkt, in dem Frauenrechte in den USA massiv angegriffen werden, erscheinen die feministischen Fortschritte in Spanien überraschend. Zu den kürzlich eingebrachten Gesetzesvorschlägen gehören eine weitere Liberalisierung des Rechts auf Abtreibung, bezahlte Freistellung von der Arbeit während der Menstruation, eine Ausweitung der Bildung über sexuelle und reproduktive Rechte und vieles mehr.
Diese Fortschritte sind Spaniens starken feministischen Bewegungen zuzuschreiben. Sie sind auch das Resultat einer Regierung, in der sich zwischen der sozialistischen Partei und der Partei Unidas Podemos, die seit 2020 an der Regierung ist, ein Linksbündnis gebildet hat.
Irene Montero, Abgeordnete der Partei Podemos und Gleichstellungsministerin seit 2020, ist eine führende Verfechterin dieser Politikvorschläge. JACOBIN hat mit ihr über die feministischen Fortschritte in Spanien und den Stand der Frauenrechte in den USA gesprochen.
Wie ist es momentan um Frauenrechte in Spanien bestellt? Welche Fortschritte konnten während Deiner Regierungszeit erzielt werden und was gilt es noch zu erreichen?
Wir kommen sehr gut voran, wir stärken die Rechte von Frauen und LGBTQ-Personen und weiten sie weiter aus. Dies ist vor allem der starken internationalen feministischen Bewegung zu verdanken, die es geschafft hat, wichtige Vorschläge zu formulieren, die Frauen in all ihrer Diversität adressieren: Frauen mit besonderen Bedürfnissen, rassifizierte Frauen, arme Frauen und LGBTQ-Personen. Sie alle leiden auf unterschiedliche Art und Weise unter derselben patriarchalen Gesellschaft.
»Wenn wir unsere Demokratien erhalten wollen, dann zeigt uns die Krise der Care-Arbeit, dass wir feministische Rechte in den Mittelpunkt unserer sozialen Agenda stellen müssen.«
Frauenrechte sind eine Frage von Menschenrechten: Alle Frauen und alle LGBTQ-Personen sollten das Recht haben, in Frieden und ohne Diskriminierung zu leben. Aber der internationale Kontext erscheint ebenso wichtig: Spanien, Europa, die USA und andere Länder befinden sich in einer tiefen Krise des Kapitalismus. Diese findet nicht nur Ausdruck in dem Gegensatz von Kapital und Arbeit – Prekarität, niedrige Löhne, Arbeitslosigkeit und Leiharbeit. Diese Krise verdeutlicht auch, dass wir diese Form der Organisation der Wirtschaft und des gesellschaftlichen Lebens unmöglich weiter so beibehalten können.
Der Planet kann unter dem aktuellen neoliberalen Kapitalismus nicht weiter existieren. Letzterer kennzeichnet sich durch einen sich vertiefenden Widerspruch zwischen der Art, wie wir die Wirtschaft organisieren, und der Art, wie wir das Leben organisieren. Die Pandemie hat gezeigt, dass sogar die am weitesten entwickelten Wirtschaften plötzlich paralysiert sein können, und dass Care-Arbeit dennoch verrichtet werden muss. Wir müssen weiterhin das Bad putzen, Einkäufe erledigen, auf Kinder aufpassen und Kranke versorgen. Wenn wir unsere Demokratien stärken und erhalten wollen, dann zeigt uns diese Krise der Care-Arbeit, dass wir feministische Rechte in den Mittelpunkt unserer sozialen Agenda stellen müssen. Feministische Rechte sind nicht bloß eine Frage der Menschenrechte, sondern sie sind die Basis für eine Reorganisation der Wirtschaft, die mit unserem Leben kompatibel ist.
Wie werden diese Themen in Deiner Partei und der Regierungskoalition diskutiert?
Im Zentrum steht dabei etwas, das wir »Politiken der Care-Arbeit« nennen. Bis jetzt hat der Staat institutionell nie die Reinigung der Wohnung oder das Versorgen der Kinder als eine zu entlohnende Arbeit anerkannt: Die Regierungen haben einfach angenommen, dass die Familien diese Aufgabe erledigen müssen. Diese grundlegenden Tätigkeiten, die unser Leben und unsere Wirtschaft organisieren, wurden privatisiert und ins Innere der Familien verlagert. In der Konsequenz hatten Frauen einen doppelten oder gar dreifachen Arbeitstag – und das auf Kosten ihrer Gesundheit. Viele Frauen hörten beispielsweise auf, zum Arzt zu gehen, sich auszuruhen, zu schlafen, ins Kino zu gehen, zu lesen oder Freundinnen und Freunde zu treffen – einfach weil dafür keine Zeit mehr blieb.
