27. Juli 2023
Vor der Wahl am Sonntag sah es danach aus, dass auch in Spanien Rechtsextreme an die Regierung kommen würden. Doch die linken Parteien konnten genug Stimmen mobilisieren, um ihre Errungenschaften für die Arbeiterschaft zu verteidigen.
Pedro Sánchez hat Grund zum Feiern.
IMAGO / Alberto GardinDas Ergebnis der spanischen Parlamentswahl vom vergangenen Sonntagabend sind eine große Erleichterung. Die konservativen und rechten Parteien haben keine absolute Mehrheit erreicht; die rechtsextreme Vox von Santiago Abascal wird nicht Teil der zukünftigen Regierung Spaniens. Das war keine Selbstverständlichkeit, wenn man die Niederlage der progressiven Parteien bei den Kommunalwahlen vor nur acht Wochen und die Meinungsumfragen vor den Parlamentswahlen bedenkt. Diese hatten einen regelrechten Erdrutschsieg der Rechten vorhergesagt.
Der Wahlausgang kann als großer Sieg in einem Europa betrachtet werden, das aktuell von einer reaktionären Welle überrollt wird. Nach Rom, Stockholm und Helsinki sollte die Eroberung von Madrid die nächste Etappe einer Strategie sein, die die rechtsextreme italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni und der Vorsitzende der konservativen Europäischen Volkspartei Manfred Weber vorantreiben.
Meloni und Weber scheinen mit nationalen Erfolgen die Voraussetzungen für ein stabiles Bündnis ihrer beiden rechten Flügel im Europäischen Parlament im kommenden Jahr schaffen zu wollen. Das Schweigen dieser beiden Akteure am Tag nach der Abstimmung in Spanien war bezeichnend – ebenso wie das zufriedene Lächeln vieler anderer auf den Fluren der Schaltzentralen in Brüssel. Denn mit Blick auf die EU-Parlamentswahlen 2024 sind die Ergebnisse aus Spanien tatsächlich ein bedeutender, vielleicht sogar entscheidender Rückschlag für das konservativ-rechtsextreme Projekt.
Der wahre Gewinner der Wahlen in Spanien ist zweifelsohne Pedro Sánchez. Praktisch alle hatten den Vorsitzenden der sozialdemokratischen Partido Socialista Obrero Español (PSOE) sowie Premierminister der vergangenen fünf Jahre für politisch tot gehalten. Doch seine überraschende Entscheidung, Neuwahlen im Hochsommer auszurufen, erwies sich als erfolgreich. Während die Rechten das Gefühl hatten, die Wahl praktisch schon gewonnen zu haben, gelang es Sánchez, die linke Wählerschaft zu mobilisieren, die sich sorgte angesichts der Vorstellung, dass die extreme Rechte zum ersten Mal seit dem Ende der Diktatur Francisco Francos Teil der Regierung sein könnte.
Die in den vergangenen Wochen von der konservativen Partido Popular (PP) und der rechtsextreme Vox in mehreren Regionen und über hundert Gemeinden unterzeichneten Vereinbarungen haben den Spanierinnen und Spaniern deutlich gemacht, dass die Rechten kein reines Wahlkampf-Schreckgespenst sind, sondern eine echte Gefahr. Die ersten Maßnahmen der neuen ultrakonservativen Lokalregierungen stellen einen deutlichen Rückschritt gegenüber den Errungenschaften der Vorjahre dar: von der Leugnung geschlechtsspezifischer Gewalt und den Folgen des Klimawandels bis zur Infragestellung des Rechts auf Schwangerschaftsabbruch, vom Angriff auf den sprachlichen Pluralismus des Landes bis zur Zensur von Theaterstücken und Filmen. So wurden sogar Virginia Woolfs Orlando und Disneys Lightyear als mit den traditionalistischen Moralvorstellungen unvereinbar eingestuft.
