16. Dezember 2023
Einst wurden auf Parteitagen politische Weichen gestellt. Heute gleichen sie Schauspielen. So kann die SPD am Wochenende den Sozialstaat beschwören und nur Tage später die Axt an ihn anlegen.
Bundeskanzler Olaf Scholz auf der Bühne bei seiner Rede beim SPD-Bundesparteitag in Berlin, 9. Dezember 2023
Es gab Zeiten, wo Parteitage der großen Parteien Ereignisse waren. Wo die Versammlungen zu Orten der Debatte und Orientierung, der Kritik und der Perspektiven wurden. Wo Kanzlerinnen oder Kanzler von den Delegierten zur Rede gestellt und Regierungshandeln hinterfragt wurde. Erinnert sei an die Parteitage gegen den NATO-Doppelbeschluss oder die Agenda 2010 in der SPD.
Aber selbst bei der CDU rumorte es ab und an. Sogar der Einheitskanzler Helmut Kohl wurde mal infrage gestellt. Heute sind Parteitage bei der SPD, der CDU, den Grünen und der FDP durchorchestrierte und inszenierte Events. Die Dramaturgie ist geplant und vorgegeben. Die Rezeption der Mainstream-Medien, die gern kritisieren, dass die Politik Inhalte vermissen lässt, dreht sich ebenfalls kaum um diese. Dafür umso mehr um das »Wording«. Akribisch werden zudem die Minuten der stehenden Ovationen für die Vorsitzenden oder den Kanzler gestoppt.
Wenn sich die gleichen Medien über Politikverdrossenheit mokieren, tragen sie mit solcher Berichterstattung selbst etwas zu ihr bei. Denn sie gestatten, dass diese Parteitage in einem Paralleluniversum stattfinden und die Realität ausgeklammert bleibt. So konnte die SPD auf ihrem jüngsten Parteitag trotz Haushalts-Koalitions-Klimakrise und Umfragewerten von 14–16 Prozent so tun, als hätte sie alles im Griff. Der mangelnde Wille zur Selbstreflexion war irritierend.
Das sozialdemokratische Grundverständnis ruhte historisch auf drei stabilen Säulen, die unverrückbar erschienen: soziale Gerechtigkeit, Friedenspolitik und Internationalismus. Davon ist nicht mehr viel übrig. Die soziale Gerechtigkeit wurde mit den Hartz-IV-Reformen zu Beginn des Jahrtausends entsorgt. Sie waren eine soziale Enteignung der lohnabhängig Beschäftigten. Emanzipation, die immer auch mit einem Aufstiegsversprechen für die »kleinen Leute« verbunden war, geriet unter die Räder des Neoliberalismus.
Der Internationalismus ist derweil zur Folklore verkommen. Die sozialistische Internationale wurde mit Unterstützung der SPD gespalten und damit erheblich geschwächt. Man lädt Sanchez von der spanischen PSOE zwar ein. Aber bevor man auf dumme oder absurde Ideen kommt: Die linke Politik der Schwesterpartei taugt natürlich nicht für die Herausforderungen der deutschen Sozialdemokratie, schon gar nicht in einer Ampel.
»Bundeskanzler Olaf Scholz beschwor den Sozialstaat, an den man nicht die Axt anlegen dürfe. Nicht mal eine Woche hielt dieser Schwur.«
Und auf dem vergangenen Parteitag hat man sich zumindest in Teilen auch der Entspannungs- und Friedenspolitik Egon Bahrs und Willy Brandts entledigt. Der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine hat Europa neu geordnet. »Wandel durch Annäherung«, wirtschaftliche Kooperation und Kulturaustausch – verbunden mit der Hoffnung, sie trügen zur Demokratisierung bei – stehen nicht mehr auf der Tagesordnung.
Die Aggression von Putins Russland führt notwendig zu einer Neubewertung der bisherigen kooperativen Außenpolitik. Dabei dürfen jedoch weder die Erfolge der Entspannungspolitik noch wirkliche Anstrengungen einer ernstzunehmenden Friedenspolitik entsorgt werden. Die sogenannte Zeitenwende blendet die Vorgeschichte des Konflikts und vor allem (was in den Medien kaum besprochen wird) den Sinn und Zweck der Nachkriegsordnung aus. Stattdessen setzt man auf Aufrüstung, Abschreckung und – fast unwidersprochen – auf die von Verteidigungsminister Boris Pistorius geforderte Kriegstüchtigkeit.