Während der schlimmsten Phase der Coronapandemie haben wir zum ersten Mal überhaupt eine staatliche Politik der »Vermittlung« in unserem Land eingeführt. Frauen konnten ihre Kinder an einem öffentlichen Ort betreuen lassen und die freie Zeit für sich selbst nutzen. Sie konnten einen Job suchen, arbeiten gehen oder einen Kaffee trinken oder ein Konzert besuchen. Auf der anderen Seite bedeutet diese Politik der Vermittlung auch, die Arbeit derer, die auf die Kinder aufpassen, zu würdigen und als essenziell für die Gesellschaft anzuerkennen. Diese Personen verdienen einen gerechten Lohn und bessere Arbeitsbedingungen.
Zusätzlich hat die Ministerin für soziale Rechte, Ione Belarra, daran gearbeitet, die Kürzungen bei den Sozialausgaben rückgängig zu machen, um die staatliche Sozialpolitik auszuweiten, damit das Recht, Pflegearbeit zu verrichten oder gepflegt zu werden, auf der gleichen Ebene steht wie das Recht auf Gesundheit und Bildung
Care-Arbeit sollte ein staatlich anerkanntes Recht sein, damit die Last dafür nicht auf den Schultern der Frauen ruht, die Gefahr laufen, in Armut abzurutschen, und denen es schwerer gemacht wird, einer Vollzeitbeschäftigung nachzugehen und ihre eigenen Rechte zu schützen.
Wie schätzt Du das Verhältnis zwischen den feministischen Bewegungen auf der Straße, Deiner Partei und der Regierungskoalition ein?
Der Weg ist voller Fort- und Rückschritte. Das Verhältnis zwischen sozialen Bewegungen und Regierungen ist immer angespannt. Manchmal ist diese Anspannung positiv, manchmal führt sie zu Konflikten. Ich glaube, die progressiven Kräfte haben zwei Hauptaufgaben, wenn sie an der Regierung sind. Eine davon ist es, den Forderungen der Bewegungen Rechnung zu tragen. In diesem Fall betrifft das vor allen Dingen die feministischen Bewegungen, die im Vergleich zu anderen Organisationen der Zivilgesellschaft nicht viel Aufmerksamkeit bekommen haben. Die feministische Bewegung hat sich immer gegen die Regierungspolitik gestellt, weil sie Frauen ignoriert hat. Das bedeutet, wir lernen gerade, eine Beziehung aufzubauen. Die aktuelle spanische Regierung hat sich selbst als eine feministische Regierung bezeichnet, und ist bereit, den Frauen zuzuhören. Das ist in der Geschichte Spaniens einmalig. Die erste Aufgabe der Progressiven besteht also darin, zuzuhören und öffentliche Maßnahmen und Gesetze durchzusetzen, die den Forderungen der Frauenbewegung entsprechen.
»Wir können nicht frei sein und auch nicht von uneingeschränkter Demokratie sprechen, wenn die Menschen keinen Zugang zu Gesundheitsversorgung haben und wenn ihr Leben nicht frei von geschlechtsspezifischer Gewalt ist.«
Zweitens glaube ich, dass wir als progressive Regierung die wichtige Aufgabe haben, die Aktionen der Zivilgesellschaft zu schützen und zu legitimieren, auch wenn sie der Regierung kritisch gegenüberstehen. Ich glaube, dass eine fortschrittliche Regierung nie vergessen darf, dass die demokratischen Veränderungen, die sie anstrebt, durch den Aufbau von Macht in der Gesellschaft erreicht werden.
Natürlich haben auch die Institutionen Macht. Deshalb ist Podemos entstanden: Es ging darum, innerhalb der Regierung Macht auszuüben. Über die acht Jahre hinweg haben wir es geschafft, die erste Koalitionsregierung in der Geschichte Spaniens zu bilden. Aber die Macht ist genauso auch in der Zivilgesellschaft zu Hause, und die Geschichte hat gezeigt, dass sich die großen demokratischen Umwälzungen dann vollziehen, wenn sich die gesamte Gesellschaft mobilisiert. Deswegen ist es eine wichtig Aufgabe von politischen Kräften wie Podemos, die mobilisierte Gesellschaft zu schützen und ihr Legitimität zu verleihen – besonders dann, wenn sie in der Regierung sind.
Kannst Du uns ein wenig über Spaniens Rechte erzählen? Ich habe gehört, dass die feministische Agenda von rechts angegriffen wurde.
