19. März 2021
Um sich alle Machtoptionen offen zu halten, liebäugelt die SPD nun offen mit der Ampelkoalition im Bund. Damit könnte sie orientierungslos ins nächste Zweckbündnis straucheln.
Malu Dreyer (SPD) macht es in Rheinland-Pfalz vor: im Zweifel regieren, auch mit der FDP.
Die SPD wollte entschieden in diesen Bundestagswahlkampf gehen: Als erste Partei einen Kanzlerkandidaten ins Rennen schicken und als erste einen Entwurf für das Wahlkampfprogramm veröffentlichen. Kein Wischiwaschi mehr, sondern »Soziale Politik für Dich«, wie der holprige Wahlkampfslogan – eigens entwickelt von der Sportmarketingagentur Brinkert Lück – der zermürbten ehemaligen Stammwählerschaft der SPD verspricht.
Dabei gelingt es den Genossinnen und Genossen um den aktuellen Bundesfinanzminister und Spitzenkandidaten Olaf Scholz eher mäßig, klare inhaltliche Signale im Wahlkampf zu senden. Der Programmentwurf wartet zwar mit einer linken Rhetorik und wolkigen Versprechungen auf, bleibt aber immer dort besonders vage, wo es ums Eingemachte geht. Hartz-IV soll zwar abgeschafft und durch ein Bürgergeld ersetzt werden, aber zu der geplanten Höhe der Regelsätze oder der Tatsache, dass man bislang all seine Reserven aufbrauchen muss, um überhaupt in den Genuss staatlich festgeschriebener Armutszahlungen zu kommen, schweigt sich die Partei angestrengt aus.
Seit der sogenannten Linkswende auf dem Parteitag 2019 laviert die Partei zwischen einer Rückbesinnung auf sozialdemokratische Werte und dem Führungsanspruch des neoliberalen Parteiestablishments hin und her. Auf die gemäßigt linke Führung um Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans folgte als Kanzlerkandidat Olaf Scholz, der neben seiner Verwicklung in die Wirecard- und Cum-Ex-Skandale selbst zu den wesentlichen Architekten der Agenda 2010 gehörte, welche die Partei nun so gerne hinter sich lassen will. Selbst der ehemalige Juso-Rebell und mittlerweile zum sozialdemokratischen Versöhnungsapostel geläuterte Kevin Kühnert wird nicht müde, den Zusammenhalt der Partei zu beschwören, Olaf Scholz diverse Vertrauenslorbeeren vorzuschießen und in den sozialen Medien gedeihliche Live-Videos mit dem eingefleischten Seeheimer Lars Klingbeil zu drehen.
Dabei wäre die SPD, sofern sie ihren Sinneswandel ernst nimmt, gerade jetzt auf klare und verlässliche Signale angewiesen, wenn sie gerade die Wählerinnen und Wähler zurückgewinnen will, die von der Agenda 2010 und insgesamt zwölf Jahren Koalition mit der CDU abgestoßen sind. Dazu würde auch ein unmissverständliches Bekenntnis zu einer rot-rot-grünen beziehungsweise grün-rot-roten Regierungskoalition gehören, denn selbst die äußerst vagen Wahlkampfversprechen der SPD ließen sich nur in einer solchen Konstellation ernsthaft durchsetzen. Aufgrund der anhaltend katastrophalen Umfragewerte der Sozialdemokraten – aktuell bei 15-17 Prozent – und der gleichzeitigen Stagnation der Partei DIE LINKE, ist eine solche Koalition rechnerisch zumindest für den Moment in weite Ferne gerückt.
Für Regierungsambitionen in der Partei DIE LINKE ist das keine gute Ausgangsposition. Für eine erfolgreiche Regierungsbeteiligung ist aktuell niemand mehr auf sie angewiesen, solange sie ihren Stimmanteil durch einen erfolgreichen Wahlkampf nicht zumindest um einige Prozentpunkte ausbauen kann. Ob eine grün-rot-rote Koalition unter den Bedingungen einer so unbeständigen SPD überhaupt eine kluge Option für die Partei ist, steht ohnehin auf einem anderen Blatt.
In dieser Situation gelten die Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz nicht nur bei der SPD als bundespolitische Richtschnur. Die CDU hat in beiden Ländern durch ihre jüngsten Korruptionsskandale eine empfindliche Niederlage eingefahren und während die SPD in Baden-Württemberg ebenfalls bluten musste, konnte sie wenigstens in Rheinland-Pfalz ein Wahlergebnis jenseits der 30 Prozent verteidigen. Das dürfte zwar eher der persönlichen Beliebtheit von Ministerpräsidentin Malu Dreyer als einem überzeugenden Parteiwahlkampf zu verdanken sein, doch die Sozialdemokraten feiern den Erfolg allemal.
