30. April 2024
Die Geschichte der Steuern seit der Französischen Revolution zeigt, dass sie ein mächtiges Instrument der Gleichheit sind. Wie erfolgreich der Staat nach unten umverteilt, entscheidet dabei auch über das Schicksal der Demokratie.
Ein alter 100-Franc-Schein mit dem Motiv »Die Freiheit führt das Volk« des Malers Eugène Delacroix.
Steuern standen im 20. Jahrhundert im Mittelpunkt einer Umverteilungsrevolution. In vielen Ländern des westlichen Europas sorgte sie dafür, dass die soziale Ungleichheit erstmals seit dem Spätmittelalter wieder abnahm. Steuern trugen zu mehr Gleichheit bei, indem sie erstens durch ihre progressive Gestaltung selbst umverteilten und zweitens höhere Sozialausgaben finanzierten.
Durch sie wirkten Demokratie und Kapitalismus in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gut miteinander vereinbar. Doch diese traute Zweisamkeit ist im 21. Jahrhundert mehr und mehr bedroht. Die soziale Ungleichheit nimmt seit Ende des 20. Jahrhunderts in den wohlhabendsten Ländern zu, während autoritäre Kräfte die Demokratie infrage stellen.
Zwar gab es Steuern bereits in der Antike, ein Steuerstaat, der sich vorwiegend auf diesem Wege finanziert, ist jedoch eine recht junge Erscheinung. Im Mittelalter konnten Fürsten meist nur im Kriegsfall Steuern erheben und setzten sie nach Ende des Krieges wieder aus. Erst gegen Ende des Mittelalters gelang es einigen Fürsten, so viel Macht auf sich zu vereinen, dass sie eine permanente Steuererhebung durchsetzen konnten. Dies lag auch daran, dass Kriege immer teurer wurden, was Machtkonzentration wie Steuererhebung förderte.
Die entstehenden Steuersysteme des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit verstärkten die ohnehin ausgeprägte soziale Ungleichheit, weil Adel und Klerus ganz oder zumindest zum Teil von den Steuern befreit waren. Ein Großteil der Steuern wurde auf den Konsum und insbesondere auf Lebensmittel erhoben, was insbesondere die ärmere Bevölkerung in den Städten stark belastete.
Es kann darum nicht verwundern, dass Steuern zu einem zentralen Feld sozialer Konflikte wurden. So waren sowohl die Amerikanische wie die Französische Revolution erst einmal Revolten gegen Steuerpolitik. Im ersten Fall kam es zum Aufstand, als die britische Regierung versuchte, die Kolonisten in ihren nordamerikanischen Kolonien zu besteuern, ohne dass diese im britischen Parlament, das die Steuergesetze verabschiedete, vertreten waren. »No taxation without representation« lautete der Schlachtruf, der schließlich zur Lossagung vom britischen Mutterland führte.
In Paris begannen die Auseinandersetzungen, die zur Französischen Revolution führten, nicht erst mit dem Sturm auf die Bastille. Bereits drei Tage zuvor hatten Pariser Bürgerinnen und Bürger mehrere Steuer- und Zollhäuser an den Stadtmauern angegriffen und niedergebrannt. Auslöser war, dass der durch viele Kriege notorisch verschuldete französische Staat erneut die Steuern auf Lebensmittel erhöht hatte.
Auch nach der Machtübernahme durch die Revolutionäre blieb die Steuerpolitik ein zentrales Thema. Die Forderung lautete, dass alle indirekten Steuern auf den Konsum abgeschafft und fortan nur noch direkte Steuern auf den Besitz erhoben werden sollten. Dabei sollten die Steuern proportional ausgestaltet sein: Alle Besitzenden sollten einen prozentual gleich großen Teil ihres Eigentums an Steuern abgeben müssen. Diese Forderungen wurden schließlich auch umgesetzt.
»Die indirekten Steuern waren, wie schon den französischen Revolutionären, so auch der aufkommenden Arbeiterbewegung ein Dorn im Auge.«
Doch die Kriege, die die Französische Republik führte, waren zu teuer und ließen sich nicht mit den Einnahmen aus den direkten Besitzsteuern allein finanzieren. Darum führte Napoleon die indirekten Steuern auf den Konsum wieder ein und sie blieben auch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts überall in Europa die dominierende Form der Besteuerung.