Im Antrag »Sozialdemokratische Antworten auf eine Welt im Umbruch« wird dann auch konsequent definiert, was das bedeutet: »Viele Staaten der Welt haben hohe Erwartungen an uns, sehen in uns einen Partner, um Frieden, Sicherheit und Wohlstand zu schaffen. Es ist Zeit, dass wir mehr Verantwortung und Führung zeigen, diese Ziele zu erreichen.« Zieht man die Lyrik ab, zeigt sich eine radikale Neuorientierung sozialdemokratischer Innen- und Außenpolitik: Man will führen. Gerade im Kontext der deutschen Geschichte, der erfolgreichen Entspannungspolitik und der diplomatischen Erfolge auf internationalen Ebenen, die in der Bundesrepublik einmal Common Sense waren, kann man – vorsichtig ausgedrückt – ein ungutes Gefühl nicht unterdrücken.
Zu dieser neuen Orientierung steht vermeintlich im Widerspruch, dass der entschiedenste Vertreter der Forderung nach Waffen und Geld für die Ukraine und Sprecher des Auswärtigen Ausschusses, Michael Roth, nicht erneut in den Parteivorstand gewählt wurde. Manche meinen, das liege daran, dass er direkt und indirekt die Zögerlichkeit des Kanzlers kritisierte. Das kann sein. Anderseits hat sich an dieser Personalfrage wohl das unterbewusste Unbehagen der Delegierten zu Wort gemeldet. Auf ihren seelischen Speicherplatten fanden sich wohl Reminiszenzen etwa an die Außenpolitik Egon Bahrs. Es gibt in der SPD noch immer viele, die nicht dem Baerbockschen Wertegebimmel folgen, sondern nüchterne Interessenpolitik und diplomatischem Können bevorzugen, die am Ende zumeist humaner waren und sind.
So ganz sicher waren sich die Führung und die Delegierten für die Zukunft aber nicht. Sonst wären in der Wirtschafts- und Sozialpolitik nicht alte Platten aufgelegt worden. Zum wohl hundertsten Mal wurde eine Vermögensabgabe für die Reichsten beschlossen – wissend, dass sie in einer Koalition mit der FDP nie kommen wird.
»Man verschärft die Migrationspolitik mit ›Bauchschmerzen‹, während auf dem Mittelmeer weiter Menschen sterben.«
Bundeskanzler Olaf Scholz beschwor den Sozialstaat, an den man nicht die Axt anlegen dürfe. Nicht mal eine Woche hielt dieser Schwur. In den Koalitionsgesprächen zum Haushalt wurde, nachdem sich der Nebel des Parteitages gelichtet hatte, beschlossen, dass Menschen, die Bürgergeld beziehen, wieder an die Kandare genommen werden. Bei fehlender Mitwirkung werden sie nun wieder sanktioniert. Auch soll der Bürgergeld-Bonus für Fort- und Weiterbildung wegfallen. Gleichzeitig wird die CO2-Steuer erhöht. Auch da kann man davon ausgehen, dass sie die Wohlhabenden zwar auch belasten, aber die Einkommensschwachen wesentlich härter treffen wird.
Dergleichen war zu erwarten, denn die FDP kämpft ums Überleben und ist die unsicherste Kantonistin der Regierung. Das Mitgliederbegehren in der FDP für das Ende der Koalition ist in Arbeit. Es ist nicht auszuschließen, dass es eine Mehrheit findet. Auch wenn die Gremien nicht an Beschlüsse gebunden sind, wird ein erfolgreiches Begehren seine Wirkung entfalten. Der Lindner-Partei ist es zuzutrauen, dass sie vor lauter Todesangst aus dem Fenster springt.
