03. August 2021
In einer Zeit, in der Österreich den »Anschluss« an die Nazis suchte, holte die Wiener Schauspielerin Stella Kadmon den antifaschistischen Widerstand auf die Bühne.
Stella Kadmon, 11. März 1927
Ich fange ohne einen Groschen Geld an. Wenn keines da ist, kann man nicht pleitegehen – da haben wir nichts zu verlieren.« Mit diesen Worten gründete Stella Kadmon, eine junge jüdische und sozialistische Schauspielerin aus Wien, 1931 ihre eigene Kleinkunstbühne. Mit Wiener Schmäh und viel Mut verlieh sie der Theaterszene ein neues Gesicht. Heute ist Kadmon außerhalb Wiens beinahe völlig in Vergessenheit geraten. Und dass, obwohl Kadmon für ein gleichberechtigtes und offenes Theater eintrat – eine Forderung, die bis heute nicht eingelöst wurde, wie die aktuelle Debatte über Sexismus und MeToo-Vorfälle am Theater offenlegt.
Stella Kadmon fegte als »jüdische Josephine Baker« über die Wiener Revuebühnen der 1920er Jahre, bis sie dieser kostspieligen Theaterform den Rücken kehrte. Stattdessen gründete sie im Keller eines Kaffeehauses den »Lieben Augustin«. Dort erlebte das Publikum ein Programm, das zwischen politischer Provokation und Unterhaltung changierte. Je mehr der Nationalsozialismus erstarkte, desto schärfer fiel der gesellschaftskritische Einschlag aus. Kadmon verteidigte ihre Bühne gegen faschistisches Denken, bis sie 1938 zur Flucht gezwungen wurde. Dies hielt Kadmon dennoch nicht davon ab, sowohl im Exil in Palästina als auch nach ihrer Rückkehr nach Wien im Jahr 1947 weitere Theater zu gründen, die die Schrecken der NS-Zeit aufarbeiteten.
Nach Ende des Ersten Weltkriegs startete die Stadt Wien ein einzigartiges Projekt linker Utopie. Die Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SDAP) hielt dort von 1919 bis 1934 die absolute Mehrheit. Umfassende Sozialreformen schufen ein Modell, welches die ökonomischen Folgen des Krieges aufzufangen versuchte. Unter der Prämisse der sozialen Umverteilung sowie vollumfänglicher Bildung und nicht zuletzt um der demokratischen Freiheit willen, sollte sich das »proletarische Kollektiv zu Subjekten formen«, wie der Historiker Wolfgang Maderthaner anmerkt. Gleichzeitig propagierte die SDAP ein selbstbewusstes Frauenbild, welches etwa Berufstätigkeit und aktive politische Teilhabe vorsah.
Der feministische Handlungsspielraum blieb dennoch begrenzt. Eher wurde die Frau in der Rolle der fürsorgenden Mutter symbolisch überhöht. Der Zugang zu öffentlichen Ämtern blieb Frauen – bis auf einige Ausnahmen – weiterhin verwehrt. Das Verhältnis zwischen assimilierten jüdischen Menschen im städtischen Raum sowie der deutschnationalen Bewegung war ähnlich spannungsgeladen. Jüdische Menschen gestalteten das Kulturleben federführend mit, während antisemitische Hetze weiterhin salonfähig war.
Vor diesem Hintergrund erscheint Stella Kadmons Familie – jüdisch und kulturell interessiert – als »ur-wienerisch«. Die Mutter Malvine Kadmon wurde Pianistin und Musiklehrerin, nachdem ihre eigenen Eltern ihr »als Tochter aus gutem Hause« eine Schauspielausbildung verwehrt hatten.
Unter der Prämisse weiterhin Klavier spielen zu dürfen, folgte Malvine ihrem Mann in dessen Heimat Belgrad. Dieser hielt sein Versprechen jedoch nicht ein, sodass Malvine gemeinsam mit dem ersten Kind nach Wien floh und schließlich die Scheidung verlangte. Fortan widmete sie sich ganz der schauspielerischen Karriere Stella Kadmons.