Entgegen allen Erwartungen hat die PSOE von Sánchez im Vergleich zu 2019 eine Million Stimmen und zwei Parlamentssitze hinzugewonnen. Insgesamt holte die Partei 31,7 Prozent (oder 7,7 Millionen Stimmen) und 122 Sitze. Sánchez’ Erfolg wäre nicht möglich gewesen ohne die Unterstützung der von Arbeitsministerin Yolanda Díaz geführten Linkskoalition, der es (nach monatelangen Spannungen und Meinungsverschiedenheiten) gelang, den Raum zu besetzen, der zuvor von Unidas Podemos und linksradikalen Regionalkräften abgedeckt wurde. Zwar hat die neue Allianz Sumar im Vergleich etwa 600.000 Stimmen und sieben Sitze verloren, erhielt aber dennoch mehr als 12 Prozent der Stimmen und stellt somit 31 Abgeordnete. Damit konnte sie sich als ein politisches Lager konsolidieren, das über drei Millionen Wählerinnen und Wähler hinter sich vereint.
»Die rechtsextreme Vox ist im neuen Parlament absolut irrelevant.«
Es besteht kein Zweifel, dass der politische Prozess, der mit der Indignados-Bewegung während der großen Finanzkrise begann, inzwischen vorbei ist. Doch anders als in anderen Ländern ist die spanische Linke an ihrer Regierungsbeteiligung nicht zerbrochen; ganz im Gegenteil: Die progressive Koalition hat gezeigt, dass sie in einem hochkomplexen internationalen Umfeld (Stichwort Pandemie, Energiekrise, Krieg in der Ukraine) fähig ist, gut zu regieren.
Die makroökonomischen Daten sind mehr als positiv: Das BIP wächst stärker als der europäische Durchschnitt, die Inflation ist wieder unter 2 Prozent gesunken und die Arbeitslosigkeit ist auf dem niedrigsten Stand seit 2008. Die Regierung hat auch ihre Wahlversprechen von 2019 umgesetzt. Das zeigt sich sowohl in sozialpolitischen Maßnahmen – genannt seien hier die Anhebung von Mindestlohn und Renten, die Einführung eines Mindesteinkommens, der Kampf gegen die Prekarisierung der Arbeiterschaft – als auch in weltweit einzigartigen Gesetzen zu Feminismus, LGBTIQ-Rechten, Sterbehilfe, Klimawandel und in Spaniens »demokratischem Gedächtnis«.
Dabei sollte aber nicht außer Acht gelassen werden, dass es einen beachtlichen Teil der spanischen Bevölkerung gibt, der diese linke Politik nicht mittragen will. Die Polarisierung ist bereits seit einiger Zeit alarmierend, und die Rechte versucht, daraus Kapital zu schlagen – mit Kampagnen zur Delegitimierung ihrer Gegner, die in getreuer Trump-Manier mit Fake News und Verschwörungstheorien gespickt sind, bis hin zu der Behauptung, dass Briefwahlen genutzt werden, um die Wahl zu manipulieren.
Für die Rechten waren die Hauptthemen im Wahlkampf dann auch nicht die Wirtschaft oder der Krieg in der Ukraine, sondern Sánchez’ Übereinkommen mit den katalanischen und baskischen Unabhängigkeitsparteien sowie der klassische Kulturkampf, der der Rechten auf der ganzen Welt bekanntlich am Herzen liegt. Die Linke konnte dem jedoch etwas entgegensetzen, indem sie sowohl auf ihre Bilanz in der Regierung als auch auf das Modell eines pluralen, der Zukunft zugewandten Landes verwies. Die Wahlslogans sowohl von Vox-Chef Abascal als auch des Kandidaten der konservativen Partido Popular, Alberto Núñez Feijóo, beschränkten sich schlicht und einfach auf die »Abschaffung des Sanchismo«. Anders gesagt: Sánchez, dieser »Verräter der Nation«, müsse gestürzt und alle Gesetze, die von seiner »illegitimen« Regierung verabschiedet wurden, aufgehoben werden.
Angesichts der Prognosen in den Umfragen und unterstützt von diversen Medien, die den beiden Parteien nahestehen, fühlten sich die Rechten im Höhenflug. Mit 33 Prozent und 136 Abgeordneten war die PP tatsächlich die meistgewählte Partei und holte sich die Unterstützung der Wählerinnen und Wähler zurück, die sie in den vergangenen zehn Jahren an die (bei diesen Wahlen nicht angetretene) neoliberale Partei Ciudadanos verloren hatte. Die PP übertraf die Marke von acht Millionen Stimmen. Dies ist zum Teil auf eine »pragmatische Wahlentscheidung« gegen die Extreme zurückzuführen, die beiden Großparteien zugutekam: Während 2019 die Stimmenanteile der PP und der PSOE zusammen unter 50 Prozent lagen, erreichten sie dieses Mal 65 Prozent.