Die Industrielle Revolution erzeugte ein dynamisches Wirtschaftswachstum. Vor diesem Hintergrund hatten die indirekten Steuern den Vorteil, dass die Einnahmen durch den zunehmenden Konsum automatisch mit dem Wirtschaftswachstum stiegen. Die Steuern auf Besitz von Haus und Grund wuchsen dagegen nicht automatisch. Um die gestiegenen Bodenpreise zu ermitteln, bedurfte es Katastererhebungen, die aber aufgrund ihres großen Aufwandes nur in längeren Zeitabständen durchgeführt wurden. So trugen weiterhin die städtischen Unterschichten eine besonders schwere Steuerlast.
Dementsprechend waren die indirekten Steuern, wie schon den französischen Revolutionären, so auch der aufkommenden Arbeiterbewegung ein Dorn im Auge. Nur forderte diese jetzt keine proportionalen, sondern progressive direkte Steuern. Der Steuersatz sollte also mit wachsenden Einkommen und Vermögen ansteigen.
Eine Stimme verlieh der Arbeiterbewegung unter anderem das 1848 von Karl Marx und Friedrich Engels verfasste Manifest der kommunistischen Partei. Die zweite der darin erhobenen politischen Forderungen war eine »starke Progressivsteuer«. Damals erhoffte sich Marx von progressiven direkten Steuern, sie würden durch eine starke Belastung des Reichtums beim Übergang zum Sozialismus helfen. Später gab er diese Hoffnung auf und betrachtete Steuern als Teil der Durchsetzung des Kapitalismus und als Spielwiese für bürgerliche Reformer.
Nichtsdestotrotz hielt Marx daran fest, dass progressive direkte Steuern an die Stelle der regressiven indirekten Steuern treten sollten, um die Arbeiterschaft kurzfristig zu entlasten. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts erhoben dann viele Parteien der Arbeiterbewegung in West-, Nord- und Mitteleuropa diese Forderung und trugen sie zumeist als erste in die politische Arena.
Doch als Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts erste progressive Steuern durchgesetzt wurden, befanden sich noch nirgendwo Parteien der Arbeiterbewegung in der Regierung. Stattdessen waren es bürgerliche und adlige Politiker, die progressive Steuergesetze verabschiedeten – mal aus Angst vor einer Revolution, mal aus der Einsicht, dass das Elend in den Städten sozialreformerisch bekämpft werden musste.
Mitunter spielten aber auch andere Beweggründe eine Rolle. In Preußen wurde die progressive Einkommensteuer vor allem vom Adel eingeführt, auch weil dieser erkannt hatte, dass sie bürgerliche Unternehmer weit stärker belastete als sie Agrarier. So waren die monarchistisch-konservativen Bundesstaaten Sachsen und Preußen in Europa Vorreiter bei der Durchsetzung einer progressiven Einkommensteuer, während sie sich in Großbritannien, Frankreich und den USA erst im Vorfeld des Ersten Weltkriegs aufgrund der enorm gestiegenen Rüstungskosten durchsetzen konnte.
Deutschland besaß um die Jahrhundertwende ein im Vergleich zu diesen Ländern durchaus progressives Steuersystem, das bereits einen moderat umverteilenden Charakter hatte. Doch dieses Bild änderte sich im Ersten Weltkrieg grundlegend. In Deutschland verhinderten die konservativen Parteien lange Zeit, die Steuersätze nennenswert zu erhöhen, weshalb der Krieg vor allem durch Kriegsanleihen finanziert wurde. In den USA und Großbritannien dagegen erhöhten die Regierungen die Spitzensätze der Einkommensteuer deutlich.
Vor dem Ersten Weltkrieg lagen die Spitzensätze noch überall unter 10 Prozent. Im Krieg hob die US-Regierung den Satz auf 77 Prozent an, die britische Regierung auf 42 Prozent. Auch wenn der Spitzensatz vor allem in den USA nur eine sehr kleine Gruppe von Superreichen betraf, so signalisierte die Regierung der Bevölkerung doch, dass die Industriellen, die selbst nicht an die Front mussten und aufgrund der Kriegskonjunktur erhebliche Gewinne machten, in besonderer Weise zur Finanzierung des Krieges herangezogen wurden.
In Deutschland wurden solche Reformen erst nach dem Ende des Krieges und nach der Revolution von 1918/19 möglich, weil bis dahin der Widerstand konservativer Parteien gegen Steuererhöhungen zu stark war. Die Weimarer Koalition aus SPD, katholischem Zentrum und linksliberaler DDP setzte unter Finanzminister Matthias Erzberger die bedeutendste Steuerreform in Deutschland im 20. Jahrhundert durch. Diese zentralisierte die Steuer- und Finanzpolitik. Nun wurden die Steuergesetze auf Reichsebene verabschiedet, während die Bundesstaaten ihren Einfluss auf die Steuerpolitik weitgehend einbüßten.
