21. Dezember 2025
Der Aufschrei über Bärbel Bas’ Kampfansage an die Arbeitgeber hat gezeigt: Die klassisch sozialdemokratische Sprache hat einen schweren Stand – und vereinzelte kämpferische Worte werden nicht ausreichen, um zu alter Überzeugungskraft zurückzukehren.

Früher war es einmal das Selbstverständlichste auf der Welt, dass eine Sozialdemokratin dem Kapital den Kampf ansagt. Heute ist das Stoff für einen politischen Skandal, wie Bärbel Bas jüngst erfahren durfte.
Die Debatte um Bärbel Bas’ Aussagen auf dem Juso-Bundeskongress zeigt in ungewöhnlicher Deutlichkeit, wie sehr die Sozialdemokratie heute um eine eigene Sprache ringt. Als Bas bemerkte, dass ihr beim Arbeitgebertag erneut bewusst geworden sei, gegen wen man politisch eigentlich kämpfe, wurde sie sofort mit dem Vorwurf der Klassenkampfrhetorik belegt. Die Reaktionen aus der Union und vom Arbeitgeberverband haben vorgeführt, wie eng der Korridor der zulässigen Ausdrucksweise inzwischen geworden ist. Gleichzeitig hat die SPD mehr denn je damit zu kämpfen, Begriffe zu finden, mit denen sie den Konflikt zwischen Arbeit und Kapital überhaupt auszudrücken vermag.
Begriffe wie »Arbeiterklasse« oder »Proletariat« mögen heute für viele unzeitgemäß wirken, wenn nicht sogar leicht grotesk. Doch selbst wenn die marxistische Rhetorik überholt klingen sollte, hat das kapitalistische System sich im Kern nicht verändert. Die Formen mögen komplexer, globaler und finanzgetriebener geworden sein, das Prinzip der Kapitalakkumulation auf Basis privater Produktionsmittel beherrscht die Produktion aber ungebrochen. Und angesichts wachsender Armut und Ungleichheit treten die alten Gegensätze zwischen Arbeit und Kapital heute wieder schärfer zutage als zum Beispiel in den Nachkriegsjahrzehnten, dem sogenannten »goldenen Zeitalter des Kapitalismus«.
Das dürfte Bärbel Bas bewusst gewesen sein, als sie vor den Jusos sagte, der Konflikt verliefe »nicht zwischen Jung und Alt, sondern zwischen Arm und Reich«. Also »zwischen denen, die Sicherheit brauchen, und denen, die sie für verhandelbar halten«. Damit benannte sie im Kern die alten Gegensätze zwischen Arbeit und Kapital – und genau hier beginnt das Problem: Wie können Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten heute wieder zu einer Sprache finden, mit der sie diesen Konflikt offen und einleuchtend aussprechen können? Wie könnte eine sozialdemokratische Sprache aussehen, die die zentralen Widersprüche unserer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung klar benennt und zugleich politische Lösungen eröffnet?
Um zu ergründen, wie die Sozialdemokratie eine neue Sprache entwickeln kann, muss man erst einmal verstehen, warum sie ihre alte Sprache verlor. Einen guten Ausgangspunkt dafür bietet ein Buch, das bereits 2018 erschienen ist, in Deutschland jedoch kaum Resonanz fand: Leftism Reinvented: Western Parties from Socialism to Neoliberalism. Darin zeigt die Soziologin Stephanie Mudge, wie sozialdemokratische Parteien sich im Laufe des 20. Jahrhunderts ideologisch zweimal neu erfanden: einmal keynesianisch und einmal neoliberal.