Malu Dreyer regiert bereits seit 2017 mit einer relativ unauffälligen Ampelkoalition, wie sie nun – mit den Grünen an der Spitze – auch in Baden-Württemberg rechnerisch möglich wäre. Dies ist für das Spitzenpersonal der SPD offenbar Anlass genug, auch im Bund offen mit einer Koalition aus Grünen, SPD und FDP zu liebäugeln: Saskia Esken wollte zumindest nichts ausschließen, Lars Klingbeil hält die Ampel im Bund für vorstellbar und selbst Kevin Kühnert ließ verlauten, dass ein solches Dreierbündnis neben der von ihm favorisierten rot-rot-grünen Koalition »nicht im Bereich des Unmöglichen« liege.
Den Wählerinnen und Wählern dürfte allerdings klar sein, dass klassische linke Forderungen wie die Vermögenssteuer und die Bürgerversicherung – auf welche die SPD im Wahlkampf setzt – mit der FDP unter keinen Umständen zu machen sind. Indem die Partei den Liberalen schon jetzt vorsichtige Avancen macht, untergräbt sie vor allem die politische Glaubwürdigkeit, um die sie in den letzten Monaten so verzweifelt ringen musste. Eigentlich signalisiert sie dadurch nur eins: Man möchte unbedingt regieren. Nicht nur bei alteingesessenen Sozialdemokraten dürfte dies unangenehme Erinnerungen an das Jahr 2017 wachrufen, als die Partei eine Wiederauflage der Großen Koalition zunächst rigoros ausgeschlossen hatte, bevor sie sich in braver Erfüllung ihrer staatsmännischen Verantwortung erneut zum Juniorpartner von Angela Merkel machte. Es ist kein Wunder, dass die 20,5 Prozent, welche die SPD damals noch erringen konnte, heute bereits in utopische Ferne gerückt sind.
Die Annäherungsversuche der SPD werden auch dadurch nicht vertrauenswürdiger, dass Christian Lindner schon jetzt durchblicken lässt, dass er bei den Themen Umweltschutz und Sozialpolitik ebenso viel neoliberale Prinzipentreue an den Tag legen wird, wie beim Platzen der Jamaika-Koalition im Jahre 2017.
Lediglich die Grünen profitieren von der gegenwärtigen Situation, denn an ihnen kommt aktuell kein denkbares Regierungsprojekt mehr vorbei. Dass sie selbst den Kanzler bzw. die Kanzlerin stellen wollen, haben die Vorsitzenden Robert Habeck und Annalena Baerbock bereits mehrfach anklingen lassen und die Option einer Ampelkoalition erlaubt ihnen mindestens den womöglichen Regierungspartner CDU stärker inhaltlich unter Druck zu setzen. Dass sie diesen Druck einsetzen werden, um der Union eine fortschrittlichere Sozialpolitik abzuringen, darf hierbei allerdings bezweifelt werden.
Der politische Schlingerkurs der SPD zwischen retrosozialdemokratischer Wahlkampfinszenierung und vermeintlichem Pragmatismus verdeutlicht, in welchem Zustand sich die Partei befindet. Jenseits einiger längst überfälliger sozialpolitischer Wahlkampfforderungen fehlt ihr jegliche Strategie für die bitter notwendige Wiederauferstehung. Das prekäre Zweckbündnis aus Parteilinken und Parteirechten funktioniert dabei vor allem aufgrund dieser Orientierungslosigkeit.
Das alte Seeheimer Establishment weiß, dass die Partei zumindest links blinken muss, um bei der kommenden Wahl nicht vollkommen in der Bedeutungslosigkeit zu versinken. Nicht erst seit den letzten Landtagswahlen hat sich gezeigt, dass die SPD zwar noch von den übrig gebliebenen Resten der mittlerweile überalterten Stammwählerschaft getragen wird, bei jungen Wählern aber eine immer geringere Rolle spielt. Gleichzeitig hat die Parteilinke offensichtlich ihren Frieden damit gemacht, dass sie an den alten Machtstrukturen der Seeheimer nicht vorbeikommt, denn nach der erfolgreichen Wahl einer linken Doppelspitze, hatte man nicht die geringste Ahnung, was man mit der zuvor mobilisierten Basis und den zahlreichen neu eingetretenen Genossinnen und Genossen eigentlich anfangen sollte. Eine tatsächliche Konfrontation mit den neoliberalen Parteieliten wollten augenscheinlich alle Beteiligten vermeiden.
So windet sich die ehemalige Arbeiterpartei weiter in dem Dilemma, sich wieder als Kraft sozialer Politik etablieren zu müssen, gleichzeitig aber keine keine organisierte Parteilinke zu haben, die in der Lage ist, mehr als einen labilen Burgfrieden mit dem neoliberalen Parteiestablishment hervorzubringen. Ein glaubwürdiger Bruch mit der selbstzerstörerischen Politik der letzten zwanzig Jahre ist jedenfalls bis auf Weiteres nicht abzusehen.
Sascha Döring lebt in Berlin und arbeitet im Bereich politische Kommunikation.