Daneben wurde das Steuersystem auch erheblich progressiver ausgestaltet. Der Spitzensatz der Einkommensteuer stieg auf 60 Prozent. Die zuvor von der Erbschaftsteuer befreiten direkten Nachkommen und Ehepartner wurden in die Besteuerung einbezogen. Bei besonders hohen Vermögen konnte der Satz für direkte Nachkommen sogar auf 75 Prozent steigen. Zudem führte die Regierung eine Körperschaftsteuer für Unternehmen ein.
Doch die Effekte dieser auf Umverteilung ausgerichteten Steuerpolitik blieben vorerst beschränkt. Bei der Erbschaftsteuer wurde der Höchstsatz für direkte Nachkommen und Ehepartner schon 1921 von 75 auf 10 Prozent abgesenkt. Vor allem aber schränkte die Inflation die Effekte der veränderten Einkommensteuer erheblich ein. Da die Einkommensbezieher ihre Steuer erst nachträglich bezahlen mussten, waren die fälligen Steuersummen durch die Inflation weitgehend entwertet.
Daneben spielte aber noch ein drittes Element eine zentrale Rolle: Der Anstieg der Steuersätze führte zum Aufstieg der Steueroasen. Diese hatten sich zwar in Ansätzen bereits vor dem Ersten Weltkrieg herausgebildet, doch erst die deutliche Erhöhung der Steuersätze führte dazu, dass nun erhebliche Werte aus Gründen der Steuerhinterziehung über Grenzen hinweg verschoben wurden. Zum Hauptziel der individuellen Steuerhinterziehung in Europa wurde die Schweiz. Für Konzerne wurden die Niederlande und das Finanzzentrum London zu den wichtigsten Steuerfluchtorten.
»Kommunistische Parteien hielten Steuern zunehmend für ein wenig geeignetes Mittel zur Staatsfinanzierung. Stattdessen setzte man auf die staatliche Hoheit über Produktionsbetriebe.«
Frankreich war ähnlich wie Deutschland nach Kriegsende hoch verschuldet und hoffte, seine Gläubiger vor allem durch deutsche Reparationen bedienen zu können. Doch die Inflation in Deutschland zerstörte diese Hoffnung, weswegen auch Frankreich schließlich zu bedeutenden Steuererhöhungen griff.
Die deutsche Hyperinflation und der Aufstieg der Steueroasen veränderten die Steuer- und Finanzpolitik grundlegend. Bis zur deutschen Hyperinflation hatten mehrere Länder – insbesondere jene, in denen Parteien der Arbeiterbewegung an der Regierung beteiligt waren – eine vergleichsweise expansive Finanzpolitik betrieben. Die dramatische inflationäre Entwicklung in Deutschland hatte jedoch zur Folge, dass die meisten Regierungen auf eine deflationäre Politik umschalteten.
Das wurde auch dadurch befördert, dass der Goldstandard wieder eingesetzt wurde, was einer expansiven Finanzpolitik enge Grenzen setzte. Gleichzeitig führte die Steuerflucht dazu, dass mehrere führende Industrienationen begannen, die Spitzensätze ihrer Einkommenssteuern zu senken. Besonders dramatisch war die Entwicklung in den USA, wo Finanzminister Mellon den Spitzensatz von 77 auf 25 Prozent herabsetzte. Im Deutschen Reich reduzierte die Regierung nach der Inflation den Spitzensatz von 60 auf 40 Prozent.
Die Umverteilungswirkung der deutschen Hyperinflation war erheblich. Zwar konnten einige Unternehmer durch eine geschickte Investitionsstrategie von der Inflation profitieren, doch insgesamt gehörte die deutsche Oberschicht zu den Hauptverlierern der Inflation. Die Werte ihrer Ersparnisse und Finanzprodukte sanken um ein Vielfaches. Die Hauptgewinner der Inflation waren dagegen die deutschen Landwirte, die ihre Schulden mit geringen Mitteln abbezahlen konnten, und der deutsche Staat, der seine Verschuldung gegenüber der eigenen Bevölkerung durch die Kriegsanleihen abbauen konnte.
Dadurch hatte sich die soziale Ungleichheit in Deutschland in Geldwerten gemessen deutlich reduziert. Doch die Hyperinflation als Mittel einer Umverteilung hatte auch erhebliche gesellschaftliche Nachteile. Die Vernichtung der Ersparnisse der deutschen Mittelschichten, aus denen sie zum einen das Studium ihres Nachwuchses und zum anderen das eigene Alter finanzierten, beförderte deren Zweifel am Wert eines demokratischen Staates.