Die Sprache der Sozialdemokratie war dabei oft Ausdruck der jeweils herrschenden politischen Ökonomie. Als sich die SPD im 19. und frühen 20. Jahrhundert als sozialistische Partei verstand, war ihre Sprache vom Klassenkonflikt zwischen Arbeit und Kapital geprägt. Begriffe wie Ausbeutung, Klassenherrschaft, Solidarität und Emanzipation waren Bestandteil einer Gesellschaftsanalyse, die die ökonomischen Machtverhältnisse in den Mittelpunkt stellte. Folglich bestand sozialdemokratische Politik darin, den Konflikt von Arbeit und Kapital zu organisieren und auszutragen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg veränderte sich dies. Mit dem Siegeszug des Keynesianismus verschob sich das sozialdemokratische Narrativ hin zu einer ökonomischen Theorie, die versprach, Konjunkturen zu stabilisieren, Vollbeschäftigung zu sichern und Wohlstand zu mehren. Sozialdemokratische Parteien sprachen von Nachfragesteuerung, Produktivitätsfortschritt und sozialen Sicherungssystemen. Der Grundkonflikt zwischen Arbeit und Kapital trat zugunsten eines technokratisch-pragmatischen Optimismus in den Hintergrund. Die Sozialdemokratie verstand sich nicht mehr als Bewegung, die politisch gegen eine herrschende Klasse antritt, sondern als Garant eines sozialstaatlich regulierten Kapitalismus. Diese Auffassung verlangte eine neue Sprache, denn die marxistische wirkte zu grob, zu kämpferisch und historisch zu belastet. Die neue Sprache hingegen kündete von Rationalität und Fortschritt.
»Die Rede von Chancengerechtigkeit ersetzte die Diskussion materieller Ungleichheit. Der Arbeiter wurde zum Erwerbstätigen, der Sozialstaat zum Dienstleister, und die Bürger wurden zu Kunden staatlicher Leistungen.«
Anders als in der sozialistischen Phase, als marxistische Theoretiker Einfluss auf die Parteien ausübten, waren es nun keynesianische Wirtschaftswissenschaftler, die die Weltanschauung der Sozialdemokratie prägten. Sie lieferten der Sozialdemokratie wissenschaftliche Rechtfertigungen für ihre Programme und eine politische Sprache. Die gegensätzlichen ökonomischen Interessen von Arbeit und Kapital konnten etwa durch das »Vollbeschäftigungsziel« vermittelt werden. Durch diese Vermittlung verschwand der Klassenkonflikt zwar nicht, man konnte jedoch ein Kräftegleichgewicht zwischen Arbeit und Kapital herstellen, das die Klassengegensätze zeitweise entschärfte und auf beiden Seiten für Wohlstand sorgte.
Der nächste ideologische Umbruch kam, als die politische Ökonomie der Nachkriegszeit in den 1970er Jahren zerfiel. Die Stagflation zwang Regierungen dazu, das Vollbeschäftigungsziel aufzugeben, wodurch das Kräftegleichgewicht zwischen Arbeit und Kapital verloren ging. In dieser Zeit büßten keynesianische Ökonomen, die den sozialstaatlichen Kompromiss über Jahrzehnte hinweg vertreten hatten, ihren politischen Einfluss ein. Eine neue Generation ökonomischer Expertinnen und Experten setzte sich durch, die nicht in Gewerkschaften organisiert war und auch nicht aus der staatlichen Verwaltung kam, sondern einem globalen Netzwerk aus Universitäten und Think Tanks angehörte. Der Aufstieg des Neoliberalismus nahm hier seinen Anfang.
Die strukturellen Verschiebungen in der Weltwirtschaft, das Ende des Wachstumsoptimismus und das Scheitern keynesianischer Steuerungsversprechen setzten der sozialdemokratischen Sprache immer weiter zu. Als die neoliberale politische Ökonomie sich global durchsetzte, übernahm auch die Sozialdemokratie immer stärker deren Begriffe. Die Rede von Anreizen, Flexibilisierung, Wettbewerbsfähigkeit, Deregulierung und individueller Eigenverantwortung wurde immer mehr zum allgemeinen Standardvokabular. Mudge beschreibt dies als eine Phase, in der die Sozialdemokratie versuchte, ihre alte Rolle mit einer neuen Welt zu versöhnen, jedoch zu dem Preis, die Sprache ihrer eigenen Tradition komplett abzulegen.
Diese Entwicklung fand in den 1990er und frühen 2000er Jahren ihre Vollendung im sogenannten Third Way, der unter Tony Blair und Gerhard Schröder zur sozialdemokratischen Leitideologie wurde. Der Third Way verband die ökonomische Liberalität der neoliberalen Ära mit einem kulturellen Fortschrittsversprechen. Die Rede von Chancengerechtigkeit ersetzte die Diskussion materieller Ungleichheit. Der Arbeiter wurde zum Erwerbstätigen, der Sozialstaat zum Dienstleister, und die Bürger wurden zu Kunden staatlicher Leistungen. Die politische Auseinandersetzung wurde als Modernisierungskonflikt dargestellt, nicht als Interessenkonflikt zwischen Kapital und Arbeit.
