12. Oktober 2021
Wie schon »Parasite« zeigt »Squid Game« auf Netflix die Schrecken des ungleichen Südkorea – und räumt dabei mit dem kapitalistischen Mythos von Wohlstand durch harte Arbeit auf.
Die Teilnehmer von Squid Game merken schnell, dass es um Leben und Tod geht.
Während die südkoreanische Unterhaltungsindustrie international in erster Linie für ihren fröhlichen, massentauglichen K-Pop bekannt ist, haben in den letzten Jahren auch eine Handvoll Filme und Serien internationale Aufmerksamkeit erlangt. Die Filmexporte des Landes sind allerdings sehr viel düsterer als die Musikschlager und befassen sich entweder ganz direkt oder allegorisch mit den grauen Realitäten des kapitalistischen Lebens in Südkorea.
Die neueste Serie des Genres ist das dystopische Überlebensdrama Squid Game, das auf dem besten Weg ist, die meistgesehene Serie auf Netflix zu werden. Wie Bong Joon-hos Oscar-prämierter Film Parasite (2019) und das Netflix-K-Drama Extracurricular (2020) spiegelt Squid Game die wachsende Unzufriedenheit mit der sozialen und ökonomischen Ungleichheit in Südkorea wider.
Die südkoreanische Wirtschaft, die als einer der vier »asiatischen Tigerstaaten« bezeichnet wird, hat, nachdem sie im Anschluss an den Koreakrieg eine rasante Industrialisierung erlebt hatte, in den letzten sechzig Jahren enorme Veränderungen durchgemacht. 1960 lag Südkorea mit einem Pro-Kopf-Einkommen von 82 Dollar hinter wirtschaftlich ausgebeuteten und verarmten Ländern wie Ghana, Senegal, Sambia und Honduras. Erst als der Diktator Park Chung-hee 1961 an die Macht kam, erlebte das Land ein enormes Wirtschaftswachstum. Bekannt als das »Wunder vom Han-Fluss«, entwickelte sich Südkorea innerhalb weniger Jahrzehnte zu einer der führenden Volkswirtschaften der Welt.
Zwar hat das Wirtschaftswachstum in Südkorea den Lebensstandard insgesamt erhöht, jedoch sind dabei viele Menschen unter die Räder gekommen. Die Selbstmordrate des Landes ist eine der höchsten der Welt. Ein Problem, das vor allem ältere Menschen betrifft, von denen fast die Hälfte unterhalb der Armutsgrenze lebt. Junge Menschen haben mit ihren eigenen Problemen zu kämpfen: darunter die Wehrpflicht, der zunehmende akademische Leistungsdruck und die schwindelerregende Arbeitslosigkeit (im Jahr 2020 lag die Jugendarbeitslosigkeit bei 22 Prozent). Die junge Generation für diese Gesellschaft mit hohem Stress und eingeschränkten Möglichkeiten einen Begriff geprägt: »Hölle Joseon« – in satirischer Anspielung auf die streng hierarchische Joseon-Dynastie, die das moderne Südkorea hinter sich lassen sollte.
Während Millionen von einfachen Leuten ums Überleben kämpfen, haben die Eliten des Landes die Wirtschaft fest im Griff. Die südkoreanische Wirtschaft funktioniert auf der Grundlage von sogenannten Chaebols – Unternehmenskonglomeraten im Besitz einer Handvoll reicher und mächtiger Familien. Einst dafür gelobt, die Nation aus der Armut zu führen, sind die Chaebols heute der Inbegriff des von konsequenzenloser Korruption geprägten Monopolkapitalismus. Zu den größten Chaebols des Landes gehört Samsung, dessen Geschäftsführer Lee Jae-yong im August 2021 aus dem Gefängnis entlassen wurde, nachdem er nur die Hälfte seiner zweijährigen Haftstrafe wegen Bestechung und Veruntreuung abgesessen hatte. Die südkoreanische Regierung rechtfertigte seine Freilassung mit der Bedeutung Lees für die Wirtschaft des Landes.
Die extreme Ungleichheit des Landes ist das zentrale Thema von Squid Game. In der Serie tritt eine Gruppe verschuldeter Kandidatinnen und Kandidaten in einer Reihe von Kinderspielen gegeneinander an, von Rotes Licht, grünes Licht (dt. Donner, Wetter, Blitz) bis zum traditionellen koreanischen ppopgi (Dalgona Süßigkeiten-Wettbewerb), um 38 Milliarden südkoreanische Won (etwa 27,5 Millionen Euro) zu gewinnen. Die Sache hat nur einen Haken: In jedem Spiel geht es um Leben und Tod. Versagt man, wird man auf der Stelle getötet – wobei das Risiko des Ausscheidens mit jeder Runde steigt. Jedes Mal, wenn ein Spieler getötet wird, fließt zusätzliches Geld in den Gewinntopf, der in Form eines riesigen, schwebenden Sparschweins in der Mitte des Schlafsaals der Spieler aufgehangen wird.
Die ganze Zeit über ergötzt sich eine Gruppe ultrareicher globaler Eliten an den kläglichen Versuchen der Spielenden, das Preisgeld zu gewinnen. Die Reichen wetten auf die Überlebenden, so wie der Protagonist der Serie, Gi-hun, einst durch Wettspiele in den Schulden versank, die sein Leben ruinieren sollten – ein treffendes Bild für das klassenspezifische Regelwerk des Kapitalismus: ein Satz Regeln für die Reichen und ein ganz anderer für die Armen.