Zunächst jedoch werden alle drei Partner versuchen, das fragile Gebilde am Leben zu halten, das eher einer Insolvenzverwaltung als einer Fortschrittskoalition gleicht. Die Schuldenbremse, die auf dem SPD-Parteitag noch zu Recht als Zukunftsbremse gegeißelt wurde, bleibt. Dabei sehen selbst neoklassische Ökonominnen und Ökonomen, besonders in Frankreich und Italien, in ihr die größte Bremse für die wirtschaftliche Entwicklung in Europa. Daran ist die Sozialdemokratie selbst schuld, zumal sie dem Märchen der »schwäbischen Hausfrau« folgte und die Bremse mit in das Grundgesetz stimmte.
SPD und Grüne haben ihre Parteitage ohne größere Schrammen überstanden. Selbst die Klippe der kontroversen Asylfrage wurde dramaturgisch und mit vielen wohlfeilen Bekenntnissen im wahrsten Sinne des Wortes umschifft. Man verschärft die Migrationspolitik mit »Bauchschmerzen«, während auf dem Mittelmeer weiter Menschen sterben.
Alle drei Ampel-Parteien versuchen die Quadratur des Kreises. Man braucht keine Glaskugel, um vorherzusehen, dass das nicht gut gehen kann. Zu krass, zu tief, zu fundamental liegen sie tatsächlich auseinander. Das war von Beginn an so, auch wenn es im vermeintlichen Siegesrausch nach der Bundestagswahl, der im Kern unbegründet war, keiner der Partner wahrhaben wollte.
Vielleicht ist Hessen wieder einmal das Labor der zukünftigen gesellschaftspolitischen Entwicklung, wie 1984 mit der ersten rot-grünen Koalition. Sowohl der CDU als auch der SPD passt ihre neue Regierung in Hessen. Beide liegen bei zentralen gesellschaftspolitischen Fragen inzwischen so eng beieinander, dass sie mit einer Großen Koalition auf Bundesebene (die keine besonders große mehr wäre) gut leben könnten.
»Der Neoliberalismus hat es geschafft, die aktuellen Krisen zu externalisieren. Sie erscheinen nicht politisch, nicht systemisch, sondern quasi als naturgesetzliche Entwicklungen, die es zu managen gilt.«
Der SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert hat auf dem Parteitag erklärt, dass es im nächsten Bundestag keine Partei links der SPD mehr brauche, man aber auch die Mitte nicht vernachlässigen dürfe – ein Spagat, bei dem es Verletzungen geben kann. Im Kern will die bestehende Sozialdemokratie keine wirkliche, soziale und ökologische Transformation. Denn das ginge nur in einer progressiven R2G-Konstellation. Das würde selbst mit den Grünen kompliziert. Da ist das wohlige christdemokratische Kissen dann doch attraktiver.
Trotz allem sollte man die Sozialdemokratie nicht abschreiben. Sie hat historisch auch deshalb mehr als 150 Jahre überstanden, weil sie immer wieder in der Lage war, opportun auf zivilgesellschaftliche Proteste und Begehren als Transmissionsriemen zu reagieren.
Das wirkt aktuell utopisch, weil die gesellschaftliche Linke erschöpft und besiegt scheint. Sie darf sich aber nicht darauf herausreden, die Menschen seien von der Polykrise erschöpft. Eine Linke, die davon überrascht wird, dass genau die Krisen von Mensch und Natur eintreten, die sie prophezeite, ignoriert ihre eigenen Grundlagen und Theorien. Auch vor vierzig Jahren gab es eine Umweltkrise, genannt Waldsterben, und eine Kriegsgefahr mit US-amerikanischen Pershing-Raketen und sowjetischen RSD-10.
Der Neoliberalismus hat es geschafft, die aktuellen Krisen zu externalisieren. Sie erscheinen nicht politisch, nicht systemisch, sondern quasi als naturgesetzliche Entwicklungen, die es zu managen gilt. Hier wäre die Aufgabe, einzugreifen und solidarisch Widerstand zu organisieren. Vielleicht fänden sich ja auch noch ein paar Sozialdemokratinnen und Grüne, die das ähnlich sehen. Oder, um mit Heiner Müller zu sprechen: So wie es bleibt, ist es nicht.
Andrea Ypsilanti war viele Jahre SPD-Landesvorsitzende in Hessen und Abgeordnete im hessischen Landtag. Sie ist Mitgründerin und Vorstandssprecherin des Instituts Solidarische Moderne (ISM).