13. März 2021
Olaf Scholz glaubt an den Respekt, Wolfgang Thierse entdeckt den Gemeinsinn. Die Debatten in der SPD sind ein billiges Ablenkungsmanöver von den desaströsen Folgen der Agenda-Politik.
Wolfgang Thierse, Gerhard Schröder, Franz Müntefering und Olaf Scholz amüsieren sich während der Agenda-Jahre im Bundestag (v.l.n.r.), 2005
Das kürzlich erschienene »Plädoyer für eine Gesellschaft des Respekts« von Olaf Scholz in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung skizziert, welche Lehren der SPD-Kanzlerkandidat aus der Krise zieht und wie er sich den Sprung in die Zukunft vorstellt. Dabei hält er an den Irrtümern des »Dritten Weges« der 1990er Jahre fest. Die Formel des »Respekts« dient hier vor allem als Platzhalter, um zu kaschieren, dass es für eine gerechtere Verteilung keinen Plan gibt.
Und doch: Der Text versucht, den ganz großen Bogen zu spannen. Die deutsche Geschichte, die USA, philosophische Fragen – alles findet hier seinen Platz. Scholz beginnt mit dem Zusammenbruch von Lehman Brothers im Jahr 2008. Anschließend taucht Trump in altgewohnter Position als Symptom für die Polarisierung der Gesellschaft auf und Biden als Hoffnungsschimmer für die demokratischen Institutionen. Die heraufbeschworene Spaltung wird hier erzählt als Konflikt konkurrierender Gesprächskulturen. Der Tenor ist bekannt: Wir müssen uns wieder zu hören, aussprechen lassen, empathisch sein. Am Ende ist alles nur eine Frage der Kommunikation, werte Genossinnen und Genossen!
Das wohl Bemerkenswerteste an Scholz’ Text ist, dass der gesellschaftliche Wandel der letzten Jahrzehnte erzählt wird, als wäre dieser wie eine Naturgewalt über uns hereingebrochen. Veränderung kommt und geht hier wie das Wetter. Kein Wort darüber, wie die arbeitenden Menschen »in wenig gesicherter Existenz« auch von den Arbeitsmarktreformen und dem massiven Ausbau von Kurzarbeit betroffen sind, die Schröders SPD in den 2000er Jahren federführend angeleitet hatte, und an deren Grundzügen weiterhin festgehalten wird. Und auch kein Wort darüber, wie diese Reformen eine Umverteilung nach oben veranlasste, die bis heute andauert.
Das bringt uns zu Scholz’ großangelegtem Lösungsvorschlag: »Die Würde der Arbeit, der Stolz auf den Beruf« müsse zurück in das Bewusstsein gebracht werden. Der Fokus auf »Verteilungsgerechtigkeit« ging schon zu lange zu Lasten der »Beitragsgerechtigkeit«, wie Scholz die Begriffe des amerikanischen Philosophen Michael Sandel nach eigenen Angaben »umständlich« ins Deutsche überführt. Das Problem seien nicht etwa die seit Jahrzehnten stagnierenden Löhne bei gleichzeitig exponentiell steigenden Kapitaleinkünften. Das Problem sei auch nicht, dass gewerkschaftlich gesicherte Stellen schwinden, während Jobzuwachs sich vor allem auf prekäre Stellen bezieht. Das Problem ist lediglich, dass die Menschen nicht genug Anerkennung erfahren würden.
Mit der Phrase des Respekts hat sich während der Pandemie schon einmal die Bundesregierung klar aus der Forderung heraus gerungen, den Beschäftigungen in systemrelevanten Berufen – wie etwa dem notorisch unterbezahlten Pflegepersonal – langfristige materielle Besserstellung zu gewähren. Stattdessen wurden temporär Boni gezahlt, die einige bis heute noch nicht erhalten haben, und eine massive Image-Kampagne gefahren, in der sich die bundesrepublikanische Öffentlichkeit für die erzwungene Risikobereitschaft bedankte. Dass das noch im Bundestag beklatscht wurde, war die Krönung des Zynismus. Bis heute liegt kein vollständiger Impfplan zur Versorgung derjenigen Berufe vor, die den Laden während der Pandemie am Laufen halten.