Squid Game unterscheidet sich von anderen dystopischen Serien wie Battle Royale und The Hunger Games darin, dass sie sich explizit auf Klasse und soziale Ungleichheit bezieht, insbesondere im Kontext des modernen Südkorea. In der zweiten Folge kehren die Charaktere in ihren Alltag zurück, nachdem sie dafür gestimmt haben, das Spiel abzubrechen. Doch die zermürbenden Lebensbedingungen und die erdrückenden Schulden locken sie unweigerlich zurück: Wenn sie schon unter dem Kapitalismus leiden müssen, dann können sie auch gleich auf das Preisgeld setzen, das ihr Leben zu ändern verspricht. Die unausweichliche Hölle Joseon heraufbeschwörend, lautet der Titel der Folge auch »Hölle«.
Gi-hun steht im Mittelpunkt der Serie. Er ist arbeitslos und aufgrund seiner Spielsucht obendrein verschuldet. An den Spielen nimmt er in der Hoffnung teil, die Arztrechnungen seiner sterbenden Mutter begleichen zu können und für seine Tochter zu sorgen, damit diese nicht mit ihrer Mutter in die USA auswandert.
Im weiteren Verlauf der Serie stellt sich heraus, dass Gi-huns finanzielle Probleme auf den Rausschmiss aus seinem Job zurückgehen. Der Autor und Regisseur von Squid Game, Hwang Dong-hyuk, gab an, die Streikenden im Ssangyong-Motoren-Werk im Jahr 2009 seien Vorbild für Gi-huns Charakter gewesen. Nach anhaltenden Übergriffen der Polizei endete dieser Streik mit einer Niederlage. In Rückblenden erfahren wir, dass sich Gi-hun und ein Teil seiner Kollegen nach der Entlassung über Nacht im Lagerhaus von Dragon Motors verbarrikadierten. Streikbrecher brachen daraufhin die Türen auf und schlugen mit Schlagstöcken auf die Streikenden ein. Sie prügelten Gi-huns Kollegen vor seinen Augen zu Tode. Während dieser Szene gewaltsamer Unterdrückung der Arbeiter verpasst Gi-hun die Geburt seiner Tochter.
Südkorea hat eine lange Geschichte arbeiterfeindlicher Praktiken, die oft extrem und manchmal auch gewalttätig sind. Erst vor einem Monat wurde der Präsident des größten Gewerkschaftsverbandes des Landes (KCTU) unter dem Vorwand festgenommen, er habe bei einer Kundgebung in Seoul gegen die Corona-Vorschriften verstoßen. Höchstwahrscheinlich geriet er ins Visier, weil er ein Maß an gewerkschaftlicher Militanz an den Tag gelegt hatte, das die Regierung beunruhigte. Er ist der dreizehnte KCTU-Vorsitzende in Folge, der inhaftiert wird.
Squid Game spielt zwar auf den jüngsten Streik bei Ssangyong Motors im Jahr 2009 an, der gewaltsame Klassenkampf zieht sich jedoch seit Jahrzehnten durch die südkoreanische Geschichte. So begannen 1976 die Arbeiterinnen der Dong-Il-Textilfabrik einen fast zwei Jahre dauernden Kampf für faire und demokratische Gewerkschaftswahlen, bei dem sie mit massiver Polizeibrutalität und Übergriffen von Streikbrechern konfrontiert waren. Der Kampf gipfelte in einem Angriff von Gewerkschaftsgegnern, die vom südkoreanischen Geheimdienst unterstützt wurden und menschliche Exkremente auf die Arbeiterinnen warfen, die versuchten, an den Gewerkschaftswahlen teilzunehmen. Dong-Il veranschaulicht gleich mehrere Themen der Arbeitergeschichte Südkoreas: die arbeiterfeindliche Politik der Regierung, den Krieg der Unternehmen gegen die Arbeiterinnen, die Gewalt gegen Frauen sowie gegen die »gelbe« (ordoliberale) Betriebsgewerkschaft des südkoreanischen Gewerkschaftsbundes (FKTU). Auch die letzten fünfzig Jahre südkoreanischer Arbeitergeschichte seit diesem Streik waren nicht weniger brutal.
In der vierten Folge »Eine gerechte Welt« wird ein Kandidat beim Betrügen erwischt. Er und seine Mitverschwörer werden kurzerhand hingerichtet. Der Spielleiter hält daraufhin eine leidenschaftliche Rede, in der er den gesamten Prozess mit der Leistungsgesellschaft gleichsetzt und sich selbst als wohlwollenden Verteiler von Chancen darstellt. »Diese Menschen haben in der realen Welt unter sozialer Ungleichheit und Diskriminierung gelitten«, sagt er, »und wir geben ihnen eine letzte Chance, fair zu kämpfen und zu gewinnen.«
Obwohl dieses Ideal der Meritokratie in kapitalistischen Gesellschaften universell gelten mag, findet es in der südkoreanischen Kultur, die auf den Konfuzianismus zurückgeht, besonderen Anklang. Die Vorstellung, dass sich harte Arbeit auszahlt, ist in Südkorea nachwievor verbreitet, auch wenn immer mehr junge Menschen, die den schmalen Pfad des hochkompetitiven südkoreanischen Bildungssystems eingeschlagen haben, mit Arbeitslosigkeit, der Vorherrschaft der Chaebol und Ungleichheit konfrontiert werden.
Das »Wunder vom Han-Fluss« ist für viele zur »Hölle Joseon« geworden. Und wie schon Parasite zeigt nun auch Squid Game, dass sich im kapitalistischen Mythos des Landes Risse auftun.