13. November 2025
Auf dem Stahlgipfel versprach die Regierung Maßnahmen, um die Schlüsselindustrie vor chinesischem Stahl zu schützen. Doch Klagen über »unfaire« Praktiken Chinas sind scheinheilig, denn auch im Westen wird die Stahlindustrie seit jeher staatlich gestützt.

Gießer in der FWH Stahlguss GmbH in Mülheim an der Ruhr lassen Stahl in eine Gussform fließen, 24. November 2023.
Wenn Friedrich Merz und Lars Klingbeil ein grundsätzliches Bekenntnis zur freien Marktwirtschaft abgeben, kann man davon ausgehen, dass die Lage ernst ist. Nach den am vergangenen Donnerstag angekündigten Maßnahmen zum Schutz der deutschen Stahlindustrie hielten sie das aber für angebracht. Denn in Bezug auf diese Industrie soll, wenn man den Verlautbarungen des Kanzlers glaubt, mit freien Märkten erst mal Schluss sein. Das Ziel ist, die Industrie, deren »strategische« Wichtigkeit allseits betont wird, in Deutschland zu erhalten.
Zum sogenannten Stahlgipfel hatte Merz die Chefetagen der wichtigsten in Deutschland produzierenden Stahlunternehmen und Gewerkschaftsvertreter eingeladen. Dazu saßen die Ministerpräsidenten der wichtigsten Stahl produzierenden Bundesländer mit am Tisch. Von Seiten der Bundesregierung nahmen neben dem Vizekanzler auch Wirtschaftsministerin Reiche und Arbeitsministerin Bas teil.
Die hochkarätige Besetzung des Treffens unterstreicht die Dringlichkeit der Lage der Industrie. Allgegenwärtig war rund um den Stahlgipfel die Klage über subventionierten chinesischen »Billigstahl« zu hören, der aufgrund der hohen Schutzzölle in den USA den europäischen Markt flute. Dazu kommen hohe Energiepreise. Daher will Deutschland nun über Preiskontrollen beim Industriestrom in den Markt eingreifen und für öffentliche Infrastruktur nur noch europäischen Stahl kaufen. Dazu will man sich auf europäischer Ebene selbst für Schutzzölle einsetzen.
Carsten Brzeski von der ING Diba erhofft sich in diesem Zusammenhang, dass »der Begriff strategische Autonomie endlich mit Leben gefüllt wird«. Ob die angekündigten Maßnahmen das vor allem in Bezug auf China tatsächlich erreichen können, ist allerdings mehr als zweifelhaft. Auch die vom Stahl abhängigen Arbeitsplätze wurden zwar von Schwarz-Rot als Beleg für das allgemeine Interesse am Erhalt der Industrie angeführt, mit einer langfristigen Industriepolitik im Sinne der Beschäftigten haben die angekündigten Maßnahmen aber ebenfalls wenig zu tun. Der Stahlgipfel ist vielmehr eine Momentaufnahme des dauerhaften Aushandlungsprozesses zwischen Staat und Stahlindustrie über ihr gegenseitiges Verhältnis.
Was bei Merz und Klingbeil nach Zeitenwende und radikaler Staatsintervention klingt, ist in Wahrheit eher eine Feinjustierung von Maßnahmen, die in der Branche global üblich sind. Einen »freien Markt« im engeren Sinne gab es in der Stahlindustrie noch nie.
Das gilt nicht nur für China. Auch Indien, nach China der zweitgrößte Stahlproduzent der Welt, entwickelte seine Industrie nach der Unabhängigkeit im Rahmen von staatlich gesteuerten Fünfjahresplänen. In den USA übernahm Präsident Truman nach 1945 Preis- und Lohnkontrollen aus Kriegszeiten, um die Versorgung mit Stahl sicherzustellen. Diese Politik mündete in den Versuch der staatlichen Übernahme von US Steel 1952, um einen Streik in der für den Koreakrieg zentralen Industrie zu verhindern. Die britische Regierung wiederum hatte ihre Stahlproduktion bereits 1949 verstaatlicht, da die privaten Unternehmen vor teuren Modernisierungsmaßnahmen zurückschreckten.
»Staatliche Intervention zur Sicherstellung von strategisch wichtiger Produktion und zur Förderung von Modernisierungsmaßnahmen hat auch im kapitalistischen Westen eine lange Geschichte. Sie passiert auch in Deutschland längst.«
Das vorerst letzte Kapitel in der seither folgenden Auseinandersetzung um Re-Privatisierung und erneute Verstaatlichung wurde erst in diesem Sommer geschrieben, als die britische Regierung notbehelfsmäßig die Kontrolle über das Stahlwerk Scunthorpe übernahm, um seine Schließung zu verhindern. Die Übernahme folgte fast exakt ein Jahr nachdem der italienische Staat das Ilva-Stahlwerk in Taranto mit Liquiditätsspritzen vor der Insolvenz gerettet hatte.
