07. Februar 2022
Gewerkschaften spielen eine Schlüsselrolle, wenn es um Wachstum und Innovationen geht. Sie machen die Gesellschaft nicht nur gerechter, ihre Forderungen sind auch gesamtwirtschaftlich sinnvoll.
Metall-Arbeiter fordern 6,5 Prozent mehr Gehalt, 2012.
Neoliberaler Ideologie zufolge sind Lohnsteigerungen und Tarifbindungen Gift für die Wirtschaft. Denn die Wirtschaft braucht Wettbewerbsfähigkeit und Preisflexibilität an allen Fronten. Wer den Unterschied zwischen Volkswirtschafts- und Betriebswirtschaftslehre nicht kennt und deshalb so argumentiert, der wählt aufgrund ihrer „höheren Wirtschaftskompetenz“ wahrscheinlich die CDU oder FDP. Die Parteien haben es schließlich gemein (zusammen mit der AfD), dass man glaubt, niedrige Kosten und Wettbewerbsfähigkeit für alle seien die Basis der Prosperität. Aus gesamtwirtschaftlicher und dynamischer Perspektive hingegen könnte diese Sicht nicht falscher sein, denn höhere Löhne und maximale Tarifbindung sind in der Tat ein integraler Bestandteil wirtschaftlicher Entwicklung.
Zunächst wäre da die essenzielle Bedingung einer rigiden Lohnpolitik zur Stabilisierung der Inflationsrate. Die Entwicklung der sogenannten Lohnstückkosten, das heißt der Löhne im Verhältnis zur Produktivität, bestimmt über mittlere Sicht die Inflation. Das wissen mittlerweile alle modernen Zentralbanken und auch die Forschungsabteilungen bei Organisationen wie dem IWF oder der OECD. Das bedeutet, für eine stabile Inflationsrate braucht es eine Lohnpolitik, die der goldenen Lohnregel folgt: die Löhne müssen in dem Maße steigen, wie es der Zielinflationsrate und dem erwarteten Zuwachs der Produktivität entspricht. Das heißt, bei einer gewünschten Inflation von 2 Prozent und einem erwarteten Produktivitätswachstum von 1 Prozent, müssen die Löhne um 3 Prozent steigen. Tun sie das nicht, haben wir das, was wir in Europa 15 Jahre lang hatten: Deflation.
Eine niedrige, aber stabile Inflationsrate macht es für die Unternehmen einfacher zu planen, da etwaige Änderungen des Leitzinssatzes seltener werden und eine höhere Gewissheit über die Entwicklung des Realzinses besteht, also des nominalen Zinses minus der Inflationsrate. Zum anderen ist die Lohnpolitik jedoch auch für die Forcierung eines innovativen Wettbewerbs entscheidend. Wenn die Unternehmen nämlich wissen, dass sie ihre Wettbewerbsfähigkeit nicht durch eine einfache Lohnsenkung erhöhen können, bleiben Investitionen und damit einhergehend eine höhere Produktivität der einzige Ausweg, um langfristig im Markt zu überleben. Das ist die Grundlage, auf derer die Industrienationen ihren Wohlstand erwirtschafteten und ein Land wie China innerhalb von 50 Jahren von einem Agrarstaat zu einem Land wurde, welches in Hightech Branchen die Standards setzt. Hätten wir dies in Deutschland und in Europa begriffen, wären wir nicht in der Investitionsbredouille, in der wir uns heute befinden.
Schauen wir uns mal die grundlegenden Mechanismen wirtschaftlicher Entwicklung aus einzelunternehmerischer Sicht an (zunächst in einer geschlossenen Volkswirtschaft, also ohne internationalen Handels- und Kapitalströme): Nehmen wir an, wir stünden mit anderen Unternehmern in einem Sektor im Wettbewerb und die Inputpreise für die Produktion wären für alle ähnlich. Die Preise für Rohstoffe werden auf den internationalen Märkten bestimmt, der Zins wird von einer unabhängigen Zentralbank gesetzt, und die Lohnkosten sind durch Tarifverträge für alle Unternehmen gleich. Dem österreichischen Entwicklungsökonomen Schumpeter zufolge erzielt ein Unternehmen nur dann einen Gewinn, weil es sich – unter sonst gleichen Bedingungen für alle Konkurrenten auf dem Markt – einen relativen Kostenvorteil gegenüber der Konkurrenz erarbeitet hat. Das wiederum bedeutet, dass eine Firma sich in der Vergangenheit durch eine Investition und die daraus resultierende Neukombination einen Produktivitätsvorteil erarbeitet hat. Dadurch, dass nun die Wettbewerber den Pionier imitieren werden, um selbst zu überleben, werden die Produktionsstrukturen in der Wirtschaft insgesamt erneuert und so der materielle Lebensstandard der Menschen verbessert.
