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13. August 2025

»Viele Milliardäre zahlen weniger Steuern als die Mittelschicht«

Unternehmen erwirtschaften massive Gewinne, tragen aber immer weniger zur Finanzierung des Gemeinwohls bei – und die Politik hilft ihnen dabei. Für Ökonomin Sarah Godar ist klar: Die Gesellschaft muss wieder stärker an den Unternehmensgewinnen beteiligt werden.

US-Konzerne, wie das von Jeff Bezos gegründete Unternehmen Amazon, sind für ihre aggressive Steuervermeidung berüchtigt.

US-Konzerne, wie das von Jeff Bezos gegründete Unternehmen Amazon, sind für ihre aggressive Steuervermeidung berüchtigt.

IMAGO / ZUMA Press

Im internationalen Vergleich belastet das deutsche Steuer- und Abgabensystem Arbeitseinkommen besonders hoch, während die effektive Steuerlast für Kapitaleinkommen eher im mittleren Bereich liegt. Die Gewinne der Unternehmen beruhen auf der Arbeit vieler, doch an der Finanzierung des Gemeinwohls beteiligen sich viele Konzerne nur unzureichend. Sie lobbyieren erfolgreich gegen höhere Steuern, wie die Senkung der Körperschaftsteuer zeigt – und nicht selten umgehen sie ihre Steuerpflicht gleich ganz.

Sarah Godar forscht seit Jahren zu diesen Fragen. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am EU Tax Observatory und am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin). Im Gespräch erklärt sie, wie Unternehmen Steuern vermeiden, um welche Summen es dabei geht und wie wir das Vermögen von Superreichen besteuern können. Denn in der Steuerpolitik braucht es mehr Mut – und gesellschaftlich ein breiteres Interesse für ein Thema, das alle tangiert.

Ein häufiges Argument gegen höhere Unternehmenssteuern lautet: Dann wandern die Firmen – oder die Reichen – ab und die Wirtschaft leidet. Wie blicken Sie auf diese Argumentation?

Klar, in einer kapitalistischen Wirtschaft müssen sich Investitionen für Unternehmen lohnen. Wenn sie dauerhaft keine Gewinne machen, fahren sie ihre Aktivitäten zurück. Aber es gibt trotz erheblicher steuerlicher Unterschiede zwischen Ländern weder flächendeckendes Unternehmenssterben in Hochsteuerländern noch massenhafte Abwanderung.

Das zeigt: Es gibt Spielräume. Wie diese zu nutzen sind, ist ein politischer Aushandlungsprozess. Nach der Finanzkrise 2008 gab es kurzzeitig einen politischen Konsens: Steuervermeidung müsse eingedämmt werden, um die öffentlichen Haushalte zu stabilisieren. Doch dieser Wille scheint weitgehend verpufft. Ein Grund könnte der geopolitische Wandel sein.

»Der Vorschlag der Regierung sagt: Auch in Zukunft sollen Unternehmen weniger Steuern zahlen, selbst wenn sie wieder mehr Gewinne machen.«

Im Wettbewerb zwischen den USA und China geht es zunehmend darum, nationale »Champions« zu schützen – und die wachsende Digitalwirtschaft ist einer der wenigen Bereiche, in denen die US-Wirtschaft weltweit führend ist. Weil chinesische Tech-Giganten als Konkurrenz wahrgenommen werden, will Washington seine Konzerne steuerlich nicht mehr belasten. Möglicherweise steht hier Industriepolitik inzwischen über dem Ziel, internationale Steuervermeidung zu bekämpfen.

Doch wenn Bürgerinnen und Bürger Schulen, Krankenhäuser und eine funktionierende Infrastruktur wollen, brauchen Staaten Einnahmen – und die kommen nun mal nicht von allein. Hört man jedoch auf Unternehmensverbände, dann ist die Beteiligung der Gesellschaft an ihren Gewinnen immer zu hoch und auch schon immer zu hoch gewesen. Sie lehnen grundsätzlich jede Steuererhöhung ab.

Als ehemaliger Mitarbeiter von Blackrock, einem milliardenschweren Vermögensverwalter, steht Friedrich Merz klar auf der Seite des Kapitals. Kaum ist er Kanzler, soll die Körperschaftssteuer für Unternehmen gesenkt werden.