Staatliche Intervention zur Sicherstellung von strategisch wichtiger Produktion und zur Förderung (oder Erzwingung) von Modernisierungsmaßnahmen hat also auch im kapitalistischen Westen eine lange Geschichte. Sie passiert auch in Deutschland längst: Die nun angekündigte Einführung des Industriestrompreises etwa gestaltet sich auch deshalb so kompliziert, weil über die Strompreiskompensation bereits ein EU-Mechanismus zur Unterstützung für die deutsche Stahlindustrie besteht, und die Europäische Union hier Doppelsubventionen verbietet. Noch 2023 versprach Wirtschaftsminister Habeck trotz notorisch angespannter Haushaltslage in der Ampel-Koalition 2,6 Milliarden Euro für die Umstellung auf Grünen Stahl.
Das Thema Grüner Stahl bestimmte noch den Stahlgipfel 2024, dieses Jahr war allerdings auffällig wenig davon zu hören. Stattdessen verlegte man sich im Zeichen der Trump-Zölle auf den Klassiker: die »strategische Bedeutung« der Stahlindustrie. Gemeinsam ist beiden Themen, dass sie den Befürwortern des freien Marktes einen Legitimationsrahmen für massive staatliche Unterstützung einer privaten Industrie liefern – auch bei knapper Haushaltslage.
Sachlich ist die Einordnung der Stahlbranche als »Schlüsselindustrie« sicher richtig. Moderne kapitalistische Gesellschaften sind keinesfalls »post-industriell«. Die Maschinen zur Herstellung praktisch jedes Produktes in unserem Alltag bestehen zu großen Teilen aus Stahl, dazu enthalten selbst 75 Prozent aller Konsumgüter das Material in der einen oder anderen Form. Ohne verlässlichen Zugang zu diesem Werkstoff bekommt eine Industriegesellschaft gewaltige Probleme, wie eine Studie der Hans-Böckler-Stiftung jüngst auch für Deutschland berechnete. Und auch der Verweis auf die Wichtigkeit für die Rüstungsindustrie darf dieser Tage natürlich in keiner Meldung fehlen.
Dass die Wettbewerbsbedingungen der Stahlindustrie maßgeblich am Kabinettstisch entschieden werden, ist schlicht die andere Seite ihres Charakters als strategischer, also fundamental politischer Industrie. Denn so zentral die Stahlindustrie auch für die Volkswirtschaft ist, so instabil sind ihre betriebswirtschaftlichen Grundlagen. Die Kapitalkosten in der Industrie sind enorm, die Risiken hoch. Die Umsätze der Industrie schwanken gewaltig, und das nicht nur, weil wichtige Abnehmerindustrien wie Bau- und Autobranche selbst sehr konjunkturabhängig sind.
»Eine autarke Versorgung der deutschen Wirtschaft mit einheimischem Stahl dürfte wirtschaftlich kaum realistisch sein. Die Branche ist schlicht nicht groß genug.«
Moderne integrierte Hüttenwerke optimieren die Effizienz ihrer internen Produktionsprozesse und Energiekreisläufe maximal. Energieüberschüsse aus einem Produktionsschritt werden im nächsten genutzt. Was Werke etwa in Bremen oder Duisburg einerseits so effizient macht, macht sie andererseits enorm anfällig für Schwankungen in Rohstoff-, Energie- oder Absatzmärkten. Die Tatsache, dass ein Hochofen dauerhaft in Betrieb sein muss, ist dabei nur die Spitze des Eisbergs: Jede suboptimale Auslastung eines Produktionsschrittes kann die feine Abstimmung der Prozesse durcheinanderbringen.
Dass das technische Optimum eines Hüttenwerkes keineswegs in jeder Marktlage seinem betriebswirtschaftlichen Optimum entspricht, haben Arbeitshistoriker wie Thomas Welskopp gezeigt. Wenn die Preise fallen, kann nicht einfach weniger produziert werden, ohne die Produktionskosten überproportional zu erhöhen. Überkapazitätskrisen sind der Lebensfluch der modernen Stahlindustrie. »Billiger« chinesischer Stahl auf europäischen Märkten ist nur das jüngste Kapitel in dieser Geschichte.