Die Lohnpolitik spielt dabei in mehrere Richtungen eine wichtige Rolle. Erstens muss sie schlicht sicherstellen, dass die Firmen, die unter Druck geraten, ihre Wettbewerbsfähigkeit nicht dadurch erhöhen können, dass sie einfach die Löhne senken. Es geht darum, dass sich die Neukombination durchsetzt und nicht darum, dass das Alte künstlich am Leben erhalten wird. Zweitens muss die Politik dafür sorgen, dass die Löhne in der gesamten Volkswirtschaft steigen, damit die Produktivitätsfortschritte allen zugutekommen. Dies erzeugt eine dynamische Nachfrage und wird abgesehen davon der Tatsache gerecht, dass es sich bei der Produktionsleistung eines Landes um einen kollektiven Prozess handelt. Selbst wenn der Produktivitätsfortschritt in einem Unternehmen oder in einem Sektor seinen Ursprung haben mag, so könnte doch niemand dort auch nur drei Tage überleben, wenn es nicht die Leistung anderer, nicht direkt am Produktionsprozess beteiligter Sektoren gäbe, wie beispielsweise den Supermärkten, dem Gesundheitswesen oder sonstiger Dienstleistungen. Es ist somit auch eine Frage der Gerechtigkeit, alle Menschen in dem Land am technologischen Fortschritt teilhaben zu lassen, ohne, dass es messbar wäre, wer jetzt wie viel zum Fortschritt beigetrage hat.
Drittens dienen steigende Löhne als Produktivitätspeitsche, denn wenn die Unternehmen wissen, dass Arbeit im Laufe der Zeit teurer wird, werden sie aus einzelwirtschaftlicher Sicht alles daransetzen, dass ihre Produktivität steigt, denn nur so können sie ihre Wettbewerbsfähigkeit erhöhen. Produktivitätssteigerungen durch Investitionen und Lohnwachstum bedingen sich somit gegenseitig und treiben eine schumpeterianische Erneuerung der Produktionsstrukturen voran. Dies wiederum steigert die Gesamtproduktivität und den materiellen Lebensstandard, wobei die Stabilisierung der Nachfrage durch die Lohnsteigerungen in der Volkswirtschaft insgesamt dazu führt, dass eine kapitalintensivere Produktion nicht mit einer Steigerung der Arbeitslosigkeit einhergeht, wie sie oft bei der Einführung neuer Technologien gefürchtet wird.
China ist das beste Beispiel dafür, wie ein solcher Prozess in der Praxis abläuft. Bei aller berechtigter Kritik über die Lage der Menschenrechte, die Ausbeutung der Ressourcen oder galoppierende Ungleichheiten, es besteht kein Zweifel, dass es in der Geschichte der Menschheit nie ein Land gab, das in der Geschwindigkeit und in dem Ausmaß den Lebensstandard des Großteils seiner Bevölkerung steigern konnte. Eine rigorose Lohnpolitik war dabei der entscheidende wirtschaftspolitische Hebel, allen voran die kontinuierliche Erhöhung des Mindestlohns. Allein zwischen 2004, dem Jahr, als das Ministerium für Arbeit und soziale Sicherheit in China begann, die Zügel beim Mindestlohn anzuziehen, und 2014 – also während des Jahrzehnts, in dem sich China endgültig als ökonomische Weltmacht etablierte – verdreifachte sich der nominale durchschnittliche Mindestlohn (real, also inflationsbereinigt, stieg der Mindestlohn um 120 Prozent, was einer durchschnittlichen jährlichen Wachstumsrate von 8,4 Prozent entsprach). Die Reallöhne legten 2004–2014 ebenfalls deutlich zu. In den städtischen Regionen lag das Wachstum bei durchschnittlich 10,4 Prozent pro Jahr. Die Produktivität wuchs mit 9,6 Prozent. Das stärkste Reallohnwachstum fand dabei in der Industrie statt – es stieg 2003–2013 um durchschnittlich 176 Prozent. Die arbeitsintensivsten Sektoren waren die Sektoren, in denen die Reallöhne am stärksten wuchsen, wie beispielsweise im Textilbereich (242 Prozent), in der Holzindustrie (227 Prozent) oder Lebensmittelverarbeitung (216 Prozent). Dies lag vor allem daran, dass durch die Lohnerhöhungen eine Abwanderung der Arbeiterschaft in besser bezahlte Sektoren vermieden werden sollte. In den 5-Jahresplänen der chinesischen Regierung gehören die Ziele zur Steigerung des Mindestlohns und der Haushaltseinkommen dazu wie das Siegel der kommunistischen Partei auf dem Papier. Allein aufgrund dieser Politik ist es in China in den vergangenen Jahren möglich gewesen, sich von der Exportabhängigkeit zu lösen und sich auf die Entwicklung des riesigen Binnenmarkts zu fokussieren.
Hohe Tarifbindung und steigende Löhne sind somit nicht nur gewisse »Extras«, die die Firmenbosse an ihre Beschäftigten opfern können, damit die Gesellschaft nicht zu ungleich wird und aus dem Ruder läuft. Nein, aus einer gesamtwirtschaftlichen Perspektive gibt es keine Entwicklung und kein Wachstum, wenn die Löhne nicht steigen und Tarifverträge ausgehöhlt werden. Gewerkschaften sollten sich dieser Innovationsrolle bewusstwerden, denn gerade in Zeiten des Umbruchs und des Wandels werden sie wichtiger werden denn je.
Dies ist ein Auszug aus Patrick Kaczmarczyks Buch »Kampf der Nationen«, das gerade im Westend Verlag erschien.
Patrick Kaczmarczyk ist promovierter Ökonom und wirtschaftspolitischer Berater bei der UNCTAD.
Patrick Kaczmarczyk ist wirtschaftspolitischer Berater bei der UNCTAD und Autor des Buches »Kampf der Nationen«.