Für Feijóos PP ist es ein Pyrrhussieg. Sie schaffte es weder aus eigener Kraft, die absolute Mehrheit im Parlament (176 Sitze) zu erringen, noch hätte es mit der Unterstützung von Vox gereicht. Tatsächlich geht die rechtsextreme Vox als klarer Verlierer vom Platz. Zwar konnte die Basis von rund drei Millionen Stimmen mehr oder weniger gehalten werden, aber bei Vox hatte man sich sehr viel mehr erhofft. Die erzielten 12,4 Prozent bedeuten, dass die Partei mehr als 600.000 Stimmen verloren hat und künftig nur noch 33 statt 52 Parlamentsabgeordnete stellt.
Noch wichtiger ist, dass Vox im neuen Parlament absolut irrelevant ist. Die verbleibenden Sitze gehen an eine Reihe nationalistischer Regionalparteien. Keine dieser Parteien würde sich jemals mit Vox verständigen können, da letztere nicht nur eine drastische Re-Zentralisierung der spanischen Regierungsstrukturen, sondern sogar die Abschaffung der (in der Verfassung festgeschriebenen) regionalen Autonomierechte sowie ein Verbot von Unabhängigkeitsparteien fordert.
Wenn auch der Wahlausgang relativ klar ist, bedeutet dies nicht, dass die Regierungsbildung einfach wird. Mit dem Resultat lässt sich zunächst einmal ausschließen, dass es eine konservativ-rechte Regierung geben wird. Zweitens wird sich die PSOE nicht enthalten und eine Minderheitsregierung der PP tolerieren. Drittens hat es in Spanien noch nie eine große Koalition gegeben und dass es nun zu einer kommt, erscheint angesichts der Polarisierung im Land noch unwahrscheinlicher. Zwar betont PP-Chef Feijóo weiterhin, dass dies eine Möglichkeit sei, faktisch erkauft er sich damit aber nur selbst etwas Zeit und zögert damit hinaus, dass seine Partei ihn durch die Präsidentin der Region Madrid, Isabel Díaz Ayuso, ersetzt. Diese gilt der neue Star des iberischen Trumpismus.
Somit bliebe die einzige Option eine progressive Minderheitsregierung aus PSOE und Sumar unter Führung von Pedro Sánchez, also praktisch eine Fortführung der Regierung der vergangenen vier Jahre.
Allerdings gibt es dabei einen möglicherweise entscheidenden Unterschied: Die beiden Parteien haben im Vergleich zu 2019 fünf Sitze weniger und sind damit nicht mehr nur auf die Unterstützung der baskischen und galizischen Regionalparteien sowie der Republikanischen Linken Kataloniens (ERC) angewiesen, sondern auch auf eine Enthaltung von Junts per Catalunya.
Diese konservative Pro-Unabhängigkeitspartei unter der Führung von Ex-Regionalpräsident Carles Puigdemont – der 2017 nach dem gescheiterten Referendumsversuch nach Belgien geflohen war – hat konsequent gegen die bisherige Sánchez-Regierung gestimmt und mehrfach betont, sie werde eine Regierungsbildung in Madrid, welcher Couleur auch immer, nicht unterstützen. Bisher verfolgt sie die Strategie »je weniger in der Hauptstadt funktioniert, desto besser«. Konkret könnte das heißen, dass Junts eine möglichst rechte Regierung in Madrid sogar präferieren würde, da deren harte Haltung gegenüber separatistischen Bewegungen den Effekt haben könnte, dass Junts daheim in Katalonien noch mehr Unterstützung erfährt.
»Wenn es Sánchez gelingt, eine neue Regierung zu bilden, wird die nächste Legislaturperiode ein langer, harter Kampf. Es wird bei jedem Gesetz enorme Anstrengungen erfordern, um eine Mehrheit zusammenzubringen.«
Somit sind die sieben Abgeordneten von Junts nun das Zünglein an der Waage. Sie werden letztendlich entscheiden, ob Spanien für vier weitere Jahre eine progressive Regierung bekommt. Die letzte Alternative ist eine Neuwahl innerhalb der nächsten sechs Monate. Auch das wäre in Spanien nicht ungewöhnlich: Sowohl 2016 als auch 2019 kam es dazu.