Innerhalb der Familie wurde das Einstehen für die eigenen Ideale großgeschrieben, die jüdische Religion besaß geringeren Stellenwert. So war etwa der Bruder Richard als Ringer des jüdischen Sportvereins SC Hakoah unter anderem in Handgreiflichkeiten mit Antisemitinnen und Antisemiten verwickelt und das jüngste der drei Kinder, Otto, verteilte schon als Schüler Flugblätter gegen die Pflicht des Religionsunterrichts. In den 1930er Jahren resultierte dieses Engagement in der Unterstützung der kommunistischen Roten Hilfe. Stella Kadmon selbst beschrieb sich als entschiedene Pazifistin und nahm alljährlich an den sozialdemokratischen Demonstrationen zum 1. Mai teil, bis diese 1933 verboten wurden.
Nach der Schauspielausbildung an der Wiener Akademie für Musik und Darstellende Kunst feierte Kadmon erste Erfolge an europäischen Bühnen. Dort spielte sie oftmals kindliche und exotische Verführerinnen. Ihren Durchbruch hatte sie mit der Darstellung einer jungen Woman of Color, knapp bekleidet in einem losen Leopardenstoff. In einer folgenden Rolle in einer großen Wiener Revue trat sie als »Ersatz-Josephine-Baker« auf. Bakers Gastspiel 1928 hatte in Wien einen großen Hype ausgelöst. Kadmon gelang es jedoch nicht, daran anknüpfen. Der Regisseur der Revue entließ sie – scheinbar grundlos – mit den Worten, sie sei ein »Affe, der auf einen Baum gehöre«.
Von dieser Beleidigung schwer getroffen, trat Kadmon vermehrt als Solounterhalterin auf. Sie sang und tanzte in provokanten Outfits, war aber nie vollständig unbekleidet. Diese Art der Darbietung wurde von ihrem Publikum immer häufiger mit der Verfügbarkeit sexueller Dienstleistungen gleichgesetzt. So bot Kadmon auf einer Tournee ein fremder Mann für den gemeinsamen Abend einen Hundertmarkschein an – immerhin nach damaligen Maßstäben ein recht hoher Betrag. Kadmon reagierte geschockt, vor allem weil sich das Gefühl der Selbstbestimmtheit als trügerisch erwiesen hatte.
Nachdem sie in der »Katakombe« in Berlin ein politisches Kabarett besucht hatte, entschied sie, sich aus den Abhängigkeiten des Revuetheaters zu befreien. Kadmon war Feuer und Flamme, ein eigenes Kabarett zu gründen. Genau so etwas fehlte in Wien, wo die Revue zum Sinnbild eines kapitalistischen und sinnentleerten Theaters geworden war. Mit dem »Lieben Augustin« gab es in Wien ab 1931 dann daneben auch intelligente Unterhaltung für die breite Bevölkerung, ganz in Anlehnung an das Kulturverständnis des Roten Wiens. Gleichzeitig entsprach die düstere Atmosphäre des Kellertheaters vielmehr der Stimmung der Kunstschaffenden, die immens unter der wirtschaftlichen Krise der 1930er Jahre litten.
Die finanziellen Mittel waren knapp, doch das Ensemble wusste dies mit einem Konglomerat an unterschiedlichsten Kunstformen auszugleichen. Auf der Bühne des »Lieben Augustins« wurde getanzt, gesungen, gezeichnet, parodiert und vor allem gelacht. Mittels des sogenannten »Blitzens« entstanden auf Zuruf aus dem Publikum improvisierte Nummern, die tagesaktuelle Geschehnisse satirisch kommentierten.
Das Ensemble war ein offenes Kollektiv aus jüdischen, nicht-jüdischen und internationalen Kunstschaffenden. Es gab keinen alleinigen Regisseur oder Theaterdirektor, der über das Programm entschied. Aufgrund dieser Offenheit bot der »Liebe Augustin« ab 1933 geflüchteten und bedrohten deutschen Kunstschaffenden, die in ihrer Heimat nicht mehr auftreten durften, Zuflucht. 1935 zeigte Kadmon etwa die Fabel »Reineke Fuchs«, in der Österreich zum Hasen Lampe und Deutschland zum listigen Fuchs stilisiert wurden:
Willst du ein braver Lampe sein
laß dich mit keinem Fuchs nicht ein!
Wenns d’ einen siehst, halt dich in Zucht!
Weil gwiß is, daß er Anschluß sucht!