Die Beschwerden über chinesische Subventionen, wie etwa vom CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann, sind daher scheinheilig. Ohne irgendeine Form staatlicher Unterstützung und Absicherung wäre die wichtigste betriebliche Einheit der modernen Stahlindustrie, das integrierte Hüttenwerk, ökonomisch nirgendwo überlebensfähig. Das chinesische Modell der staatlich gesteuerten Industriepolitik passt schlicht sehr gut zu den Branchenbedingungen einer »strategischen« Industrie. Deutsche Experten müssen sich hingegen vorerst damit zufriedengeben, dass die Versprechen des Kanzlers für Zuversicht und damit für eine Senkung der Kapitalkosten sorgen.
Mit einem Bekenntnis zu umfassender Industriepolitik sollte man die Äußerungen im Nachgang des Stahlgipfels also nicht verwechseln. Auch die markigen, mit geopolitischer Rhetorik garnierten Äußerungen zur strategischen Autonomie Deutschlands versteht man besser als Teil der ständigen Aushandlung zwischen Stahlindustrie und Staat um das genaue Verhältnis ihrer gegenseitigen Integration, statt als tatsächlich neues politisches Programm.
Eine autarke Versorgung der deutschen Wirtschaft mit einheimischem Stahl dürfte wirtschaftlich ohnehin kaum realistisch sein. Die Branche ist schlicht nicht groß genug. Allein das größte staatliche chinesische Stahlunternehmen, China Baowu, produziert mehr Rohstahl als die ganze Europäische Union zusammen. Um hier auch nur ansatzweise konkurrenzfähig zu werden, wäre in Deutschland staatliche Intervention in völlig anderen Dimensionen nötig. Die Betonung der Schlüsselrolle der Stahlindustrie passiert zwar unter dem Schlagwort der strategischen Autonomie, macht aber in der derzeitigen Lage im Gegenteil eher die Wichtigkeit der internationalen Kooperation deutlich. Aufs erste wird man sich also wohl oder übel weiterhin mit dem Rest der Welt, und vor allem China, verständigen müssen.
»Selbst wenn morgen im Ruhrgebiet ungeahnte neue Kohlevorkommen entdeckt würden, werden massenweise Industriefachkräfte in Deutschland wohl kaum aus dem Boden wachsen.«
Gegen deren »Billigstahl« haben andere Teile der deutschen Industrie auch wenig einzuwenden. Der ist nämlich, anders als die Formulierung impliziert, keinesfalls qualitativ minderwertiger, sondern entspricht vergleichbaren Industrienormen wie europäischer Stahl. Ein Sprecher des Verbandes der Automobilindustrie zollte daher gegenüber der Tagesschau im Vorfeld des Stahlgipfels zwar dem geopolitischen Diskurs rhetorischen Tribut, warnte aber eindringlich vor höheren Produktionskosten bei der Benachteiligung von Stahlimporten.
Wirklich katastrophal wären die Auswirkungen eines Endes der deutschen Stahlindustrie für die knapp 80.000 unmittelbar in ihr Beschäftigten. Deren Vertreter saßen in Berlin zwar mit am Tisch, wurden medial aber vor allem zur Bereitstellung der emotionalen Komponente der Story degradiert. Dabei sind die Belegschaften der Stahlindustrie wahrscheinlich ihr wichtigstes Erfolgskriterium.
Die Arbeit im Hüttenwerk und in der angrenzenden Produktion erfordert hochqualifizierte und eng kooperierende Belegschaften, die, entgegen manchem Klischee vom Industriearbeiter, mit viel Eigeninitiative im Produktionsprozess mitwirken. Hier vorhandenes institutionelles Erfahrungswissen lässt sich nicht innerhalb weniger Jahre aufbauen, wie auch die Stahlgiganten Indien und China in der Frühphase ihrer Industrialisierung schmerzhaft lernen mussten.
Heute ist das Verhältnis anders: Die große Menge an hochqualifizierten Industriefachkräften in China wird nicht über Nacht verschwinden, Schutzzölle und Industriestrompreis hin oder her. Und selbst wenn morgen im Ruhrgebiet ungeahnte neue Kohlevorkommen entdeckt würden, werden massenweise Industriefachkräfte in Deutschland wohl kaum aus dem Boden wachsen. Dafür bräuchte es umfangreiche und langfristige Maßnahmen, die zwangsläufig die Arbeitnehmerseite in den Mittelpunkt der Politik stellen müssten. Und das ist Merz und Klingbeil, bei aller neuen radikalen Rhetorik, wohl eher nicht zuzutrauen.
Karl Müller-Bahlke forscht als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Göttingen zur postkolonialen Geschichte der Stahlindustrie. Von 2022 bis 2025 war er Bundesvorsitzender der SJD – Die Falken.