Die Partei von Puigdemont – der einerseits EU-Parlamentsmitglied ist, andererseits nach Ansicht der spanischen Justiz auf der Flucht vor dem Gesetz – wird wahrscheinlich ein Referendum über die katalanische Selbstbestimmung und eine Amnestie für alle katalanischen Unabhängkeitsaktivisten fordern, gegen die ein Strafverfahren eingeleitet wurde. Das sind inakzeptable Bedingungen für Sánchez, dem es in den vergangenen Jahren immerhin gelungen ist, die Konflikte zwischen Barcelona und Madrid etwas zu besänftigen, indem er sich für einen Dialog im Rahmen der bestehenden Gesetze und der Verfassung einsetzte.
Während er von der spanischen Rechten (und den kompromisslosesten Teilen der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung) für diesen Dialog scharf angefeindet wurde, hatte seine progressive Exekutive die 2019 verurteilten Rädelsführer tatsächlich begnadigt. Außerdem hat sie das Strafgesetzbuch geändert und den anachronistischen Straftatbestand der »Aufwiegelung« abgeschafft, der von der spanischen Justiz verwendet wurde, um harte Gefängnisstrafen gegen katalanische Politiker zu verhängen, die eine einseitige Unabhängigkeitserklärung angestrebt hatten.
Der Mut von Sánchez und seinen Regierungspartnern wurde von den katalanischen Wählerinnen und Wählern belohnt: Die PSOE war bei den Wahlen die führende Partei in der Region; Sumar die zweitstärkste. Die Unabhängigkeitsparteien hingegen erlitten schwere Rückschläge und verloren fast die Hälfte ihrer bisherigen Stimmen. So etwas wäre vor einigen Jahren noch undenkbar gewesen.
Nach dem Wahlkampf geht es nun ans politische Tauziehen. Vor uns liegt ein Monat mit Verhandlungen und viel Lobbying. Einige werden jede Möglichkeit einer Einigung zunichte machen wollen, andere werden versuchen, bestehende Differenzen auszuräumen und Spanien eine neue Regierung zu verschaffen. Um zu sehen, welchen Handlungsspielraum Sánchez wirklich bekommt, müssen wir bis zum 17. August warten, wenn das neue Parlament zusammentritt. In den darauffolgenden Tagen werden die Parteichefs dann von König Felipe VI. empfangen und mit der Koalitionsbildung beauftragt. Die Parlamentsabstimmung zur Bestätigung einer neuen Regierung wird also nicht vor September stattfinden.
Doch selbst wenn es Sánchez gelingen sollte, eine neue Regierung zu bilden, wird die nächste Legislaturperiode ein langer, harter Kampf. Es wird bei jeder Verabschiedung eines Gesetzes enorme Anstrengungen erfordern, um eine Mehrheit zusammenzubringen. Und die rechten Parteien, die den Senat und die meisten Regionen kontrollieren, würden eine progressive Regierung in Madrid mit allen Mitteln, ob legal oder nicht, torpedieren. Dabei können sie auf die Unterstützung eines Mediennetzwerks bauen, das man unumwunden als spanische Version von Fox News, Breitbart und Co. bezeichnen kann.
Kurz gesagt: Es wird nicht einfach. Ebenso ist weiterhin denkbar, dass es in Spanien einmal mehr zu Neuwahlen kommt.
Dennoch sollten wir die Bedeutung dieser jüngsten Wahl nicht herunterspielen: Die Rechte ist geschlagen, die Schlacht um Madrid ist für die Linke gewonnen. Jetzt sind Intelligenz, Vernunft und Geschick gefragt, um Spanien weitere vier Jahre unter einer progressiven Regierung zu bescheren. Wenn dies gelingt, kann es für ganz Europa ein erfolgreiches Modell sein – und beweisen, dass die Rechte besiegt werden kann.
Steven Forti ist Professor für Neue Geschichte an der Universitat Autònoma de Barcelona. Sein jüngstes Buch trägt den Titel Extrema derecha 2.0. Qué es y cómo combatirla (Die extreme Rechte 2.0. Wer sie ist und wie wir sie bekämpfen).