Um die Rechte in Spanien zu verstehen, ist es wichtig sich Tendenzen anzuschauen, die wir in Europa, Lateinamerika und auch in den USA beobachten können. Seit 2008 hat die Finanzkrise zu einem neuen Bewusstsein und einem Umdenken in vielen Bevölkerungsschichten westlicher Länder geführt. Die Menschen haben verstanden, dass unser Leben nicht in den Händen von Politikerinnen und Bänkern liegen darf, und das es Rechte gibt, die nicht der Logik des freien Marktes unterworfen sein dürfen. Dieses Erwachen hat einen demokratisierenden Impuls gehabt, der seinen Ausdruck in sozialen Bewegungen und neuen Parteien fand, und zu historischen Siegen geführt hat, so zuletzt in Lateinamerika mit den linken Regierungen von Gabriel Boric in Chile und Gustavo Petro in Kolumbien.
Währenddessen haben wir in Spanien die erste Regierung einer Koalition in unserer demokratischen Geschichte gehabt; es ist das erste Mal, dass eine Kraft links von der sozialistischen Partei an der Regierung war. Wir haben zu einem wichtigen demokratischen Fortschritt beigetragen. Ohne Frage war die feministische Bewegung die Vorreiterin der jüngsten Transformationen. Und diese Veränderungen haben eine Reaktion hervorgerufen.
Wir erleben gerade eine Situation, in der viele Reaktionäre auf der ganzen Welt um Macht kämpfen, und der politische Arm dieser Kräfte ist von der extremen Rechten dominiert. Ich spreche lieber von Reaktionären als von Rechten, da sie über ganz andere politische Werkzeuge verfügen als die extreme Rechte. Sie können sich zum Beispiel die Massenmedien oder die juristische Staatsgewalt zunutze machen und dort direkt dafür sorgen, dass demokratische Standards untergraben werden.
In Spanien hat die Justiz etwa noch nie feministische Politiken unterstützt – weder heute noch zu der Zeit des [ehemaligen Presidenten] José Luis Rodríguez Zapatero, dessen Regierung ebenfalls versucht hat, Frauenrechte und feministische Politik voranzutreiben. Die juristische Gewalt war noch nie offen für solche Vorschläge.
Diese reaktionären Kräfte, die immensen Einfluss haben, sind besser organisiert und sie haben Frauen und LGBTQ-Personen zur Zielscheibe gemacht. Sie sind eine Art Gegenreaktion auf demokratischen Fortschritt und die meisten von uns sind nach wie vor der Meinung, dass die Welt mehr und nicht weniger Demokratie braucht: mehr zivile Rechte, mehr politische Rechte und – am wichtigsten – mehr ökonomische Rechte.
Wir können nicht frei sein und auch nicht von uneingeschränkter Demokratie sprechen, wenn die Menschen keinen Zugang zu Gesundheitsversorgung und Bildung haben, wenn ihr Leben nicht frei von geschlechtsspezifischer Gewalt ist und wenn ihnen die Rechte, die das Leben selbst und die Ausübung von Freiheit erst ermöglichen, nicht gewährt werden.
Trotz aller feministischen Fortschritte in Spanien scheint es mir, als gäbe es dennoch Ähnlichkeiten mit den Geschehnissen in den USA. Die New York Times berichtete kürzlich, dass sich die Abtreibungsgesetze in Spanien zwar in eine progressive Richtung bewegen, es aber immer noch Ärztinnen und Ärzte gibt, die sich weigern, den Eingriff vorzunehmen, so dass die Verfügbarkeit von Abtreibungen in Spanien bestenfalls lückenhaft ist. In den USA ist die Situation in gewisser Weise ähnlich, denn nach dem Urteil in der Rechtssache »Roe v. Wade« ist der Schwangerschaftsabbruch in einigen Bundesstaaten legal, in anderen nicht.
Bevor das neue Gesetz in Spanien verabschiedet wurde, war der Zugang zu dem Eingriff dadurch eingeschränkt, dass es keine Regelungen für Personen gab, die sich selbst als »Verweigerer aus Gewissensgründen« bezeichneten. Das sind also Personen, die sich weigerten, einen freiwilligen Schwangerschaftsabbruch vorzunehmen. Aufgrund dieser fehlenden Regelung mussten viele Frauen in eine andere, oft weit entfernte Provinz reisen.