Die von der Bundesregierung geplante Senkung der Unternehmensteuer sehe ich sehr kritisch. Im Moment erleben wir eine Phase wirtschaftlicher Stagnation. Die Unternehmensteuer wirkt antizyklisch. Das heißt, in schlechten Zeiten, wenn die Unternehmen keine Gewinne oder sogar Verluste machen, fällt sowieso keine Steuer an. Sobald es wirtschaftlich wieder besser läuft und sie Gewinne machen, können sie ihre früheren Verluste davon abziehen. So wird verhindert, dass sie nach einer Krise sofort wieder hohe Steuern zahlen müssen. Jetzt dauerhaft die Unternehmensteuer zu senken, wie es die Bundesregierung vorhat, geht meiner Meinung nach in eine falsche Richtung. Denn der neue Vorschlag der Regierung sagt: Auch in Zukunft sollen Unternehmen weniger Steuern zahlen, selbst wenn sie wieder mehr Gewinne machen.

Tatsächlich stammt die Hälfte der globalen Steuereinnahmen aus Verbrauchs- und Lohnsteuern, die Beschäftigte mit mittleren und niedrigen Einkommen relativ stärker belasten als die Reichen.

Ja! Es ist wichtig, das immer wieder zu betonen, weil viele glauben, die Reichen und die Unternehmen würden den Großteil der Staatseinnahmen beitragen. Es stimmt zwar, dass die reichsten 10 Prozent in Deutschland etwa 60 Prozent des persönlichen Einkommensteueraufkommens zahlen. Betrachten wir aber alle Abgabenarten einschließlich Verbrauchsteuern und Sozialabgaben, schrumpft ihr Beitrag auf 33 Prozent. Das entspricht in etwa auch ihrem Anteil an den Bruttoeinkommen der Haushalte.

Das deutsche Steuer- und Abgabensystem ist als Ganzes also weniger progressiv als viele denken. Global betrachtet hat sich über die letzten Jahrzehnte die Steuerlast verschoben: Kapitaleinkommen tragen relativ gesehen immer weniger zu den Staatsfinanzen bei, während Lohn- und Konsumsteuern zugenommen haben. Das ist Umverteilung von unten nach oben.

Die Linke hat sich nun die Vermögenssteuer auf die Fahnen geschrieben. Jan van Aken trägt bekanntermaßen gern ein T-Shirt mit der Aufschrift »Tax The Rich«. Wie blicken Sie auf solche Kampagnen?

Es braucht Zuspitzungen wie diese, um das Thema auf die Agenda zu bringen. Wichtig ist, dabei immer wieder zu verdeutlichen: Die ökonomische Globalisierung ist menschengemacht. Es sind Menschen, die die Kapitalmärkte dereguliert haben – und es sind Menschen, die wieder stärkere Regulierungen einführen können.

Oft fehlt der Mut, überhaupt die notwendigen Maßnahmen umzusetzen, die wenigstens den Trend wachsender Ungleichheit bremsen würden. Aber wenn man schon dafür zu schwach ist, dann ist man das wohl auch erst recht für grundlegende systemische Veränderungen. Doch die Linke sollte diesen Glauben nicht aufgeben: Wir können das Wirtschaftssystem so gestalten, dass es der Mehrheit nützt.

»Kapitaleinkommen tragen relativ gesehen immer weniger zu den Staatsfinanzen bei, während Lohn- und Konsumsteuern zugenommen haben.«

Wichtig ist meiner Meinung nach, dass höhere Steuereinnahmen auch direkt verknüpft werden mit einer Verbesserung der Lebensbedingungen. Wenn zusätzliche Einnahmen nur in Aufrüstung gesteckt werden, während in anderen wichtigen Bereichen Sparpolitik herrscht, ist für die Menschen nichts gewonnen.

In Deutschland kämpfen beispielsweise das Netzwerk Steuergerechtigkeit oder Finanzwende für eine fairere Steuerpolitik. Trotzdem scheint das Thema insgesamt nicht sehr präsent zu sein, obwohl es enorme Auswirkungen für Politik und Gesellschaft hat.

Das stimmt leider. Die Debatte um eine Mindeststeuer für Milliardäre nimmt zwar international an Fahrt auf, aber in Deutschland wird vergleichsweise wenig darüber gesprochen.

Die Politik stellt sich fast reflexhaft auf die Seite des Kapitals – aus der Annahme heraus, es gäbe keine andere Wahl. Dabei müsste man andersherum fragen: Was brauchen wir als Gesellschaft? Wohnraum, Gesundheitsversorgung, Infrastruktur. Diese Bedürfnisse sind nicht verhandelbar. Dann stellt sich die Frage: Wer bezahlt das? Natürlich müssen dabei auch die Unternehmen zur Kasse gebeten werden – besonders jene, die hier ihre Gewinne erwirtschaften.

Vermögenssteuern oder globale Mindeststeuern sind erste Schritte in die richtige Richtung. Sie werden die Konzentration von Reichtum nicht auflösen, aber sie können die extreme Ungleichheit bremsen – und damit die Grundlagen des Zusammenlebens sichern.