Dem klugen Widerstand von Stella Kadmons »Lieben Augustin« folgte eine ganze Reihe an politischen Kleinkunstbühnen. Dennoch wird die tapfere Pionierleistung Kadmons von der Geschichtsschreibung weitgehend ignoriert – abgesehen von der Arbeit der Theaterwissenschaftlerin Birgit Peter. Diese wies darauf hin, wie politisch und künstlerisch bedeutsam Kadmons angeblich »seichte« Unterhaltungskunst gewesen war.
Über Kadmons romantisches Leben ist nur wenig bekannt. Nach Kriegsende und dem Tod ihrer Mutter übernahm die Freundin Anni Neumann sämtliche bürokratischen Angelegenheiten für Kadmon und begleitete diese auch auf Urlaubsreisen. Anni Neumann erfährt lediglich in einem kurzen Kapitel der Biografie von Henriette Mandl Erwähnung. Ob Kadmon auch queer lebte oder nicht, bleibt Spekulation. Im Laufe ihres Lebens unterhielt sie dennoch einige romantische Verbindungen mit unterschiedlichen Männern. Einer der Hausautoren des »Lieben Augustins« bezeichnete sie gar als »geliebte Herrin« und schrieb ihr immer wieder überzeichnete Vamp-Figuren auf den Leib. Ein anderer bot ihr 1937 an, gemeinsam zu fliehen, wenn sie einander heiraten würden. Kadmon lehnte ab.
Der Konflikt zwischen der Wiener Sozialdemokratie einerseits und den Christsozialen der österreichischen Regierung andererseits resultierte 1934 in den bürgerkriegsähnlichen Februarkämpfen. Damit war das Rote Wien Geschichte. Stattdessen propagierte der sogenannte »austrofaschistische Ständestaat« ein reaktionäres Menschen- und Demokratieverständnis, welches schließlich im »Anschluss« an Nazi-Deutschland mündete.
Der »Liebe Augustin« bot bis dahin einen Schutzraum für Andersdenkende, musste sich jedoch im März 1938 den Nazis beugen. Kadmon sagte über diese Tage: »Wir sind bei uns im Keller im ›Lieben Augustin‹ gesessen, haben gezittert und geweint und waren todunglücklich. Wenig Publikum war da. Die Leute haben sich nicht mehr auf die Straße getraut.« Dieser offenen Gewalt auf den Straßen Wiens folgte auch prompt die Verhaftung der beiden Brüder Kadmons. Richard Kadmon wehrte sich im April 1938 gegen seine Entlassung, Otto Kadmon war als offener Kommunist schon zuvor in die Hände der Gestapo geraten.
Stella Kadmon gelang es jedoch, die beiden Brüder vor deren Deportation in das KZ Dachau zu retten. Sie hatte Kontakte zu Polizisten der Gestapo, da diese schon seit 1934 im »Lieben Augustin« für die Zensur zuständig gewesen waren. Mit einem dieser Polizisten war sie 1937 ein romantisches Verhältnis eingegangen, sodass dieser schon damals seine zensorischen Tätigkeiten vernachlässigt hatte. Nach der Freilassung der Brüder floh Stella Kadmon gemeinsam mit ihrer Mutter und Richard Kadmon nach Belgrad. Allerdings hatte die Familie nicht mit der restriktiven Einreisepolitik Jugoslawiens gerechnet, welches die diplomatischen Beziehungen zu Deutschland und Italien nicht gefährden wollte. Geflüchtete mit deutscher Staatsbürgerschaft hofften somit vergeblich auf Obhut.
Auch die Familie Kadmon wurde nach kurzem Aufenthalt von den Belgrader Behörden enttarnt, sodass nur die Flucht nach Palästina blieb. Jedoch reichte das Geld der Familie nur für zwei Visa. Während Mutter und Bruder ausreisten, entschied sich Stella dazu, als ledige Frau mittels einer Scheinehe die Aufenthaltserlaubnis zu erlangen und heiratete ihren Cousin. Nachdem das Theater – und damit ihre Identität – nicht mehr existierte, zwang sie die politische Lage mit 36 Jahren doch noch zur Ehe, die sie zuvor immer entschieden abgelehnt hatte.
