16. Juni 2025
Die Aufregung um das »Manifest« der SPD-Linken zeugt weniger von einer »Naivität« der Verfasser als von der zunehmenden Nervosität derjenigen, die noch immer die Illusion vom ehrenvollen Wertewesten verteidigen, findet Ole Nymoen.
Nicht nur Markus Lanz bereitet Ralf Stegner immer wieder Kopfschmerzen – gemeinsam mit Rolf Mützenich, Norbert Walter-Borjans und den anderen Unterzeichnern des »Manifests« hat er jetzt einen Großteil der deutschen Medienlandschaft zur Weißglut gebracht.
Sie haben es gewagt: Eine Gruppe namhafter SPD-Politiker hat in dieser Woche ein Papier veröffentlicht, in dem die Aufrüstung der Bundesrepublik und der außenpolitische Kurs der neuen Regierung kritisiert werden. Zu den Unterzeichnern gehören der jüngst abgelöste Fraktionsvorsitzende Rolf Mützenich, der prominente Außenpolitiker Ralf Stegner sowie der ehemalige Parteivorsitzende Norbert Walter-Borjans. Es sind vor allem altgediente Parteilinke, die sich hier einmal auflehnen gegen den Kurs von Lars Klingbeil und Boris Pistorius – rund zwei Wochen vor dem richtungsweisenden SPD-Parteitag.
Die Reaktionen auf diesen Debatten-Aufschlag sind so entnervend wie erwartbar: »Als hätte es Putin mitgeschrieben«, titelt die Bild, der Spiegel spricht vom »Manifest der Unbelehrbaren«, in fast jedem Leitartikel sind Attribute wie »naiv« noch die nettesten Herabwürdigungen. Spitzenpolitiker aus allen Parteien überschlagen sich förmlich in ihrer Ablehnung, die derart kategorisch ist, dass sich das genauere Hinschauen lohnt: Was ist so skandalös an diesem Papier?
Eigentlich gar nichts. Und das nicht nur aus einer linken oder friedensbewegten Perspektive. Sondern auch von einem bürgerlichen Standpunkt aus. Das sogenannte Manifest ist kein pazifistisches Schreiben, das militärische Gewaltmittel ablehnt, wie schon der Titel andeutet: »Friedenssicherung in Europa durch Verteidigungsfähigkeit, Rüstungskontrolle und Verständigung« – das wollen die SPD-Abweichler. Eine grundsätzliche Absage an die Kriegstüchtigkeit Deutschlands und Europas ist das nicht. Sondern lediglich eine Warnung vor einer Aufrüstungsspirale, die zukünftige Konflikte eher wahrscheinlicher macht, als sie zu verhindern. Historisch betrachtet ist diese Warnung berechtigt.
»Forscher und Politiker wie Carlo Masala oder Roderich Kiesewetter haben ihre Durchhalteparolen zwar immer mit großer Vehemenz vorgetragen – mehr Substanz als das ›Manifest‹ hatten sie aber auch nie zu bieten.«
Das Papier spricht sich klar gegen Russlands Krieg in der Ukraine, aber auch gegen »einseitige Schuldzuweisungen« aus – verwiesen wird auf die unzähligen Kriege des Westens, die genauso völkerrechtswidrig waren und auch nicht mit friedlicheren Mitteln geführt wurden. Das stößt natürlich auf wenig Gegenliebe in einer Medienlandschaft, die seit drei Jahren das kontrafaktische Bild eines harmlosen Wertewestens zeichnet, der sich höchstens ab und zu mal ein paar kleine Ausrutscher erlaubt, aber ansonsten einen kategorial anderen Zugang zur Gewalt besitzt als die neue »Achse des Bösen«.
Besonders skandalös scheint vielen Beobachtern, dass laut den Unterzeichnern des Manifests der »außerordentlich schwierige Versuch unternommen werden [sollte], nach dem Schweigen der Waffen wieder ins Gespräch mit Russland zu kommen, auch über eine von allen getragene und von allen respektierte Friedens- und Sicherheitsordnung für Europa.« Auch hierin liegt nicht der geringste Skandal. Dass es mittelfristig zu einer Verhandlungslösung in der Ukraine kommen wird, ist glasklar. Das gibt nicht nur der neue deutsche Außenminister zu. Auch der ukrainische Präsident Selenskyj hat schon im vergangenen Herbst zugestanden, dass einige Gebiete seines Landes nicht mehr militärisch, sondern nur diplomatisch zurückerlangt werden können. Das würde ebenjene Gespräche mit Russland erfordern, die nun skandalisiert werden.
Ob man dieses Papier richtig oder falsch findet, sei einmal dahingestellt – aber es ist garantiert nicht naiver als die Prognosen transatlantischer Sicherheitsexperten, die sich in den vergangenen Jahren fast nie bestätigt haben. Forscher und Politiker wie Carlo Masala oder Roderich Kiesewetter haben ihre Durchhalteparolen zwar immer mit großer Vehemenz vorgetragen – mehr Substanz als das »Manifest« hatten sie aber auch nie zu bieten. Mit welcher Ablehnung die kurze Streitschrift rezipiert wird, sagt eine Menge aus über die Realitätsverleugnung eines Großteils des politischen und medialen Betriebs.
Ole Nymoen betreibt den Wirtschaftspodcast Wohlstand für Alle und ist Kolumnist bei JACOBIN. Sein neustes Buch Warum ich nicht für mein Land kämpfen würde ist kürzlich beim Rowohlt Verlag erschienen.