Gegen Ende seines Beitrags schlägt Scholz dann allerdings doch noch den Haken zur Umverteilung, indem er einen Mindestlohn von 12 Euro vorschlägt – alles drunter sei respektlos. Er unterschlägt dabei geflissentlich, dass auch diese Untergrenze nach 45 vollen Beitragsjahren noch nicht vor Altersarmut schützt (dafür müssten es um die 12,63 Euro sein). Und für diejenigen, die in den letzten Jahren für 8,50 Euro haben arbeiten müssen, kommt auch das zu spät. Wieder wird Joe Biden zum Kronzeugen berufen, der ja auch mit einem Mindestlohn in den Wahlkampf gezogen ist. Nur leider regt er keinen präsidialen Finger, wenn es darum geht, diesen Mindestlohn auch einzuführen. Stattdessen ist es Bernie Sanders, der sich unentwegt für Corona-Zahlungen und den Mindestlohn einsetzt.
Dieses spärliche materielle Zugeständnis bei Scholz wirft vor allem Fragen auf: Wenn er darüber sinniert, dass Respekt »für gleichwertige Lebensverhältnisse in allen Regionen« sorgen wird, wie genau stellt er sich das vor? Den Kohlearbeitern nach der großen Transformation einen »guten« Job anzubieten ist ja sicher richtig. Doch aus der Erfahrung der letzten Jahrzehnte wissen die meisten Arbeiterinnen und Arbeiter, dass die »guten« Jobs der SPD eher die wirklich miesen waren. Dass Hartz IV nur »überwunden«, aber nicht abgeschafft werden soll und sich auch nicht ernsthaft und auf Knien dafür entschuldigt wird, ist dabei nur eine weitere Farce in diesem Spektakel um Respekt.
Was sich in Scholz’ Schlingerkurs zwischen Anerkennung- und Verteilungspolitik ebenso spiegelt, ist die Identitätskrise seiner Partei. Diese zeigte sich kürzlich erst wieder besonders öffentlich in der entflammten Debatte um Wolfgang Thierse, der in einem Beitrag in der FAZ ebenfalls für mehr Gemeinsinn geworben hat, das aber mit einer Kritik an der Identitätspolitik verknüpfte. In gewisser Weise will er also auf das Gleiche hinaus wie Olaf Scholz, nur traf sein Beitrag auf mehr Resonanz, weil er sich explizit gegen »linke Identitätspolitik« richtet. Diese, so Thierse, spiele Minderheiten- gegen Mehrheitsinteressen aus.
Die Krux seiner Argumentation besteht nun nicht darin, dass er mit der Kritik an übertriebener Identitätspolitik nicht recht hätte. Tatsächlich trifft er einen Punkt, wenn er behauptet, dass die Anerkennung von Diversität nicht gegen Solidarität ausgespielt werden darf. Davor warnen auch viele Linke. Doch Thierse scheitert daran, den Gemeinsinn der Mehrheit an mehr als einem Kommunikationsstil festzumachen – und bleibt so ähnlich planlos wie Scholz.
Was beide verschweigen ist, dass sie für eines der größten Verbrechen gegen den Gemeinsinn mitverantwortlich waren. Da ist es schon einigermaßen dreist, dass sich Thierse gegen Gendersternchen positioniert und behauptet, er sei ein »Symbol der normalen Leute«. Wenn es ein solches Symbol geben sollte, dann sind das dieser Tage eher die Pflegerinnen, aber sicherlich nicht ein sozialdemokratischer Politiker, der seit Jahrzehnten deren Arbeitsbedingungen verwaltet.
Anstatt also eine künstliche Debatte um die Kommunikationsstile eines »Wir« zu konstruieren, sollte die SPD eher die politischen Ursachen ihres Verfalls angehen: das Aufgeben einer rigorosen Umverteilungspolitik seit dem massenhaften Betrug während der Agenda-Politik. Scholz’ Ruf nach Respekt hält jedoch letztlich an Schröders Drittem Weg fest: Während die Umverteilung nach oben und Prekarität nach unten weitgehend unangetastet bleiben, dürfen wir uns immerhin ein bisschen besser fühlen. Tatsächlich gibt es im Englischen auch für die politische Mobilisierung von Respekt einen umständlichen Begriff: politischer Tokenismus.
Ines Schwerdtner ist seit Oktober 2024 Bundesvorsitzende der Linkspartei. Von 2020 bis 2023 war sie Editor-in-Chief von JACOBIN und Host des Podcasts »Hyperpolitik«. Zusammen mit Lukas Scholle gab sie 2023 im Brumaire Verlag den Sammelband »Genug! Warum wir einen politischen Kurswechsel brauchen« heraus.