01. Mai 2020
Von dreien, die in die Sozialdemokratische Partei Deutschlands eintraten (und zwei wieder aus)
Ich bin in die SPD eingetreten weil …
Ich glaube meine Geschichte ist ganz typisch: Ich bin mit einer Handvoll Grundwerte, aber generell eher unpolitisch aufgewachsen. Gerechtigkeit und ein gesundes Miteinander waren mir schon immer wichtig. Umso schwerer fand ich es zu beobachten, wie sich unsere Gesellschaft immer mehr radikalisiert, internationale Partner sich voneinander abwenden und neue Mauern in den Köpfen entstehen. Die Europawahl 2019 war am Ende der Punkt, an dem ich entschieden habe, dass ich diesen Entwicklungen nicht mehr nur mit ungutem Gefühl zusehen, sondern selbst dagegen aktiv werden möchte. Ich war mir nicht sicher, welche Partei meine Idee von gerechter Politik am ehesten vertritt, also bin ich als erstes zu den Jusos gegangen. Mit deren zentralen Werten—Antifaschismus, Sozialismus, Feminismus und Internationalismus—kann ich mich gut identifizieren. Dort habe ich mich dann in einem Umfeld wiedergefunden, das nicht nur auf Missstände hinweist, sondern auch ein positives Bild der Zukunft zeichnet. Und mit der Wahl zur neuen SPD-Parteispitze zeichnet sich für mich jetzt auch eine Wendung im Leitbild der Partei in Richtung einer progressiveren, linkeren Politik ab, die ich unterstützen will.
Was sind Deine Hoffnungen für die Zukunft der Partei?
Ich wünsche mir, dass die SPD souveräner als in den letzten Jahren den Weg des demokratischen Sozialismus geht. Ich wünsche mir eine progressivere Politik, mit mehr Partizipation der jüngeren Generationen und mehr Aufmerksamkeit für Themen der sozialen Gerechtigkeit, Chancengleichheit und eines positiveren Miteinanders – innen- und außenpolitisch.
Was heißt es, Sozialdemokratin zu sein?
Sozialdemokratin zu sein, bedeutet für mich, für Werte wie soziale Gerechtigkeit und für den demokratischen Grundgedanken einzustehen. Es bedeutet, für eine Gesellschaft zu kämpfen, in der auf die Interessen aller geachtet wird – und nicht nur die weniger Kapitalbesitzender. Für eine Gesellschaft also, in der das Gemeinwohl an erster Stelle steht. Das alles bedeutet für mich auch der »demokratische Sozialismus«, wie er im Grundsatzprogramm der SPD steht. Aber letztlich ist es mir wichtiger, soziale Gerechtigkeit zu erreichen, als einen Begriff zu debattieren.
Ich bin aus der SPD ausgetreten weil …
Im Laufe der Zeit wurden hinreichend Gründe geliefert: Da waren der Widerspruch zwischen Programm und Realpolitik, der wirtschaftsfreundliche Kurs Helmut Schmidts, der NATO-Doppelbeschluss, die AKW-Politik und viele tagespolitische Entscheidungen, die mir heute nicht mehr im Einzelnen präsent sind. Mit dem Entstehen der Grünen habe ich zunehmend eine neue politische Heimat gefunden, was mich weiter von der SPD distanziert hat. Den finalen Schritt des Austritts habe ich trotzdem bis 2006 vor mir hergeschoben. Die Entscheidung des damaligen Parteivorsitzenden Müntefering zur Einführung des Arbeitslosengelds II gab dann den letzten – vielleicht sowieso gesuchten – Anstoß (s. Bild unten).
Wie sind Sie zur SPD gekommen?
Ich bin in Abbehausen bei Nordenham aufgewachsen. Nach meinem Hauptschulabschluss habe ich zunächst einen handwerklichen Beruf gelernt und als Schlosser in der Bleihütte der Preussag gearbeitet. Lehrer wurde ich erst später, nachdem ich die mittlere Reife nachgeholt und eine Lehrerausbildung absolviert hatte. Als Arbeiterkind habe ich die SPD durchaus als meine politische Heimat betrachtet. Ich kam das erste Mal mit dem SPD-Ortsverein in Kontakt, als in den 1970er Jahren in Abbehausen die Forderung nach einem selbstverwalteten Jugendzentrum laut wurde. Ich war Jugendwart im Sportverein meines Dorfes. Unter anderem mit Unterstützung der SPD hatte unsere Forderung Erfolg und ich trat am 9.2.1972 – einige Monate vor der »Willy-Wahl« in die Partei ein. Die Entwicklung der SPD heute gibt, denke ich, Anlass zu großer Sorge, vielleicht ist sie ein Zeichen für den Niedergang der Parteiendemokratie überhaupt. Die CDU hat ja ihr Waterloo noch vor sich. Hoffnungen setze ich derzeit in die Führungsspitze der Grünen. Ich sehe auch interessante Möglichkeiten in dem von »Mehr Demokratie e. V.« initiierten Bürgerrat oder anderen Formen direkter Demokratie. Aber auch hier ist Vorsicht geboten.