Dennoch ließ sich Kadmon von dieser traumatischen Odyssee kaum beirren. Dank der finanziellen Unterstützung ihres Bruders gelang es ihr, im Sommer 1939 endlich nach Palästina auszureisen. Trotz aller Widrigkeiten und sprachlichen Hindernisse eröffnete sie bereits 1940 ein hebräisches Theater in Tel Aviv. Geschickt nutzte sie das Vakuum kultureller Umbrüche in Tel Aviv, um sich dort als Theaterdirektorin zu etablieren und begann gleichzeitig, sich mit ihrer jüdischen Herkunft auseinanderzusetzen. So vermutet Birgit Peter, dass sich Kadmon unter dem Eindruck der Schoa schließlich dem Kabarett ab- und dem ernsteren Theater zuwendete.
Obwohl die Öffentlichkeit sie als Ikone gelungener Assimilation stilisierte, fiel es ihr schwer, sich in Tel Aviv vollständig zu integrieren, da sie ihre Heimat Wien schmerzlich vermisste. Aus diesem Grund nutzte Kadmon gemeinsam mit ihrer Familie bereits den ersten Transport der Vereinten Nationen am 26. Februar 1947. Ende April kehrte sie gemeinsam mit 170 Geflüchteten zurück nach Wien.
Doch das Wien nach dem Krieg hatte mit dem Roten Wien nichts gemein. Weder sprach der österreichische Staat Einladungen zur Re-Migration der Überlebenden aus, noch glaubten die meisten Betroffenen zurückkehren zu können. Kadmons Weggefährtinnen und Weggefährten waren ermordet oder verschollen, die Öffentlichkeit schwieg über die Verbrechen und lebte gemäß traditioneller Rollenmuster. Doch Kadmon setzte dessen zum Trotz ihr künstlerisches Wirken in Wien fort.
Sowohl in Tel Aviv als auch in Wien zeigte sie Bertolt Brechts »Furcht und Elend des Dritten Reichs«. Das Stück vermittelte Räume des Widerstands und wurde so zur Parabel auf Stella Kadmons Leben. Wieder einmal war Kadmon Pionierin, da sie als eine der ersten im Theater die Aufarbeitung des Holocausts forderte. Der antifaschistische Impetus schlug sich ebenso in der Titelgebung des Theaters wieder – »Theater der Courage«. Weit bis in die 1980er Jahre hinein blieb Stella Kadmon eine wichtige und unbequeme Persönlichkeit der Wiener Theaterszene, die eine Vorbildfunktion in feministischen, antifaschistischen und linken Diskursen einnahm. In einem bedeutenden Essay erinnert die Historikerin Frances Tanzer daran, dass Kadmons Kunst mit einem diversen Theater an die kulturelle Dynamik des Roten Wiens anzuknüpfen versuchte und so eine Verbindung von jüdischem und nicht-jüdischem Leben anstrebte.
Mit ihrem Theater wehrte sich Kadmon gegen gesellschaftlichen Normen und erkämpfte sich ihre persönliche Freiheit. Sie blieb zeitlebens eine mutige Widerstandskämpferin gegen den Faschismus sowie eine Vermittlungsfigur für jüdisches Kulturleben. Gleichzeitig ließ sich Stella Kadmon die Entscheidung darüber, wie sie ihren Körper zeigen und einsetzen wollte, nicht nehmen. So wehrte sie sich aktiv gegen (männliche) Fremdbestimmung und Konventionen.
Es ist bemerkenswert, dass sich diese Frau dennoch niemals als übermächtige Theaterleiterin inszenierte und nie zögerte, gegen eingefahrene Strukturen aufzubegehren. Dies ist nur eine der Perspektiven, die Kadmons Geschichte heute vermitteln kann. Im Kontext der aktuellen Zustände am Theater ist Widerstand dringend von Nöten. Um Machtmissbrauch am Theater zu durchbrechen, gilt es nicht nur, die Verantwortlichen anzuprangern, sondern auch das hierarchische Prinzip der Intendanz zu hinterfragen. Starke, in Kollektive eingebundene Persönlichkeiten können solche Systeme aushebeln. Stella Kadmons Leben beweist dies eindrücklich.
Charlotte Morschhausen lebt in Wien, studiert Zeitgeschichte und ist als Regie- und Produktionsassistentin tätig.
Charlotte Morschhausen lebt in Wien, studiert Zeitgeschichte und ist als Regie- und Produktionsassistentin tätig.