Panama Papers, Paradise Papers, Pandora Papers – dass Superreiche und multinationale Konzerne systematisch Steuern vermeiden oder hinterziehen, ist bekannt. Immer wieder kommen neue »Skandale« ans Tageslicht. Über welche Summen sprechen wir eigentlich?

Im »Global Tax Evasion Report«, den wir 2023 mit dem EU Tax Observatory veröffentlicht haben, beziehen wir uns sowohl auf illegale Steuerhinterziehung durch Privatpersonen und Steuervermeidung durch multinationale Unternehmen. Hinterziehen Privatpersonen Steuern, geht es dabei in der Regel um die persönliche Einkommensteuer, insbesondere die Kapitalertragsteuer. Ein Beispiel sind Offshore-Vermögen, mit denen Kapitalerträge erwirtschaftet werden, die aber möglicherweise nicht deklariert werden.

»Das Prinzip von multinationalen Unternehmen basiert eben darauf, dass die Wertschöpfung sich auf den ganzen Globus erstreckt. Das heutige Steuersystem wird dem nicht gerecht.«

Wir schätzen, dass weltweit rund 11 Billionen US-Dollar an Finanzvermögen in Offshore-Zentren liegen. Bei einer angenommenen Rendite von 5 Prozent ergeben sich daraus jährliche Kapitalerträge von 550 Milliarden. Eben diese Kapitalerträge sollten Steuerpflichtige in der Vergangenheit selbst den Finanzämtern melden. Das Risiko der Steuerhinterziehung war entsprechend hoch. Mit der Einführung des sogenannten automatischen Informationsaustausch ab dem Jahr 2017 hat sich das verändert: Banken müssen Daten melden und Steuerbehörden tauschen Informationen grenzüberschreitend aus. Inzwischen sollten bis zu 70 Prozent der Offshore-Vermögen und den damit verdienten Kapitalerträgen den Behörden bekannt sein.

Und bei Unternehmen?

Multinationale Unternehmen verschieben in großem Stil Gewinne in Steueroasen – mit fragwürdigen, aber leider legalen Buchhaltungstricks. Wir schätzen, dass jährlich rund 1 Billion US-Dollar an Gewinnen verlagert werden – das sind etwa 35 Prozent der Auslandsgewinne multinationaler Konzerne. Die damit verbundenen Steuerausfälle machen rund 10 Prozent der globalen Einnahmen aus Unternehmenssteuern aus. Im Jahr 2021 waren das etwa 200 Milliarden US-Dollar.

Um das zu bekämpfen, gibt es seit langem diverse Reformvorschläge. Unternehmen sollten nicht mehr nur dort besteuert werden, wo ihr Unternehmenssitz ist, sondern dort, wo die wirtschaftliche Aktivität stattfindet.

Diese Ansätze sind nicht neu, in der Umsetzung allerdings kompliziert. Wo genau entsteht der Wert? In der Fabrik, in der die Turnschuhe genäht werden, oder steckt der eigentliche Gewinn in der Marke, dem Logo, dem Design? Das Prinzip von multinationalen Unternehmen basiert eben darauf, dass die Wertschöpfung sich auf den ganzen Globus erstreckt.

Das heutige Steuersystem wird diesem Prinzip nicht gerecht, denn es basiert auf der Fiktion unabhängiger Einheiten, die in den jeweiligen Staaten einzeln besteuert werden. Aber wenn die Bestandteile eines multinationalen Unternehmens wie unabhängige Einheiten wirtschaften würden, bräuchte es kein multinationales Unternehmen. Letztere funktionieren in der Realität wie integrierte Gebilde, weshalb die bestehenden Steuerregeln nicht ausreichen.

Deshalb haben sich die G20 im Jahr 2021 darauf geeinigt, eine globale Mindeststeuer für multinationale Unternehmen von 15 Prozent einzuführen. Wie funktioniert das in der Praxis?

Um der Realität multinationaler Unternehmen gerecht zu werden, bräuchte es eigentlich eine Gesamtkonzernsteuer. Vorsichtige Schritte in diese Richtung, die unter »Pillar 1« – also Säule 1 – des von den G20 und der OECD 2015 vorgeschlagenen Reformpakets zu erkennen waren, wurden leider nie umgesetzt. Die globale Mindeststeuer für multinationale Unternehmen, auch bekannt als »Pillar 2«, also der zweiten Säule des Reformpakets, ist der Versuch, das bestehende System wenigstens um eine Untergrenze zu ergänzen, die extreme Steuervermeidung unattraktiv machen soll.

Konzerne müssen in jedem Land mindestens 15 Prozent Steuern auf ihre dort erwirtschafteten Gewinne zahlen. Das Unternehmen muss nachweisen, dass es dies tut. Tut es das nicht, kann das Land des Mutterkonzerns die Differenz nachbesteuern. Falls dieses nicht aktiv wird – etwa, weil es selbst eine Steueroase ist – können auch andere Länder, in denen das Unternehmen aktiv ist, nachbesteuern.

