ABO
Das Online-Magazin von JACOBIN Deutschland

09. Oktober 2025

Wie DDR-Arbeiterinnen sich in der BRD behaupteten

Im neuen Dokumentarfilm »Stolz & Eigensinn« treffen Arbeiterinnen aus dem Osten auf ihre jüngeren Ichs aus den 90ern. Damals wehrten sie sich dagegen, an den Herd zurückgeschickt zu werden. Dreißig Jahre später finden sie, dass sie im Recht waren.

»Ich bin so, wie ich früher war«, findet die frühpensionierte Lokführerin Monika Schurmann.

»Ich bin so, wie ich früher war«, findet die frühpensionierte Lokführerin Monika Schurmann.

© Salzgeber & Co. Medien

Die Entstehungsgeschichte von Gerd Kroskes neuem Film Stolz & Eigensinn (2025) über Arbeiterinnen in der DDR beginnt interessanterweise 1990 im Westen. Von dort kam der Videokünstler Norbert Meissner nach Leipzig und gründete den TV-Piratensender KANAL X. Der wurde zwar ein Jahr später wieder von den Bundesbehörden verboten, aber produzierte als lokales Projekt bis 1994 einfach weiter.

So entstand unterm Radar ein kostbares Zeitzeugnis, verantwortet von Norbert Meissner und Bärbel Minx: Frauen aus der ehemaligen DDR-Industrie wurden für den Film Früher waren wir gut genug interviewt. Diese befanden sich zu der Zeit wie durch ein Wunder noch in ihren Jobs, die nicht vergleichbar waren mit dem, was Westfrauen, wenn überhaupt, beruflich ausübten.

Dieses Material entdeckte Gerd Kroske 2023 im Archiv der Bürgerbewegung Leipzig mit Hilfe eines aufmerksamen Archivars. Kroske war sofort hingerissen. Er suchte die Frauen von damals und fand neun von ihnen, die bereit waren, erneut vor die Kamera zu treten. Die Idee von Stolz & Eigensinn ist, eine Begegnung der Frauen mit ihren eigenen Interviews von damals herzustellen und sie zugleich erneut zu befragen.

»Alles, was den Leuten im Osten an sozialistischen Parolen zum Hals herausgehangen hatte – Solidarität, soziale Sicherheit, gesellschaftliches Miteinander – stand plötzlich auf dem Spiel.«

Begegnung mit sich selbst

In den neuen, ineinander verschränkten Interviews lässt der Film sich die Zeit, die Berufsausbildung und damalige Arbeit der jeweiligen Protagonistin kennenzulernen, aber genauso auch ihre verschiedenen Temperamente und Persönlichkeiten. Sofort sind sie wieder in der Zeit von damals, in der DDR genauso wie in den Arbeitskämpfen 1994.

Wir lernen zum Beispiel die Industrie-Meisterin Brigitte mit ihrem bezaubernden Lächeln kennen und Bärbel mit ihrem Stolz auf 28 Jahre als einzige Brückenfahrerin der Welt. Und die nachdenkliche Geräteführerin Silke, die vom Tagebau erzählt und vom Überfall der Klimaschutzorganisation Ende Gelände. Die frühpensionierte Lokführerin Monika, bei der Verletzung und Widerständigkeit dicht beieinander liegen. Die sachliche Chemikerin Christel, die von ihrer Beteiligung an den harten Kämpfen des Betriebsrats berichtet. Die immer noch in Schuhe verliebte Schuhfacharbeiterin Silke.

Obwohl die Ereignisse von damals so lange zurückliegen, bleibt keine von ihnen im Gespräch gelassen. Alle liebten sie ihre Facharbeit und sind stolz auf ihre Abschlüsse. Sie wissen, wie schön es ist, Teil von etwas Größerem, mitten in der Produktion zu sein. Wenn sie über den Bruch des Mauerfalls in ihrem jungen Erwachsenen-Leben sprechen und sich selbst auf den Monitoren sehen, wie sie damals noch in ihrer Berufstätigkeit – körperlich schwer und tüchtig anerkannt – gefilmt und befragt wurden, kommt alles wieder hoch. Die rasante Privatisierung der volkseigenen Industrie, die bis dahin ungekannte Diskriminierung als Frau in der Berufsarbeit, die Verletzung, die Abwertung und auch neue, aber unfreiwillige Wege.

Kroskes Idee von der Zeitreise funktioniert: Die Frauen besichtigen ihr Leben und bewerten es aus dem Abstand von dreißig Jahren. Eine reizvolle visuelle Spannung entsteht zwischen dem bewusst ungeschönten und rauen Material von 1994 und den Aufnahmen von heute. Die Frauen sprechen von ihrer Lebensreise, die im Sozialismus begann und in die heutige Zeit führt, da der Kapitalismus sich im Osten längst konsolidiert hat.