So wurde die sozialdemokratische Sprache zu einer Sprache des Marktes, des globalen Wettbewerbs und der Selbstoptimierung, und die Fähigkeit, strukturelle Konflikte zu artikulieren, ging verloren. Die Partei, die einst im Namen der Arbeiterklasse sprach, fand sich in einer politökonomischen Ordnung wieder, in der die Begriffe dieser Klasse kaum mehr existierten. Die Realität des globalen Kapitalismus verschwand deshalb hinter einer Rhetorik der individuellen Eigenverantwortung. Blair sprach von einer »modernisierten Sozialdemokratie«, die Konflikte überwinde. Bill Clinton versprach eine »Chancengesellschaft«, in der Aufstieg vor allem eine Frage der individuellen Eigeninitiative sei. Schröder sprach mit Stolz davon, den deutschen Arbeitsmarkt liberalisiert und einen der »besten« Niedriglohnsektoren in Europa geschaffen zu haben.
Heute steht die Sozialdemokratie vor dem paradoxen Ergebnis dieser Entwicklung. Die politischen Konflikte zwischen Kapital und Arbeit existieren weiterhin, doch die sozialdemokratische Sprache, um diese Konflikte zu benennen, ist weitgehend verloren gegangen.
Die Reaktionen auf die Äußerung von Bärbel Bas sind daher nicht nur eine Episode politischer Aufregung, sondern darüber hinaus Symptom einer tiefergehenden Krise. Die Sozialdemokratie weiß, dass sie wieder stärker als Partei der Arbeit auftreten müsste, aber sie hat kaum noch Begriffe, mit denen sie dieses Anliegen überzeugend formulieren kann. Was bleibt, ist eine Partei, die ihr Verhältnis zu ihrer eigenen Tradition neu bestimmen müsste, um die Konflikte der Gegenwart benennen zu können. Ohne eine ideologische Erneuerung kann auch eine sprachliche Erneuerung nicht klappen, und jeder Versuch, im Namen der Arbeit zu sprechen, bleibt ein riskantes Manöver. In dieser prekären Lage kann die Sozialdemokratie nicht dauerhaft überleben.
»Sozialdemokratische Parteien können die Welt nicht mit den Begriffen beschreiben, die sie seit den 1990er Jahren übernommen haben, wenn sie die soziale Realität wieder politisch fassen wollen.«
Doch auch für die Demokratie hat das tiefgreifende Folgen, bemerkt Mudge. Sozialdemokratische Parteien hatten historisch die Aufgabe, Menschen zu vertreten, die wenig Besitz, wenig Sicherheit und wenig politische Macht hatten. Als sich die Parteien zunehmend auf eine marktorientierte Sprache stützten, verloren viele dieser Menschen ihre politische Heimat. Dadurch entstand ein Vakuum, das später von neuen politischen Kräften ausgefüllt wurde. Rechte und rechtspopulistische Bewegungen präsentierten sich als Anwälte jener, die sich im globalisierten Kapitalismus abgehängt fühlten, und trafen damit einen Nerv.
Für Mudge liegt hier die zentrale Herausforderung der Gegenwart. Sozialdemokratische Parteien können die Welt nicht mit den Begriffen beschreiben, die sie seit den 1990er Jahren übernommen haben, wenn sie die soziale Realität wieder politisch fassen wollen. Sie brauchen eine neue Sprache, die über technokratische Sachzwänge hinausweist und die ökonomische Wirklichkeit wieder als politisch gestaltbar verständlich macht. Es geht um neue Begriffe, neue Deutungsrahmen, neue Vorstellungen davon, was Wirtschaft ist und welche Rolle Politik darin spielt. Ohne eine solche Erneuerung bleibt die Sozialdemokratie in einem Deutungsmodus gefangen, der sie schwächt.
Zwar ist eine Rückkehr zu den alten Begriffen des Keynesianismus auch nicht möglich, weil die materielle Grundlage dafür heute fehlt. Aber Mudge besteht darauf, dass Sozialdemokratie ohne eine eigene ökonomische Sprache nicht überleben kann. Nur wenn die Sozialdemokratie wieder erklärt, wie Wirtschaft funktioniert, wie Macht verteilt ist und wie politische Gestaltung möglich wird, kann sie jene erreichen, die sich in den vergangenen Jahrzehnten von ihr entfernt haben.
Otmar Tibes ist Gründer und Herausgeber vom Politik & Ökonomie Blog.