Nachdem sich der späte Marx zunehmend von den Steuern als Mittel des Sozialismus verabschiedet hatte, verloren Steuern in der kommunistischen Bewegung deutlich an Ansehen. Sie galten zunehmend als bürgerlich-kapitalistisches Relikt. Kommunistische Parteien hielten Steuern zunehmend für ein wenig geeignetes Mittel zur Staatsfinanzierung, weil der Staat mit ihnen von Gewinnen und Einkommen von Individuen und Privatbetrieben abhängig bliebe. Stattdessen setzte man auf die staatliche Hoheit über Produktionsbetriebe.
Auch die Mehrheit der Bolschewiki dachte 1917 ähnlich. Nach der Oktoberrevolution überführten die russischen Revolutionäre die Mehrzahl der großen Betriebe des Landes in Staatshand und versuchten kurzfristig, Geld und Steuern als bürgerliche Überbleibsel abzuschaffen.
Weder Geld noch Steuern erwiesen sich jedoch als schnell verzichtbar. Zur zentralen Steuer in der Sowjetunion der 1920er und 30er Jahre wurde eine Umsatzsteuer, die die Funktion hatte, Geld aus dem landwirtschaftlichen Bereich zur Förderung der Investitionen in die Industrie umzuverteilen. Ein sowjetischer Steuerpraktiker, Jewgeni Alexejewitsch Preobraschenski, verstand dies als »primitive sozialistische Akkumulation«.
Doch prinzipiell blieben Steuern im Sozialismus eher eine kurzfristig geduldete Notwendigkeit, als das bevorzugte Mittel der Staatsfinanzierung. 1953 verkündete Leonid Breschnew dann auch erneut, Steuern seien ein bürgerliches Relikt, das in der Sowjetunion bald abgeschafft würde. Dies gelang zwar erneut nicht – Steuern existierten auch noch, als die Sowjetunion 1991 unterging – ihre Bedeutung für die Staatsfinanzierung nahm jedoch permanent ab.
Als die faschistische Partei unter Benito Mussolini 1923 in Italien an die Macht kam, war ihr ökonomisches Programm weitgehend an liberalen ökonomischen Doktrinen orientiert. Der Staat sollte die Wirtschaft so weit wie möglich den Privatunternehmen überlassen. Staatliche Umverteilung zugunsten der ärmeren Bevölkerung sollte abgebaut und eine deflationäre Politik betrieben werden. Mussolinis erster Finanzminister, der wirtschaftsliberale Alberto De Stefani, setzte deutliche Steuersenkungen zugunsten von Spitzenverdienern und Unternehmen durch.
Auch die NSDAP betonte während ihrer Wahlkämpfe in der Weimarer Republik eine zu hohe Steuerlast. Besonders vehement wandte sich Hitler in seinen Reden gegen die hohe Belastung bäuerlicher Betriebe. Auch gegenüber der deutschen Industrie sprach er sich deutlich gegen die gegenwärtigen Formen einer »steuerbolschewistischen Vernichtung unserer Wirtschaftssubstanz« aus. Hitler betonte gegenüber der Industrie jedoch, dass Großbritannien Deutschland kriegerisch überfallen könnte, wenn die deutsche Industrie infolge von Steuersenkungen die britische überflügeln würde. Damit deutete er an, dass er Steuersenkungen für die Industrie zurückstellen könnte, solange er seinerseits Kriegsvorbereitungen traf.
»Zwar zeigen soziologische Analysen, dass eine große Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland die soziale Ungleichheit kritisch betrachtet, doch sobald es um konkrete Steuermaßnahmen zu deren Bekämpfung geht, nimmt die Zustimmung deutlich ab.«
Der Austeritätskurs der Brüning-Regierung in der Weltwirtschaftskrise, der auch durch die internationalen Reparationsverpflichtungen mitbedingt war, trieb die Wählerinnen und Wähler in die Arme der NSDAP. Mit der Machtübertragung an Hitler und die NSDAP im Januar 1933 sollte sich zeigen, was von deren Steuersenkungsversprechen übrigblieb. De facto gab es nur für die deutsche Landwirtschaft eine geringe Steuererleichterung. Diese konnte das maßgeblich durch die internationalen Konkurrenzbedingungen hervorgerufene Höfesterben aber nicht aufhalten. Zudem beförderte der radikale Aufrüstungskurs des Regimes die Landflucht durch höhere Löhne in der Rüstungsindustrie.