Ein anderes Geschlechterverhältnis

Der Film erzählt vom Schmerz des Verlustes der Arbeitsplätze, die für sämtliche der interviewten Frauen mehr waren als nur Broterwerb. Das war vielleicht der Punkt, den die neuen Machthaber in den Betrieben am wenigsten begriffen. Es ging den Arbeiterinnen darum, dabei zu sein, mit ihrer erworbenen und erprobten Expertise, es ging um etwas, das bis dahin selbstverständlich war. Um Anerkennung, um Gleichstellung mit den Männern, um Kollektivität ungeachtet des Geschlechts.

Alles, was den Leuten im Osten an sozialistischen Parolen zum Hals herausgehangen hatte – Solidarität, soziale Sicherheit, gesellschaftliches Miteinander – stand plötzlich auf dem Spiel. Die Arbeitsplätze waren selten verhandelbar. Je nach individueller Situation, Widerstandskraft, Temperament gingen die Frauen damals weiter ihren Weg über Arbeitsämter, Minijobs, Vorruhestände, Quereinstiege, Aktivismus – oder gingen unter.

»Die Anlagenführerin Cornelia setzte bereits 1994 ihr ostdeutsches Frausein in direkten Vergleich: ›Es kann sich sicher keine westdeutsche Frau vorstellen, dass hier so ein gutes Arbeitsklima zwischen Männern und Frauen besteht.‹«

Mehr als einmal erwähnen die Interviewten Kolleginnen von damals, die »auf der Strecke geblieben« waren, Alkoholismus, Aussichtslosigkeit, Verzweiflung. Gerd Kroske selbst erzählt im Interview von drei »harschen« Absagen, die er eher auf die erlittene Erfahrung, nicht auf seine Anfrage zur Mitwirkung im Film bezieht.

Was bedeutete eigentlich die ökonomische Unabhängigkeit der Ostfrauen für ihre Beziehung zu den Ostmännern? Also sowohl zu Lebenspartnern als auch Kollegen? Einige der Frauen thematisieren das ganz von selbst. Cornelia gar, die Anlagenführerin, setzte bereits 1994 ihr ostdeutsches Frausein in direkten Vergleich: »Es kann sich sicher keine westdeutsche Frau vorstellen, dass hier so ein gutes Arbeitsklima zwischen Männern und Frauen besteht. Die Hierarchie, dass 'ne Frau an den Herd gehört, wie das auch gerne die Bundesregierung sehen würde, um weniger Arbeitslose registrieren zu müssen, die ist hier nicht so ausgebreitet. Die Männer sind es hier von Anfang an gewöhnt, aufgrund der Arbeitsbeschäftigung der Frauen doch zu Hause mit zugreifen zu müssen.«

Regisseur Kroske, selbst Ostmann, entdeckte bereits vor 34 Jahren die politisch relevante Eigenart der Ostfrauen in einem halbstündigen Dokumentarfilm mit dem schönen Titel Kluge Frauen, helle Mädchen. Dort beobachtete er schon die massenhafte Verdrängung von Ostfrauen aus dem Berufsleben und blickte wiederum zurück auf die 1950er Jahre der DDR, als alles begann: Eine neue, bis dahin nicht gekannte, qualifizierte Beteiligung der Frauen an der Produktion und mithin ihre Emanzipation von der »Versorgung«, respektive der Beherrschung durch einen Mann.

Die alte Konstruktion der Welt, die auch ein verstaubtes, bürgerliches Familienbild beinhaltet, wurde damals hinweggefegt. Das ist gut zu wissen, will man verstehen, was damals mit dem Mauerfall den Frauen und im Übrigen auch den Männern der DDR abhandenkam.

Was verloren ging

Stolz & Eigensinn ist ein Film über einen großen historischen Verlust. Im Abspann steht, dass in den 1990er Jahren in drei großen Entlassungswellen mehrere Hunderttausend Frauen aus der ehemaligen volkseigenen DDR-Industrie entlassen wurden. Die neun Frauen stehen dafür beispielhaft.

Im Filmmaterial von 1994 wird klar: Die neun Arbeiterinnen hatten bereits das Einmaleins der kapitalistischen Arbeitswelt gelernt, hatten nach der ersten Entlassungswelle ihre Jobs behalten können – und waren unverhohlen kampfeslustig. 2024, im Jahr der Dreharbeiten, nicken die Frauen öfters mal zustimmend zu dem, was sie selbst damals sagten.