Das neue Gesetz versucht jetzt diese Situation dadurch zu ändern, dass alle öffentlichen Krankenhäuser zur Anlaufstelle für Personen werden, die freiwillige Schwangerschaftsabbrüche durchführen wollen. Das bedeutet, alle Frauen können an dem naheliegendsten Krankenhaus eine Abtreibung vornehmen lassen. Das Gesetz sieht außerdem vor, dass auch Pflegepersonal – nicht nur Ärztinnen und Ärzt – den Eingriff durchführen dürfen, wenn das erwünscht ist.
Alle Angehörigen des Gesundheitswesens haben ein verfassungsmäßiges Recht auf Verweigerung aus Gewissensgründen, aber dieses Recht muss so geregelt werden, wie es in Spanien mit der Euthanasie gehandhabt wird. Alle Angehörigen des medizinischen Personals, die sich weigern, werden in ein Register eingetragen. Dadurch kann garantiert werden, dass Krankenhäuser durch die Arbeitspläne sicherstellen können, dass immer eine Person anwesend ist, die einen freiwilligen Schwangerschaftsabbruch durchführen würde.
Es ist wichtig, verlässliche Informationen zu haben. Wir haben uns mit der gleichstellungspolitischen Beraterin des Gouverneurs von New York getroffen. Das Wichtigste ist jetzt, dass Frauen Zugang zu klaren Informationen haben, um den Fehlinformationen, die von Reaktionären verbreitet werden, etwas entgegenzusetzen. Für Frauen ist es wichtig zu wissen, welche Gesetze in ihrem Staat (oder Land) gelten und wie sie Zugang zu einem sicheren Schwangerschaftsabbruch erhalten.
In Momenten wie diesen müssen wir zusammenzustehen. Wir müssen von dem gemeinsamen Verständnis ausgehen, dass wir alle dafür verantwortlich sind, etwas dagegen zu tun, wenn die Rechte von Frauen irgendwo auf der Welt angegriffen werden. Wenn wir nicht ein Höchstmaß an Rechten für alle Frauen erreichen, werden wir immer der Gefahr von Rückschlägen und Rechtsverletzungen ausgesetzt sein. Jetzt ist es an der Zeit, ganz klar zu zeigen, dass Feministinnen die Mehrheit bilden und dass wir für alle Frauen das Gleiche wollen.
Wie schätzt Du die aktuelle Situation in den USA ein? Was würdest Du der dortigen die feministischen Bewegung raten?
Die feministische Bewegung in den USA war immer ein Referenzpunkt für uns in Spanien. Sie ist ein essenzieller Teil der Frauengeschichte und der feministischen Bewegung allgemein. Ich habe große Hoffnungen, sowohl für den internationalen Feminismus, als auch die feministischen Bewegungen in Spanien. Wir waren positiv überrascht, denn viele Mitglieder der jetzigen Koalition kamen aus der politischen Geschichte von Podemos. Sie hatten also einen aktivistischen Hintergrund. Jetzt, wo wir an der Regierung sind, haben wir viele Ziele der sozialen Bewegungen umgesetzt. Spanien ist zu einem Maßstab für die Gewährleistung von Frauenrechten geworden. Das ist ein Verdienst unserer Arbeit und der spanischen Frauenbewegung.
Genauso wie die spanischen Feministinnen von anderen gelernt haben, sind jetzt wir in einer Position, in der wir zu diesem gemeinsamen Erfahrungsschatz beitragen können. Wir müssen anderen helfen, wo wir nur können. Und das sage ich mit dem größten Respekt vor der feministischen Bewegung in den USA, die ein internationales Leuchtfeuer ist.
Ich bin mir sicher, dass die feministische Bewegung in den USA die Verletzungen ihrer Rechte nicht zulassen wird. Sie wird nicht zulassen, dass das Recht über den eigenen Körper in den Händen von einer staatlichen Institution liegt – vor allem weil dieses Recht das Einfallstor für alle anderen Rechte ist. Wenn eine Frau nicht entscheiden kann, wann sie Mutter werden will, ob sie überhaupt Mutter werden will oder welche Verhütungsmittel sie benutzt, dann ist es für sie viel schwieriger, einen Arbeitsplatz zu finden, Gesundheitsversorgung zu erhalten, kulturell aktiv zu sein oder Freizeit zu haben. Aber wir haben großes Vertrauen in die Frauenbewegung.
Micah Uetricht ist stellvertretender Herausgeber der US-Ausgabe von JACOBIN und Moderator des JACOBIN-Podcasts The Vast Majority. Er ist Autor von Strike for America: Chicago Teachers Against Austerity und Ko-Autor von Bigger than Bernie: How We Go from the Sanders Campaign to Democratic Socialism.