Für die deutsche Industrie gab es dagegen keine Steuersenkungen, sondern Steuererhöhungen, insbesondere die Körperschaftsteuer stieg deutlich an. Allerdings konnte die Industrie dies problemlos verkraften, denn die Aufrüstungsgewinne stiegen weit schneller als die Steuern. Die Folge war, dass die soziale Ungleichheit unter nationalsozialistischer Herrschaft in der Vorkriegszeit massiv anstieg. Die Einkommensanteile der oberen 10 Prozent und vor allem des obersten Prozents wuchsen deutlich.
Während des Nachkriegsbooms der 1950er und 60er Jahre blieben die Steuersätze in den OECD-Staaten hoch und trug das Steuersystem zur Umverteilung des Reichtums bei. Dies war auch deshalb möglich, weil die hohen Wachstumsraten dafür sorgten, dass die Unternehmen trotzdem hohe Gewinne machten und die private Steuerhinterziehung durch Kapitalverkehrskontrollen innerhalb des Bretton-Woods-Systems erschwert wurde.
Insbesondere die Einkommensungleichheit sank so in den meisten Staaten auf ein bisher unbekanntes Maß herab. Doch Konzerne und Wohlhabende entwickelten zunehmend Strategien, die hohen Steuersätze zu umgehen. Als die Profitraten der Konzerne in der Wirtschaftskrise Mitte der 1970er Jahre deutlich herabsanken und mit dem Ende des Bretton-Woods-Systems auch die Kapitalverkehrskontrollen abgebaut wurden, begann der Aufstieg eines neuen Systems von Steueroasen – insbesondere auf Inseln, die zum britischen Commonwealth gehörten.
Als Ronald Reagan und Margaret Thatcher die Spitzensteuersätze der Einkommensteuer in den USA und Großbritannien in den 1980er Jahren um 50 Prozent senkten, setzten sie die neoliberale Wende in der Steuerpolitik in Gang, in deren Gefolge bis heute weltweit die Steuerbelastung des reichsten Prozents und der multinationalen Unternehmen reduziert wurde. Die Folge ist ein Anstieg der sozialen Ungleichheit in fast allen OECD-Ländern seit den 1980ern und der Aufstieg einer neuen Generation von Superreichen.
Elon Musk zahlte in den Jahren 2014–18 einen durchschnittlichen Steuersatz von 3,3 Prozent; Jeff Bezos 2021 sogar nur 0,9 Prozent. In Deutschland verringerte sich der Steuersatz, den Susanne Klatten für ihre Gewinne aus BMW-Anteilen zahlen musste, von über 60 Prozent im Jahr 1996 auf nur noch knapp über 20 Prozent 2022. Heute besitzen etwas mehr als 50 Superreiche so viel Vermögen wie die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung.
Wenn sich in der Politik nichts grundlegend ändert, spricht derzeit viel dafür, dass die Vermögenskonzentration weiter zunehmen wird. Zwar zeigen soziologische Analysen, dass eine große Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland die soziale Ungleichheit kritisch betrachtet, doch sobald es um konkrete Steuermaßnahmen zu deren Bekämpfung geht, nimmt die Zustimmung deutlich ab. Das liegt daran, dass Steuern insgesamt als negativ und als Belastung eingeschätzt werden, auch wenn man selbst etwa von der Einkommensteuer oder der Erbschaftsteuer befreit ist. Erst wenn die Verteilungseffekte genauer spezifiziert werden, wird für von oben nach unten umverteilende Steuermaßnahmen mehrheitliche Zustimmung artikuliert. Ohne eine soziale Bewegung, die dies zum Thema macht, dürften höhere Steuern für Spitzenverdiener und Unternehmen kaum zu erwarten sein.
Zurzeit ist eine solche Bewegung nicht zu erkennen, aber mitunter kann eine solche schnell und überraschend entstehen, ohne dass Historikerinnen oder Politologen etwas vorhergesehen hätten. Gleichzeitig dürfte heutzutage eine vor allem auf das eigene Land bezogene soziale Bewegung aufgrund der gewachsenen Mobilität des Kapitals noch mehr Schwierigkeiten haben, einen progressiven Steuerstaat in einem Land durchzusetzen und auch funktionabel zu machen. Die Aussichten, dass der demokratische Steuerstaat einen erheblichen Beitrag zum Abbau sozialer Ungleichheit auf der nationalen Ebene, geschweige denn auf der globalen Ebene, leisten kann, sind derzeit dementsprechend nicht allzu rosig.
Marc Buggeln ist Professor für regionale Zeitgeschichte und Public History an der Europa-Universität Flensburg und Direktor der Forschungsstelle für regionale Zeitgeschichte und Public History (FRZPH) in Schleswig.