Die Haltung der Frauen, die Konsequenz aus ihrer Biografie, ihre Ansprüche aus einst errungener Gleichstellung heraus, aber auch ihre Gedanken zur bundesdeutschen Politik haben sich seit den Filmaufnahmen 1994 kein bisschen geändert. Es ist egal, wo sie sich seither befanden, noch im gelernten Job oder in einem anderen Job, in der Erwerbslosigkeit mit Umschulung oder in Frührente. »Als Frau nur im Haushalt wäre für mich keine Erfüllung. Nur Putzen, Waschen, Kochen: Nein!«, sagt Cornelia, die gelernte Polymir-Anlagenfahrerin. Und Monika, gelernte Lokführerin, formuliert es heute ganz direkt: »Ich bin so, wie ich früher war.«

Diese Frauen, so erzählen es die Interviews, lebten vor dem Mauerfall ein ausgefülltes Leben mit verantwortlicher Berufstätigkeit, partnerschaftlicher Pflege-, Erziehungs- und Haushaltsarbeit, in gesetzlich garantierter Gleichstellung mit den Männern und mit demselben Lohn wie diese bei gleicher Qualifikation. Der Mauerfall transferierte sie plötzlich in ein fremdes Land, in dem Frauen erst seit 1977 ohne Erlaubnis der Ehemänner arbeiten gehen durften, in dem ein Schwangerschaftsabbruch immer noch illegal war und in dem Frauen in solch beruflicher Verantwortlichkeit wie den ihren gar nicht vorgesehen waren. Mehr als einmal berichten sie im Film, dass die neuen westdeutschen Chefs ihnen zu verstehen gaben, dass sie als Frau hier nichts mehr zu suchen hätten.

»Über Jahrzehnte waren in den Redaktionen und in der Filmförderung nur solche Ost-Stoffe willkommen, die erzählen, wie in der DDR-Diktatur gelitten und spioniert wurde.«

Zur Atmosphäre des Films gehört eine gewisse Behutsamkeit des Umgangs mit den Frauen. Wie Kroske sie mit seiner markant heiseren Stimme sachte befragt, unsichtbar hinter der Kamera bleibend. Wie er zu Cornelia nach ihrer immer noch präzisen Beschreibung der Anlage sagt: »Das klingt so, als könnten Sie die Anlage sofort wieder fahren.« Und wie sie, streng bei der Sache bleibend, das Kompliment übergeht. Wie Kroske bei Brigitte zu Hause mit ihr auf einen vorüberfahrenden Zug wartet und der anschließenden Stille Zeit lässt oder wie der Film schweigend zusieht, wie Steffi, die stolze Schuhfacharbeiterin, nun schwedische Fleischklößchen austeilt.

Für all das gibt es ein Wort: Zärtlichkeit. Dazu müssen auch die beiden Kamerafrauen Anne Misselwitz und Jakobine Motz erwähnt werden, die biografisch in der DDR begannen und schon bei einigen guten Ost-Geschichten, von denen es nach wie vor nicht so viele gibt, die Kamera führten.

Jenseits der Ost-Klischees

Über Jahrzehnte waren in den Redaktionen und in der Filmförderung nur solche Ost-Stoffe willkommen, die erzählen, wie in der DDR-Diktatur gelitten und spioniert wurde, wie Dissidenten Widerstand geleistet haben und wie die Maueröffnung endlich die Befreiung brachte. Millionen von ehemaligen DDR-Bürgern fanden sich darin nicht wieder.

Warum gibt es klischeefreie Filme über den Osten so selten? Gerd Kroske sieht Ursachen dafür in den medialen Machtverhältnissen. So machte er sich unabhängig von Entscheidungen in Fernsehredaktionen und produziert seit 1996 seine Filme in der eigenen Filmproduktion realistfilm. Der Name ist Programm.

Stolz & Eigensinn ist ein Film, der sich den etablierten Ost-Klischees nicht nur widersetzt, sondern den Freiheitsbegriff einfach anders definiert. Er erzählt den Mauerfall und was danach kam, vor allem als Katastrophe im Osten, als das Ende von Freiheiten, von Unabhängigkeiten, von Gemeinsamkeit, besonders im Leben gestandener Frauen.

Die Jobs von damals sind weg, die Widerstandskraft der Protagonistinnen aber, das lässt der Film wissen, ist gewachsen. Jobs kann man hinter sich lassen, der Stolz jedoch kommt mit. In die Tasche stecken und weitergehen. Wohin? Ins Leben. Ostfrauen können nicht nur stolz sein, sondern auch ganz pragmatisch. Nur eins blieb ihnen wohl für immer undenkbar: »Zurück an den Herd.«

Angelika Nguyen ist Autorin, Kuratorin und Filmjournalistin.