»Die Politik stellt sich fast reflexhaft auf die Seite des Kapitals – aus der Annahme heraus, es gäbe keine andere Wahl.«

Doch die Umsetzung wurde massiv verwässert. Zum einen ist der Steuersatz von 15 Prozent deutlich niedriger als die Unternehmenssteuersätze vieler Länder – in Deutschland liegt er nominal bei rund 30 Prozent. Zum anderen wurden zahlreiche Ausnahmen verhandelt, sodass der effektive Mindest-Satz oft unter 15 Prozent liegt.

Man kann es wirklich kaum glauben, aber: Zu den Ausnahmen gehört, dass US-Konzerne von der Mindeststeuer weitgehend ausgenommen sind.

Biden hat die globale Mindeststeuer anfangs durchaus unterstützt – auch, um zu verhindern, dass immer mehr Länder eigene Digitalsteuern auf US-Konzerne wie Google, Amazon oder Facebook einführen. Viele dieser Digitalkonzerne zahlen extrem wenig Steuern, weil sich Gewinne, die durch geistiges Eigentum entstehen, besonders leicht von einem Land ins nächste verschieben lassen. Doch einige Staaten, wie zum Beispiel Frankreich und Spanien hatten bereits nationale Digitalsteuern eingeführt. Die Sorge vor Doppelsteuerung brachte die USA dazu, bei einer globalen Lösung für die Mindeststeuer mitzuziehen.

Zunächst galten für US-Konzerne temporäre Ausnahmen, weil der US-Senat die Biden-Regierung bei der Mindeststeuer nicht unterstützt hat. Und unter Trump hat sich die US-Position verschärft. So haben die USA auf G7-Ebene durchgesetzt, dass die globale Mindeststeuer grundsätzlich nicht auf US-Konzerne angewendet wird. Für sie soll nur die US-eigene Mindeststeuer GILTI gelten, die aber deutlich schwächer ist. Dabei gehören US-Konzerne zu den aggressivsten Steuervermeidern der Welt: Sie sind für rund 40 Prozent der globalen Gewinnverschiebung verantwortlich. Bleiben sie dauerhaft ausgenommen, wird die globale Mindeststeuer massiv entwertet.

Die EU hat die Mindeststeuer inzwischen eingeführt. Sie könnte US-Konzerne auch einseitig in Europa nachversteuern – scheint aufgrund des Zollstreits aber davon absehen zu wollen. Das ist ein fatales Signal.

Der Ökonom Gabriel Zucman hat im Auftrag der brasilianischen G20-Präsidentschaft einen Vorschlag entwickelt, der eine globale Mindeststeuer für Superreiche vorsieht. Wäre das ein wirksames Mittel gegen Steuervermeidung?

Wenn man mehr öffentliche Mittel braucht, ohne untere und mittlere Einkommen zu belasten, muss man an die Superreichen ran – und damit an die Unternehmensgewinne. Denn die reichsten Individuen sind Eigentümerinnen und Eigentümer großer Unternehmen: Ihr Vermögen basiert auf Firmengewinnen. Doch diese Gewinne werden oft gar nicht ausgeschüttet, weil die Eigentümer das Geld nicht für ihre persönlichen Ausgaben brauchen, sie haben bereits genug – und solange es im Unternehmen bleibt, fällt auch keine persönliche Einkommenssteuer an. So zahlen viele Milliardärinnen und Milliardäre prozentual betrachtet weniger als die Mittelschicht.

Zucmans Vorschlag will das ändern: Superreiche sollen belegen, dass sie persönliche Einkommenssteuer in Höhe von mindestens 2 Prozent ihres Nettovermögens zahlen – unabhängig davon, ob die Gewinne ausgeschüttet wurden. Zwar wirkt das wie eine Vermögensteuer, aber es ist im Grunde ein Instrument, um die Einkommenssteuer für die Reichsten wieder progressiv zu gestalten. Im Fokus stehen dabei Milliardärinnen und Zentimillionäre, also Menschen mit einem Vermögen ab 100 Millionen US-Dollar.

Der Vorschlag setzt an einer anderen Stelle als die globale Mindeststeuer für multinationale Unternehmen an und richtet sich auch gegen Steuervermeidung im nationalen Kontext. Wenn Regierungen akzeptieren, dass die Unternehmensteuersätze weltweit sinken, sollten sie zumindest sicherstellen, dass Unternehmenseigentümer einer wirksamen und progressiven Besteuerung unterliegen – und sich dieser nicht entziehen können, indem sie Gewinne dauerhaft in ihren Firmen oder Holdingstrukturen parken.