Ich bin in die SPD eingetreten weil …
Leider war ich damals zu alt, um heute behaupten zu können, ich sei zu jung gewesen, um zu kapieren, was ich tat. Ich war bereits 20 Jahre alt, als ich Mitglied der SPD wurde. Das Jahr meines Eintritts macht die Sache nicht minder fragwürdig: 2005 – das Jahr also, in dem Hartz IV schon eingeführt und die Bundeswehr längst in Afghanistan einmarschiert war und sich links der SPD bereits ein neues linkes Bündnis zu formieren begann. Nach der verlorenen Bundestagswahl und dem Rückzug Schröders hatte ich gehofft, die SPD würde zu ihren sozialdemokratischen Wurzeln finden. Die SPD fand aber bekanntlich die Große Koalition – und damit eine Möglichkeit des Machterhalts. Ich blieb dennoch erst einmal in der Partei. Weniger aus rationalen, politischen Erwägungen, sondern mehr aus einem Gefühl heraus.
Die Sozialdemokratie verkörperte für mich das Versprechen vom sozial abgefederten Kapitalismus, in dem sich auch Arbeiterinnen und Arbeiter einen respektablen Platz in der Gesellschaft erarbeiten dürfen. Nichts anderes wollte ich im Jahr 2005: Nach Schulabbruch, Arbeitslosigkeit sowie unzähligen und meist sehr kurzzeitigen Hilfsarbeiterjobs befand ich mich mitten in einem zweijährigen Schulprogramm, an dessen Ende der Hochschulzugang stand. Es ging also nicht mehr darum, irgendwann mal einen Job als Ungelernter zu finden, um vielleicht nicht wie meine alleinerziehende Mutter die meiste Zeit Sozialhilfe beantragen zu müssen. Plötzlich war ein Studium in Reichweite: Familienpremiere.
Ich lebte den sozialdemokratischen Aufstiegstraum, der auch deshalb möglich wurde, weil die SPD einst die Bourgeoisie davon überzeugte, dass es auch für sie besser wäre, den Erniedrigten, Geknechteten und Verlassenen ab und zu anerkennend die Köpfe zu tätscheln und es einigen von ihnen zu erlauben, neben ihnen in den Hörsälen zu sitzen.
Auch nach Eintritt in die SPD blieb mir der Klassenkampf sympathischer als der Reformismus, aber die ernüchternden Begegnungen mit dem real existierenden Proletariat in den Fabrikhallen, in den Spelunken und auf Dorffesten stimmten mich nicht gerade hoffnungsvoll. Die SPD war die optimale Exit-Strategie – denn dadurch konnte ich mich einerseits vom Elend des vereinzelten Radikalismus lösen und »dazugehören«, musste aber meine Herkunft und politischen Auffassungen nicht komplett verraten.
Ich bin aus der SPD ausgetreten weil …
Das weiß ich ehrlich gesagt gar nicht mehr so genau. Sicher würde die SPD heute bei mir nicht mehr solche hoffnungsvollen Gefühle auslösen. Das hat einen entscheidenden strukturellen Grund: Die Gesellschaft, in der die alte SPD gedeihen konnte, gibt es längst nicht mehr. Der Siegeszug des neoliberalen Kapitalismus, den bekanntlich in Deutschland vor allem Schröder und Co. begünstigten, hatte von der sozialen Basis der Sozialdemokratie kaum etwas übrig gelassen, uns alle aus dem sozialdemokratischen Aufstiegstraum gerissen. An diesem strukturellen Grund hätte aber wohl auch die SPD nichts mehr ändern können, selbst wenn sie es gewollt hätte, wenn sie tatsächlich nach der Bundestagswahl 2005 in die Opposition gegangen wäre, sich von Schröder und der Agenda 2010 losgesagt und ihre Hand in Richtung WASG ausgestreckt hätte. Das goldene Zeitalter des Kapitalismus der Nachkriegszeit war endgültig vorbei.
Zugegeben, diese historische Entwicklung hatte ich damals nicht überblickt. Trotzdem trat ich bereits Anfang 2007 ziemlich überzeugt wieder aus. Äußere Umstände taten ihr Übriges dazu, dass ich die Sozialdemokratie nicht mehr fühlte. Der Wunsch dazuzugehören verschwand glücklicherweise wieder ziemlich schnell. Die Jusos schienen dort, wo ich damals lebte, nicht zu existieren – auch von lokalen Parteimitgliedern erhielt ich noch nicht einmal eine Einladung zu einem Treffen oder einer Veranstaltung. Vor allem lernte ich damals tolle Menschen kennen. Sie waren doppelt oder dreimal so alt wie ich, sie setzten sich ihr ganzes Leben gegen Vereinnahmungen zur Wehr, wollten nicht in das Schlechte eingebunden werden. Sie waren vor allem eines: Kommunistinnen und Kommunisten.
Was denkst Du jetzt über die SPD?
Für mich verdichteten sich die Indizien, dass die Sozialdemokratie nicht Teil der Lösung ist. Ich bin aber immer noch nicht der Ansicht, dass die SPD die zentrale Ursache des Problems ist, wie damals führende Köpfe der entstehenden Linkspartei behaupteten. Die Entwicklung der SPD und der Niedergang der Sozialdemokratie in den meisten früheren Industrieländern sind vielmehr Ausdruck der Transformation des Kapitalismus, die der SPD ihre ökonomische Basis entzogen hatte. Das sozialdemokratische Gefühl hängt heute in der Luft und ist höchstens noch als Nostalgie fühlbar.
Sebastian Friedrich ist Autor und Journalist aus Hamburg.